Bettina Reiter

Ein fast perfekter Sommer in St. Agnes


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Grandpa, der vor neun Jahren an Krebs starb. Nun hatte Annie sein altes Geschäftshaus alleine geerbt. Leider war es in keinem guten Zustand und ziemlich renovierungsbedürftig. Aber ihr fehlten inzwischen die Mittel, um sich dem anzunehmen, obwohl sie seit Jahren jeden Cent beiseitegelegt und sogar an den Wochenenden gekellnert hatte. Leider war alles den Wettschulden zum Opfer gefallen und als hätte das Pech bei ihr angedockt, verlor sie vor kurzem sogar ihren Job bei einem Juwelier, da dieser Konkurs anmeldete. Weil der Arbeitsmarkt in St. Agnes derzeit nicht viel hergab, hatte sie in ihrer Not zwei Putzjobs angenommen. Nicht gerade ihr Traum, aber sie musste nehmen, was sie kriegen konnte, denn das Geschäft des Großvaters diente als Sicherheit für den Kredit, der sich derzeit auf über zwanzigtausend Pfund belief. Ihr Erspartes war nur ein Tropfen auf dem heißen Stein gewesen. Weit hatte sie es wirklich nicht gebracht und gab ein trauriges Bild ab. Eine neunundzwanzigjähre Schmuckdesignerin, die putzen ging, statt das Lebenswerk des Großvaters weiterzuführen.

      Seufzend blickte Annie hoch. Von hier aus konnte sie die Trevaunance Bucht sehen. Auch ihr Elternhaus auf der Anhöhe und das Cottage ihres Grandpas, das mittlerweile andere Eigentümer hatte. Ihre Mom verkaufte es, um sich damit den Start in Amerika zu finanzieren. Jeremy war anfangs ziemlich sauer gewesen, da er sehr an seinem Elternhaus hing. Ihr Onkel konnte jedoch nichts dagegen tun, weil er bereits als junger Student sein Erbe ausbezahlt bekam. Und da er ein Diener Gottes war, hatte er sich mit der Mutter längst ausgesöhnt.

      Einige Kinder spielten vor dem ehemaligen Cottage ihres Großvaters, das im Abendrot lag. Wie die wilden Klippen und das Meer. Der übliche Wind herrschte vor und gab Annie das Gefühl, wieder frei atmen zu können. Im Elternhaus hatte sie es nicht mehr ausgehalten, da ihr Vater nach dem Abendessen weitertrank. Als sie ihm das Bier wegnehmen wollte, beschimpfte er sie, weshalb sie die Flucht ergriff. Mit dem alten Damenrad ihrer Mutter war sie losgefahren und fand sich am Friedhof wieder. Ein Ort, an dem sie die Ruhe fand, die sie so dringend brauchte. Nie zuvor hatte sie sich jedoch mehr gewünscht, Sandy oder ihren Grandpa bei sich zu haben. Die Situation wuchs ihr allmählich über den Kopf. Nicht nur finanziell, vor allem die Eskapaden des Vaters setzten ihr zu. Zum ersten Mal sehnte sie sich weit weg von St. Agnes oder danach, auf einem der Schiffe zu sein, die weit draußen wie kleine Punkte im Wasser trieben.

      Andererseits lebte sie gern hier an der Nordküste Cornwalls. Die Grafschaft konnte herrisch sein, mild und rau, still und voller Geheimnisse – aber vor allem war Cornwall malerisch. Besonders im Spätsommer. Diese Jahreszeit liebte Annie am meisten. Lebhafte bunte Farben beherrschten die Küste und das Hinterland. Das Meer wurde stürmischer, die Luft klarer. Das Licht schien anders. Der Himmel intensiver, das Meer tiefgründiger. Herrliche Heide- und Stechginsterteppiche färbten die Plateaus gelb-violett. Cornwall und vor allem St. Agnes waren unvergleichlich, trotzdem war sie unglücklich.

      Mit Tränen in den Augen bückte sich Annie und ordnete die Tulpen in der Vase, die sie unterwegs vom Blumenladen mitgenommen hatte. Eine Weile starrte sie abwesend auf die blassrosa Blüten, bis sie sich erhob und zum Fahrrad ging, das sie vorhin an die Bank gelehnt hatte. Zwar hatte sie keine Lust nach Hause zu fahren, aber bald würde es dunkel werden und davor graute ihr. So beschaulich St. Agnes war, vor Übergriffen konnte man nirgends sicher sein. Allerdings schrieb Annie ihre Angst eher dem Umstand zu, dass sie sich ständig Medical Detectives im Fernsehen anschaute. Eine Serie über Morde und deren Aufklärung.

      Mit Gänsehaut stieg Annie auf das beige Rad, dessen Lenker sie mit einigen Glitzersteinen verziert hatte, und schob es zur Straße hinauf. Nachdem sie aufgestiegen war, radelte sie los. Ein kurzer, steiler Anstieg, der sie heftig keuchen ließ. Wieder nahm sie sich vor, mehr Sport zu treiben. Als die Straße abschüssiger wurde, vergaß sie den Vorsatz sofort und fuhr an den kleinen Läden und Cafés vorbei. Einige Menschen standen auf den Gehsteigen, die ihr zuwinkten. Man kannte sich in diesem kleinen Küstendorf, das an die siebentausendsechshundert Einwohner hatte und an der Hauptstraße zwischen Perranporth und Redruth lag.

