Kerstin Hornung

Hinter verborgenen Pfaden


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Philips Zimmer unter dem Fenster stand. Vorsichtig schälte er es aus den Fetzen, in die es notdürftig gewickelt war. Philip stutzte. Das kleine Elbchen sah anders aus, als seine Brüder es in dem Alter getan hatten. Es war etwas ganz Besonderes.

      Ein Mädchen!

      Ein kleines Mädchen hatte es unter diesem Dach noch nicht gegeben.

      Beim Anziehen jammerte es, und Philip fürchtete, der Vater mit den großen Händen könnte ihm wehtun.

      »Schau, sie ist wie alle Kinder, sie mag einfach nicht angezogen werden«, sagte Feodor lächelnd. »Dabei ist das gar nicht schlimm, und du wirst sehen, kleine Fee, danach fühlst du dich bestimmt viel besser«, flüsterte er, wickelte den Rest der Windel um ihren Bauch und schnürte die Bänder des Hemdchens darüber zusammen. Dann steckte er die Beinchen in etwas, das wie ein kleiner Sack aussah, und band auch diesen fest. Zum Schluss setzte er ihr noch ein winziges Mützchen auf und hob sie hoch.

      »Jetzt siehst du wie ein richtiger kleiner Mensch aus«, sagte er und legte sie zurück auf den Bauch ihrer Mutter. »Ein etwas weniger blutiges Kleid wäre für sie wahrscheinlich auch nicht schlecht, aber ich denke, damit warten wir doch lieber auf deine Mutter.« Er sah Philip mit einem Augenzwinkern an. »Allerdings müssen wir ihr Wadenwickel machen, damit das Fieber etwas nachlässt.« Er zog Philip aus dem Zimmer.

      Gemeinsam gingen sie in die Küche hinunter. Feodor bereitete die Wadenwickel vor und stieg dann noch einmal nach oben. Diesmal blieb Philip auf dem Hocker in der Küche sitzen. Um sich abzulenken, trennte er die sauberen Windeln von denen, die erst noch gewaschen werden mussten. Doch er konnte nicht umhin, sich vorzustellen, wie sein Vater der Elbin das Kleid bis zu den Knien hochschob, um die kalten Tücher anzubringen.

      »Was für ein Tag«, murmelte er.

      Der Stapel mit den sauberen Sachen war deutlich kleiner als der andere, also musste der Waschtag wohl oder übel vorgezogen werden. Philip zündete ein Feuer an und stellte den großen Wassertopf auf den Ofen, als sein Vater in die Küche kam und sich schwer auf einen Hocker sinken ließ.

      »Wir haben zwei Märchenwesen im Haus. Wie lange wird es dauern, ehe die halbe Stadt das weiß?«, fragte er.

      »Hm«, machte Philip. »Eine Geschichte dazu würde es schon geben, aber die kommt erst in die Stadt, wenn Elvira ihr Kind hat.«

      »Aha …«, sagte der Vater, »und was ist das für eine Geschichte?«

      Philip grinste. »Ich habe Elvira erzählt, deine entfernte Cousine wäre mit ihrem Kind überraschend bei uns aufgetaucht.«

      Der Vater sah ihn skeptisch an.

      »Sie hat mich ausgefragt!«, verteidigte sich Philip. »Was hätte ich ihr sonst erzählen sollen?«

      »Ich mach dir doch keine Vorwürfe. Bis deine Mutter wiederkommt, müssen wir trotzdem versuchen, unsere Gäste auch vor deinen Brüdern geheim zu halten, dann überlegen wir gemeinsam, wie es weitergeht.« Feodor kratzte sich am Kopf. »Wenn das nur gutgeht.«

      »Die Wäsche und die Wiege sollten wir in diesem Fall erst mal in das Zimmer der Elbin stellen«, meinte Philip und räumte die Sachen vom Tisch. »Weiß Ruben eigentlich, dass du in den Wald gehst?«, fragte er unvermittelt.

      »Nein!«, brummte Feodor. »Wo denkst du hin. Was ich im Wald tue, nennt sich Wildern und kann mich meinen Kopf kosten.«

      Nach der Gutenachtgeschichte für die Zwillinge ließ sich Philip auch noch von Josua dazu überreden, eine Geschichte von Thomas dem Waldläufer zu erzählen. Jacob und Johann hörten zu, obwohl sie sich erst noch über Josua lustig gemacht hatten. Alle fünf schliefen schon, als Phine erschöpft nach Hause kam. Philip setzte sich müde zu seiner Mutter an den Küchentisch.

      »Das ging doch schnell bei Elvira«, sagte er.

      »Ja …«, antwortete Phine. »Wie geht es unseren Gästen?«

      »Es ist ein Mädchen«, erwiderte Philip, und seine Mutter lachte.

