Bettina Reiter

Ein fast perfekter Sommer in St. Agnes


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nicht, dass ich mich auf Moms Seite stelle.“ Annie schob Pfanne nebst Topf von den heißen Herdplatten und schaltete sie aus, bevor sie sich umdrehte. Der Vater lehnte am abgewetterten Türrahmen und hatte sichtlich Mühe, das Gleichgewicht zu halten. „Auch im Ort stellt sich keiner auf Mutters Seite. Das bildest du dir ein“, sagte sie betont sanft. In diesem Zustand konnte man ohnehin kaum vernünftig mit ihm reden.

      „Das bildest du dir ein“, äffte er Annie nach und lachte spöttisch auf. „Denselben Wortlaut hast du vor zwei Jahren benutzt.“

      „Weil ich nicht einmal im Traum daran gedacht hätte …“ Annie hob hilflos die Arme und erinnerte sich daran zurück, als ihr Vater völlig aufgebracht von dem Gerücht erzählte, dass ihre Mom eine Affäre hätte. Mit Kurt, einem Aktmodell! Ausgerechnet sie, die völlig in ihrem Dasein als Mutter und Hausfrau aufgegangen war. Doch das war ein Trugschluss gewesen. In Wahrheit musste sie schon lange mit ihrem Leben gehadert haben. Wie sonst ließ sich diese Hals-über-Kopf-Liebe erklären? Kaum aufgeflogen, hatte ihre Mutter die Scheidung eingereicht und war mit ihrem halb so alten Lover nach Amerika geflogen, um dort ein neues Leben zu beginnen. „Mom hat sich die Entscheidung sicher nicht leicht gemacht“, versuchte Annie eine Erklärung, die selbst in ihren Ohren nach lapidarem Trost klang. Aber wenn es half, damit sich der Vater besser fühlte …

      „Von wegen! Innerhalb von einer halben Stunde hat sie unser ganzes Leben auf den Kopf gestellt“, wurde er lauter. „Kurt, der dreißigjährige Muskelprotz. Kurt, der Frauenversteher und Kurt, der Kunstkenner. Noch dazu ist der Typ lediglich ein Jahr älter als du! Hätte ich ihr doch niemals den Gutschein für diesen Malkurs geschenkt. Dann wäre sie noch hier und unser Leben würde in geordneten Bahnen verlaufen.“

      Annie seufzte. Ihre Mutter war damals regelrecht aufgeblüht, nachdem der Malkurs in der Nachbargemeinde begonnen hatte. Fälschlicherweise war sie der Meinung gewesen, dass ihr plötzlicher Enthusiasmus daher rühren würde, dass sich ihre Mom endlich vom Vater ernst genommen fühlte. Bis dahin hatte er ihre kleinen Ausstellungen im Ort oder in der Umgebung eher amüsiert zur Kenntnis genommen und ihre Kunst als lächerliches Hobby abgetan. „Mutter war schlichtweg unglücklich. Wir haben es bloß beide nicht gemerkt.“ Zum ersten Mal rief sich Annie bewusst vor Augen, dass nicht nur die Mutter Fehler gemacht hatte und dachte an ihre Kindheit zurück. An die vielen Situationen, in denen sie traurig wirkte, weil der Vater ihr keine Beachtung schenkte. In derselben Sekunde schob sie die Erinnerungen jedoch weit von sich. Fehlte noch, dass sie Mitleid mit ihr bekam oder Verständnis entwickelte. Immerhin ging es ihrer Mom im Gegensatz zu ihnen blendend.

      „Deine Mutter war glücklich!“, beharrte der Vater. „Bis dieser schleimige Adonis kam und ihr schöne Augen machte.“

      Annie lehnte sich an die Arbeitsfläche und verschränkte die Arme vor der Brust. „Ihr seid nicht die Einzigen, die sich scheiden lassen, Dad.“

      „Siehst du, und das ist mein nächstes Problem. Wozu die Eile? Soll sie sich meinetwegen austoben, so lange sie zu mir zurückkommt. Aber was, wenn sie diesen Kurt heiraten will?“ Er klang so verletzt, dass Annies Herz überfloss vor Mitleid. „Entschuldige, schon wieder belaste ich dich mit meinem Kram.“ Er wischte sich mit dem Handrücken über die hohe Stirn. „Du mühst dich ab und ich bemitleide mich selbst.“

      „Schon gut, Dad.“

      „Nein, nichts ist gut! Meine Tochter geht putzen, statt dass sie das Geschäft ihres Großvaters weiterführt.“ Er musterte sie. „Und wenn ich dir in die Augen sehe, Annie, erkenne ich dieselbe Traurigkeit wie bei deiner Mutter.“ Als könnte er ihrem Blick nicht länger standhalten, fixierte er seine Hauspantoffeln, die einige Brandflecke aufwiesen. „Es ist nicht einfach, eigene Fehler zuzugeben und in meinem Fall reden wir von vielen. Mein größter war, dass ich zu wenig auf deine Mutter eingegangen bin. Aber jetzt ist es zu spät. Andererseits kann sie froh sein, dass sie mich los ist. Ich bringe allen nur Unglück.“

      Sämtliche Alarmglocken schrillten in Annie und nackte Angst erfasste sie. „Dad, du drohst jetzt nicht wieder damit, dass du dich …“

      „Keine Sorge“, unterbrach er sie, „wenn ich mich erhängen will, sage ich dir vorher nicht mehr Bescheid.“

      „Wie beruhigend.“ Annie schüttelte den Kopf.