      „Annie-Schätzchen, so spät noch unterwegs?“ Hermes winkte ihr zu, der gerade aus dem Melodys kam. Das Café war sein Stammlokal.

      „Ich bin auf dem Nachhauseweg“, erklärte sie und bremste ab, als sie ihn erreicht hatte. „Und du? Hast du dich mit der Clique getroffen?“

      „Erraten.“ Hermes lächelte.

      „Und jetzt suchst du deine Rentiere, um heimzukommen, Santa Claus?“, zog sie ihn auf. Im Wissen, dass sich Hermes königlich darüber amüsierte. Mittlerweile war sein Rauschebart gänzlich weiß und er strahlte die Weisheit des Alters aus.

      „Irrtum. Ich darf auf Minnies Besen heimfliegen“, konterte er lachend.

      Annie schaute zum Fenster des Cafés. „Wenn sie das gehört hat, kannst du dich warm anziehen. Am Ende drückt sie dir ihre gefürchteten Stahlkekse aufs Auge.“

      Erneut lachte er auf. „Keine Angst, heute hat die Gute ihre Ohren nicht überall. Minnie unterhält sich gerade mit Rose Grant. Die beiden sind neuerdings so.“ Er hob die Hand, wobei er Zeige- und Mittelfinger überkreuzte.

      „Meinst du etwa Hokuspokus-Rose, die aus dem Kaffeesatz liest?“, fragte Annie lächelnd. Unter diesem Spitznamen war die Fünfzigjährige im ganzen Ort bekannt, die vor einem Jahr nach St. Agnes gezogen war. Annie kannte die Frau jedoch nur vom Sehen und allein das Erscheinungsbild genügte, um sich nachhaltig im Gedächtnis einzubrennen. Von ihrem Tick – sie sei eine weiße Hexe mit hellseherischen Fähigkeiten – ganz zu schweigen.

      „Genau die. Allerdings ist Rose abgesehen von ihrem Spleen sehr nett und wenn Minnie sie akzeptiert, muss sie in Ordnung sein. Du kennst unsere neugierige Nase ja. Jedes neue Gesicht wird auf Herz und Nieren geprüft.“ Ernster werdend musterte er Annie. „Du siehst allerdings nicht aus, als würde dich das sonderlich interessieren. Gibt es Ärger mit deinem Dad?“ Nicht einmal Hermes hatte noch Kontakt zu ihm. Das galt ebenso für den Rest der Clique. Sie alle wollten ihrem Dad beistehen, der sie jedoch ersatzlos aus seinem Leben gestrichen hatte.

      „Das Übliche“, wich Annie aus, denn sie wollte nicht jammern. Ohnehin gab es nichts Neues zu erzählen und ihre Sorgen musste sie nicht ständig vor allen breittreten. Egal, wie sehr auch sie die Clique mochte. Ihr einziger Ansprechpartner war Jeremy, der als Gemeindepfarrer sowieso für seine Schäfchen da sein musste. Noch dazu durfte er nichts ausplaudern. Allerdings war Jeremy weit mehr als ein Mann Gottes. Ihm vertraute sie am meisten. „Und bei dir? Fährst du wieder weg?“ Hermes reiste Ende April gerne irgendwohin, seitdem er Witwer war.

      Gerade, als er antworten wollte, läutete sein Handy. Ungelenk holte er es aus der Seitentasche seiner braunen Cordhose. „Hallo?“, meldete er sich und wandte Annie den Rücken zu. „Ja, das ist kein Problem.“ Er horchte kurz zu. „Morgen Nachmittag? Meinetwegen. Aber ich habe noch nicht zugesagt. Ja, ja, jetzt hetzen Sie mich nicht, sonst können Sie es gleich vergessen.“ Erneut war er still. Dabei nickte er ein paar Mal. „Hören Sie, das können wir morgen besprechen. Ich bin gerade auf dem Weg in die Kirche. Bis dann.“ Mit einem seltsamen Ausdruck im Gesicht wandte er sich wieder Annie zu und steckte das Handy ein.

      „Alles in Ordnung?“, forschte sie nach. „Soll ich vielleicht morgen nach meiner Arbeit zu dir kommen?“

      „Warum? Du hast erst gestern bei mir geputzt.“

      „Ich dachte nur. Immerhin bekommst du Besuch.“ Ihre zweite Putzstelle hatte sie bei Hermes, der sie vermutlich eher aus Mitleid eingestellt hatte, als dass er tatsächlich jemanden brauchte. „Ich könnte einen Kuchen backen oder dir anderweitig helfen.“

      „Nein“, kam es hastig zurück. „Das schaffe ich schon.“ Plötzlich schien er nervös. „Annie, ich bin sehr zufrieden mit deiner Leistung. Nichts desto trotz hoffe ich, dass du über kurz oder lang eine angemessenere Stelle findest.“

      „Willst du mir etwas Bestimmtes damit sagen?“, wurde ihr angst und bange.

      „Ich denke nur an deine Zukunft, Kleines. Und jetzt muss ich los. Ein alter Mann wie ich braucht ein wenig Schlaf. Wir sehen uns übermorgen.“

      „Natürlich. Ich werde pünktlich bei dir sein.“

      Sein Grinsen nahm ihr die Furcht,