Bettina Reiter

Ein fast perfekter Sommer in St. Agnes


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sie wieder emsig in die Pedale trat.

      Zuhause angekommen stellte sie das Rad in den Schuppen und schaute auf das Surfbrett, das vor sich hin rottete, bevor sie hinausging und die Tür hinter sich schloss. Als sie zum Eingang eilte, warf sie einen schnellen Blick zur Bucht hinunter. Hinter den Fenstern des Breakers Beach Café brannte Licht, da es mittlerweile dämmrig war. Ob Roger die Frechheit besaß und mit seiner Trish sogar in ihrem Stammlokal verkehrte? Ihr Ex wusste, wie viel ihr dieser Ort bedeutete, der mit unzähligen wunderbaren Erinnerungen gespickt war. Häufig waren sie dort gewesen, obwohl Roger lieber auf seinem Fahrrad saß, als in einem Lokal. Oder er pumpte im Fitness-Studio seine Muskeln auf, die er auf dem Tennisplatz spielen ließ. Wer brauchte ein T-Shirt, wenn man mit nacktem Oberkörper auf dem Platz glänzen konnte? All das und vieles mehr tat er lieber, statt sich mit ihr einen malerischen Sonnenuntergang oder das Sternenzelt bei klarem Nachthimmel anzusehen. Ließ er sich dennoch dazu überreden, zerstörte er nicht selten die Stimmung, indem er die Sache mit dem Karussell aufwärmte.

      Nein, romantisch war Roger nie gewesen. Zumindest nicht während ihrer Beziehung. Seitdem Trish und er ein Paar waren, hatte er sich scheinbar geändert und tat mit dieser dummen Pute alles, was er bis dahin verpönte. Das Schlimmste war jedoch, dass Annie nach wie vor an Liebeskummer litt. Immerhin war er der erste Mann gewesen, mit dem sie sich alles hätte vorstellen können. Leider entpuppte er sich als Mistkerl. Monatelang hatte er sie mit Trish betrogen. So einem trauerte man nicht nach, so einen wünschte man höchstens zum Mond. Dennoch tat es weh. Sehr sogar …

      ♥

      Am nächsten Morgen fühlte sich Annie an einen Film erinnert: Und täglich grüßt das Murmeltier. Zum einen hatte sie sich wegen Roger die halbe Nacht um die Ohren geschlagen, zum anderen suchte sie gerade das Cottage nach Bier und Schnapsflaschen ab. Eine tägliche Routine, da sich ihr Dad immer wieder neue Verstecke einfallen ließ. Ob im Wohnzimmer-Kamin oder in diversen Schubladen, in leeren Aftershave-Flaschen oder hinter der Heizanlage, sie wurde meistens fündig. Auch vorhin hatte sie eine Flasche Schnaps in einem seiner Winterstiefel im Schuhschrank entdeckt. Vielleicht sollte sie sich das Suchen abgewöhnen, denn er würde trotzdem sturzbetrunken sein, wenn sie nach Dienstschluss heimkam.

      Helfen konnte sie ihm ohnehin nicht, solange er es nicht zuließ oder von selbst einsah, was er sich damit antat. Ein Arzt hatte ihr sogar knallhart dazu geraten, ihn links liegen zu lassen. Erst wenn niemand mehr die Kastanien für ihn aus dem Feuer holte und er ganz unten angekommen wäre, würde er vielleicht zur Besinnung kommen. Ein nachvollziehbarer Ratschlag, der im Augenblick jedoch keine Option war.

      Ein Blick auf die Wohnzimmeruhr zeigte Annie, dass sie sich sputen musste. Schnell eilte sie in die Diele, nahm die braune Korbtasche und den Schlüssel vom Haken, versperrte das Haus und lief zum Auto. Kurz darauf war sie unterwegs und ärgerte sich, dass sie ihre Jeansjacke vergessen hatte, denn die Morgentemperaturen waren ziemlich frisch. Deshalb stellte sie die Heizung bis zum Anschlag und freute sich bereits jetzt auf den Dienstschluss. Obwohl die Arbeit an sich in Ordnung war. Die Kollegen ebenfalls. Bis auf eine, die es mit dem Putzen nicht so genau nahm. Mit ihrem Chef wurde Annie auch nicht warm. Harry hatte einen lauten Kommandoton und ließ jeden deutlich spüren, dass er von ihm bezahlt wurde.

      Das Last Inn war ein Drei-Sterne-Hotel und lag etwas außerhalb von St. Agnes. Gott sei Dank funktionierte die alte Rostlaube ihrer Eltern tadellos, was Annie eine gewisse Freiheit schenkte.

      „Was soll das denn?“, entfuhr es ihr, als sie den Wagen zu den Parkplätzen hinter dem Hotel lenkte. Irgendein Vollidiot hatte eine weiße Luxuslimousine auf ihrem Platz abgestellt und besetzte sogar den zweiten dahinter. Dabei parkte hier ausschließlich das Personal. Typisch VIP. Die glaubten alle, ihnen würde die Welt gehören!