      »Ich muss nach ihnen sehen. Dein Vater sagte, sie wäre am Nachmittag ein paar Stunden wach gewesen.« Damit ging sie nach oben, und Philip blieb alleine in der Küche zurück.

      Nachdem er eine Weile Löcher in die Luft gestarrt hatte, dachte er daran, sein Buch vom Speicher zu holen. Es gab sowieso keine Geheimnisse mehr, und das Wissen würde ihnen von Nutzen sein. Aber er war so erschöpft, dass er stattdessen den Kopf auf der Tischplatte ablegte.

      Er erwachte, als er die Schritte seiner Mutter auf der Treppe hörte. Schnell rieb er sich die Augen und versuchte ein Gähnen zu unterdrücken. Sein Nacken fühlte sich steif an, und auf einer Wange spürte er deutlich den Abdruck der Tischkante.

      »Wie geht es ihr?«, fragte er.

      Phine sah besorgt aus, sie wiegte den Kopf hin und her. »Sie hat Fieber, sie hat Schmerzen, und sie hat Angst«, sagte sie. »Und sie weiß gar nichts von Kindern und vom Kinderkriegen. Wenn ich sie richtig verstanden habe, ist ihr Kind, das erste Kind überhaupt, das sie aus der Nähe gesehen hat.« Die Hebamme seufzte. »Und ich weiß in dieser Hinsicht nichts von Elben … also werde ich für Mutter und Kind das tun, was ich für jede andere Mutter und ihr Kind auch tun würde, und hoffen, dass es reicht.«

      Philip stutzte. In dieser Hinsicht? Gab es denn eine Hinsicht, in der seine Mutter etwas über Elben wusste?

      »Ich habe ein Buch, aber ich habe noch nicht viel darin gelesen …«, sagte er, dann fiel ihm etwas ein. »Das Elbenkind, Mutter, es hat mich direkt angesehen …«

      »Lume’tai«, sagte Phine. »Die Kleine heißt Lume’tai, das heißt Sternenglanz oder Sternenstrahl, hat sie mir gesagt. Du hast recht, sie ist ein besonderes Kind, kein Menschenkind kann einen so ansehen, schon gar nicht, wenn es noch so jung ist.«

      Philip wagte nicht zu fragen, wie die Elbin hieß, denn er fürchtete, rot zu werden. Deshalb nickte er nur und sagte gar nichts. Seine Mutter holte die Teekanne vom Herd und brachte sie auf den Tisch. Sie stellte drei Tassen dazu und setzte sich.

      »Wir müssen darüber reden, wie es weitergeht«, sagte sie.

      Wie aufs Stichwort trat Feodor in die Küche.

      »Ich habe schon gehört, dass ihr euch fürs Erste etwas ausgedacht habt«, begann Phine. »Aber was meint ihr, wie lange wir es schaffen, diese Lügen aufrechtzuerhalten?«

      Lügen … , dachte Philip empört. Das klang ja gerade so, als hätte er irgendeine Wahl gehabt, etwas anders zu erzählen.

      »Wenn sie gesund ist, geht sie sowieso wieder weg«, brummte er beleidigt. »So lange sollten meine Lügen Bestand haben.«

      »Erzähl mir noch mal, was du Elvira erzählt hast«, forderte die Mutter ihn auf, ohne auf seinen beleidigten Ton einzugehen. Der Vater nickte ihm aufmunternd zu. Philip verzog das Gesicht und schilderte dann, wie Elvira ihn ausgefragt hatte und von der Geschichte, die er ihr aufgetischt hatte, in der die Base und ihr Mann unterwegs überfallen worden waren. Weil er den zweifelnden Blick seiner Mutter bemerkte, schmückte der die Geschichte noch weiter aus. In der Wolfsschlucht südlich von Waldoria hatten Diebe das junge Paar überrascht. Er war bei dem Versuch, seine hochschwangere Frau zu verteidigen, in der Schlucht abgestürzt, aber ihr war die Flucht geglückt. Durch den Schock und die Anstrengung war das Kind zu früh zur Welt gekommen, und die Base hatte es gerade noch so bis Waldoria geschafft.

      »Hast du schon mal daran gedacht, dich als Geschichtenerzähler bei Hof vorzustellen?« Feodor lachte und handelte sich damit einen tadelnden Blick von seiner Frau ein.

      »Wir können nicht endlos Geschichten erfinden, irgendwann finden wir uns in unserem eigenen Lügengarten nicht mehr zurecht.«

      »Aber wir können auch nicht sagen, dass ich beim Wildern auf der Flucht vor den Jägern des Königs zu weit in den Wald gelaufen bin und da eine blutende Elbin und ihr neugeborenes Kind gefunden habe«, brauste Feodor auf. »Mal abgesehen davon, dass wir mit einem solchen Fund die ganze Stadt in Aufruhr versetzen würden«, fügte er ruhiger hinzu.

      Philip