      „Du solltest endlich dein eigenes Leben führen“, sagte er plötzlich leise.

      „Das mache ich doch.“

      „Nichts tust du, Annie. Glaubst du, ich weiß nicht, welche Opfer du bringst? Ich könnte mich ohrfeigen, dass ich dir das antue. Aber ich kann nicht aus meiner Haut.“

      Natürlich hätte sie gehen können, doch was dann? Sie war die Einzige, die ihm Halt geben konnte und fühlte sich für ihn verantwortlich.

      „Jede Nacht wünsche ich mir, dass ich das Rad der Zeit zurückdrehen könnte“, gab der Vater zu. Diese Offenheit war neu für Annie. Damit schuf er eine Nähe, die sie lange nicht mehr hatten. „Jede verdammte Nacht, wenn ich allein in unserem Bett liege und auf die leere Seite starre.“ Er hatte Tränen in den Augen. „Mary hat mich oft zur Weißglut gebracht mit ihrem Schnarchen. Diesem ständigen Aufstehen mitten in der Nacht oder ihrer Schlaflosigkeit. Aber genau das vermisse ich am meisten.“

      Annie trat zu ihm und legte ihm die Hand auf die knöchrige Schulter. „Du musst sie endlich loslassen, Dad, bevor es zu spät ist. Ich will dich nicht verlieren.“

      „Keine Angst, das wirst du nicht“, versprach er und lächelte zaghaft.

      „Doch, Dad.“ Sein leidvolles Gesicht verschwamm vor ihren Augen. „Jeden Tag verliere ich dich ein bisschen mehr. Darum bitte ich dich inständig, einen Entzug zu machen.“ Es war ausgesprochen, bevor Annie darüber nachdenken konnte. Im Nu verfinsterte sich seine Miene. Gleichzeitig schob er ihre Hand weg. Sie hätte es besser wissen müssen. Bei diesem Thema machte er stets dicht.

      „Ich bin kein kleiner Junge mehr, sondern dein Vater. Davon abgesehen habe ich mein Trinkverhalten im Griff und könnte jederzeit damit aufhören. Ich will aber nicht. Jedenfalls nicht heute.“ Er machte kehrt und wankte ins Wohnzimmer zurück. Annie blickte ihm nach und gratulierte sich innerlich für ihre Feinfühligkeit. Da waren sie sich endlich seit Langem wieder nahe und sie tat nichts Besseres, als alles zu vermasseln!

      ♥

      Jack hatte das Gefühl, auf dem Mars gelandet zu sein. Zumindest erinnerte ihn die Eintönigkeit dieses Landstrichs stark daran. Fehlten lediglich einige Krater, dann wäre es perfekt.

      „Und? Wird das heute noch etwas, Michael?“, fragte er seinen Assistenten, der bei der offenen Motorhaube der Luxuslimousine stand, aus der bis vor kurzem Rauch gestiegen war.

      „Sehe ich aus wie ein Mechaniker?“, kam es unmutig zurück. Michael hatte die Ärmel seines edlen Designerhemdes zurückgerollt. Grob wischte er sich über die Stirn und hinterließ Motorschmiere darauf – oder was immer das war. Jack hatte keine Ahnung. Für solche Dinge gab es reihenweise Laufburschen in ihrer Firma.

      „Das ist nicht das, was ich hören wollte“, schimpfte Jack mit Blick auf seine zwölfjährige Tochter Leni, die lässig an der Limousine lehnte und auf das Handy starrte. Dabei sausten ihre Daumen so schnell über die Tasten, dass er kaum folgen konnte. „Mach endlich das Ding aus“, fuhr er seine Tochter an.

      „Null Bock“, erwiderte sie ohne hochzublicken.

      „Könntest du bitte in ganzen Sätzen mit mir sprechen?“ Wie er das hasste. Ihre Generation kürzte alles ab. Außerdem trafen sich die jungen Leute nur noch virtuell im Netz. Sport hieß für sie Surfen – und zwar im Internet – und Gefühle wurden über Emojis ausgedrückt.

      „Scheiße, die Internetverbindung ist unterbrochen“, entfuhr es Leni, die kurz hochblickte. Vermutlich auf der Suche nach einem Sendemast.

      „Wie wäre es, wenn du mir zur Abwechslung so viel Aufmerksamkeit schenken würdest wie deinem Handy?“ Jack fuhr sich unwirsch durch das Haar.

      „Wozu?“ War das ihr Ernst? „Ich wollte ohnehin nicht mit nach England.“