      Verärgert manövrierte Annie ihren roten Alfa Romeo in die winzige Lücke zwischen die Limousine und Harrys Geländewagen, was ihr erst nach einigen Anläufen gelang. Als ihr Auto endlich stand, war sie völlig durchgeschwitzt. Nicht nur, weil sie Einparken hasste, sondern weil sie inzwischen vor Wut kochte wie ein Dampfkessel.

      „Na warte“, zischte sie, „wenn mir dieser Heini unterkommt …“ Sie schnappte ihre Korbtasche vom Beifahrersitz und öffnete die Tür. Im selben Moment ertönte ein Knall, der sie zusammenfahren ließ. Entsetzt starrte sie auf die Limousine – die plötzlich näher war als in ihrer Erinnerung – und zwängte sich wie in Zeitlupe aus dem Auto. Die Kratzer und die tiefe Beule an der Limousinen-Tür schienen sie förmlich anzugrinsen. Dabei fragte sich Annie in Sekundenschnelle, wie viel eine Reparatur kosten würde. Die Versicherung hatte sie nämlich aus Geldnot vor kurzem gekündigt …

      „Herrgott, kann man in dieser Pampa nicht einmal in Ruhe telefonieren?“, ertönte eine dunkle Stimme, ehe ein Mann auf der anderen Seite ausstieg und im Nu bei ihr war. Mit wichtiger Miene und einem goldenen Handy in der gepflegten Hand besah er sich den Schaden, der zu auffällig war, um ihn nicht auf den ersten Blick zu sehen. Dann richtete sich der Unbekannte zu seiner vollen Größe auf und überragte Annie um einen Kopf.

      Zugegeben, ein äußerst attraktiver Mann, dessen markante Gesichtszüge und der Dreitagesbart an den Schauspieler Scott Eastwood erinnerten. Auch das volle schwarze Haar, die muskulöse Figur und die stahlblauen Augen waren nicht von schlechten Eltern. Allerdings hätte nicht einmal der beste Schauspieler Hollywoods ein so bitterböses Gesicht hinbekommen. „Können Sie nicht aufpassen?“, fuhr der Fremde sie an.

      „Es tut mir leid“, sagte Annie den Tränen nahe. „Ich habe Ihre Limousine völlig übersehen.“

      „Sicher“, kam es von oben herab, „der Wagen ist ja nur knappe fünf Meter lang.“

      „Haben Sie das sarkastisch gemeint?“

      Er zog die rechte Augenbraue hoch. „Wie kommen Sie denn darauf?“

      „Hören Sie, das Ganze ist mir furchtbar peinlich“, blieb Annie freundlich, obwohl es erneut in ihr zu brodeln begann.

      „Ist das alles, was Ihnen dazu einfällt?“, pflaumte er sie weiter an. „Das Wort peinlich steht bei mir nämlich ganz unten auf der Liste. Da liegen mir ganz andere Worte auf der Zunge.“

      In dieser Hinsicht ging es Annie ähnlich wie ihm, denn dieser Mann war die pure Überheblichkeit in Person. Obendrein schien er sein Aftershave bis zum Abwinken zu benutzen. Der süße Geruch erinnerte sie stark an Roger, was sie ihrem Gegenüber ebenfalls negativ auslegte. Doch sie musste sich zusammenreißen. Es wäre wenig hilfreich, wenn sie sich diesen Mann zum Feind machte. „Vermutlich war ich in Gedanken woanders.“

      „Wo denn? Bei Ihrer nächsten Maniküre?“

      „Sehe ich so aus, als ob ich mir das leisten könnte?“, wurde Annie ebenfalls patzig und vergaß ihre guten Vorsätze. Alles musste sie sich von diesem Wichtigtuer nicht gefallen lassen. „Oder wirke ich auf Sie, als hätte ich genug Geld, um für den Schaden aufzukommen?“

      „Wozu gibt es Versicherungen?“

      „Um die Leute auszunehmen. Sehen Sie, die Haftplicht war extrem teuer. Deswegen habe ich sie gekündigt und suche gerade nach einem neuen Versicherungsunternehmen, das für kleine Leute wie mich ein Herz hat.“

      „Was?“, brauste er auf und musterte sie wie eine Fata Morgana. „Sie sind nicht versichert?“

      „Exakt.“

      „Das ist eine Straftat! Sind in dieser Gegend alle so kriminell und naiv wie Sie?“

      „Ich habe es nicht nötig, mich von Ihnen beleidigen zu lassen!“

      „Das war keine Beleidigung, sondern eine Feststellung.“ Seine Augen funkelten zornig, während er das Handy auf das Limousinen-Dach legte und sich herrisch durch das dichte Haar fuhr, bevor er seine Hände in die Taschen der dunkelblauen Stoffhose schob, die sicher nicht von der Stange kam. Genauso wenig wie das weiße Hemd und die blaue Krawatte mit so vielen Punkten, dass einem regelrecht schwindlig werden konnte.

      „Nur zu Ihrer Information: Mein Auto hat auch einiges abgekriegt.“ Annie versuchte möglichst selbstsicher zu klingen, was ihr aber nur bedingt gelang, weil die eventuellen Reparaturkosten wie