Kerstin Hornung

Hinter verborgenen Pfaden


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ich habe zu wenig geschlafen«, brummelte Philip.

      »Ich erwarte Konzentration, wenn du hier bist«, erklärte Theophil und fügte dann milde lächelnd hinzu. »Ich hoffe, es liegt nicht an dem Buch, das ich dir geliehen habe.«

      »Nein, ich hatte auch noch nicht viel Zeit, um darin zu lesen«, gestand Philip.

      Theophil nickte, sah ihn aber über sein Augenglas hinweg prüfend an. »Du wirst alles, was du heute verträumt hast, bis morgen nacharbeiten. Die Geschichte unseres Landes ist ein wichtiges Thema. Verstanden?!«

      Philip nickte.

      »Haben deine Eltern entschieden, wie es hiernach weitergeht?«, fragte der Lehrer mit gesenkter Stimme.

      »Mutter erwähnte, dass ich im Monastirium Wilhelmus studieren solle. Aber …«

      »Das ist gut. Eine sehr gute Entscheidung«, lobte der Lehrer. »Ich werde dem Abt gleich ein Schreiben zukommen lassen. Du musst noch viel lernen.« Er nickte zufrieden. »Eine sehr gute Entscheidung«, wiederholte er, stand auf und begann, nach etwas zu suchen. Dabei murmelte er unverständliche Worte, huschte von einem Schrank zum anderen und suchte darin wie ein Vogel, der im Gras nach Würmern stochert. Dann drehte er sich zu Philip um. »Jetzt kannst du gehen.«

      Philip verneigte sich. »Auf Wiedersehen, Herr Lehrer«, sagte er und verließ den Raum.

      Kaum stand er draußen in der Sonne, erwachten auch seine müden Lebensgeister wieder. Beschwingten Schrittes ging er nach Hause. Sein Herz klopfte erwartungsfroh in der Brust. Vielleicht würde er sie heute sehen. Allein der Gedanke an sie ließ ihn seinen Schritt beschleunigen. Vielleicht war sie ja diesmal wach und … Er wagte nicht, sich auszumalen, was geschehen würde, wenn sie ihn zum ersten Mal ansah. Wenn sie mit ihm sprach. Er war sich ganz sicher, dass ein Wort von ihr sein ganzes Leben verändern konnte.

      Obwohl die Sonne warm auf seinen Rücken schien, fröstelte er plötzlich.

      »Sag mal, stehst du auf deinen Ohren? Ich brüll mir die Seele aus dem Leib.« Jacob kam keuchend angelaufen.

      »Wo kommst du denn jetzt her?«, fragte Philip verwundert.

      »Nachsitzen! So wie du.« Er grinste breit.

      »Ich bin nicht nachgesessen«, wehrte sich Philip.

      »Natürlich nicht, großer Bruder. Aber ich. Und ich sag dir, diesen Zirkus mach ich nicht länger mit. Ich such mir eine Lehrstelle, oder noch besser, ich werde Ritter und ziehe in den Kampf, so wie früher.« Jacob grinste. Die Sommersprossen tanzten frech auf seiner Nase, und er wedelte mit dem Arm, als würde er ein Schwert führen.

      »Träum weiter«, lachte Philip. »Als Sohn eines Schmieds wirst du niemals Ritter.«

      »Ja, ja. Ich weiß, wir liefern nur das Zubehör«, knurrte Jacob schmollend. »Trotzdem schufte ich lieber in der Schmiede, als mich länger in dieser blöden Schule abzumühen. Wofür gibt es die bloß?«

      »Damit Hornochsen wie du Lesen und Rechnen lernen«, gab Philip lachend zurück. »Sei doch froh, früher konnte es sich kaum einer leisten, was zu lernen. Erst König Willibald der II. hat in Waldoria die Schule bauen lassen und so zumindest der Stadtbevölkerung ermöglicht, an ein Mindestmaß an Bildung zu gelangen.«

      »Ach, halt die Klappe«, wehrte Jacob ab. »Mir reicht’s für heute mit Vorträgen. Auf jeden Fall werde ich nicht zur Schule gehen, bis ich fünfzehn Jahre alt bin wie du, dazu habe ich wirklich keine Lust. Ein Gelehrter in unserer Familie reicht erstmal.«

      Philip versetzte seinem Bruder einen leichten Schlag auf den zerzausten Hinterkopf, und der boxte ihn dafür in die Seite.

      »Was hast du angestellt, dass du wieder nachsitzen musstest?«

      »Gar nichts. Du weißt doch selbst, was für eine taube Nuss der Lehrer Jodokus ist. Der versteht gar keinen Spaß. Ich musste zwanzigmal schreiben ›Ich darf im Unterricht nicht mit Kreide werfen‹. Zwanzigmal! Aber das mach ich morgen wieder, dann werd ich bloß besser zielen, damit er’s nicht wieder an den Kopf bekommt.«

      Philip hatte an diesem Nachmittag genug zum Lernen, und so verschwand er gleich nach dem Essen auf den Dachboden. Aber er fand keine Ruhe. Er hörte, wie seine Mutter in den Garten hinausging, und wusste, dass er für eine Weile alleine im Haus war. Auf leisen Sohlen schlich er die Leiter hinunter und vor der Tür von Jar’jana auf und ab, bis er endlich ein Geräusch hörte, das ein Eintreten rechtfertigte. Im dämmerigen Licht konnte er die blonden langen Haare sehen, die kreuz und quer über dem Kissen lagen. Jar’janas Gesicht konnte er nicht finden.

      »Kann ich Euch helfen?«, fragte er vorsichtig.

      Die Decke bewegte sich, und jetzt erkannte er, dass sie mit dem Gesicht zur Wand gelegen hatte. Als sie sich zu ihm umdrehte, hörte er sein Herz laut hämmern. Bestimmt hörte sie es auch.

      Sie hatte die gleichen veilchenblauen Augen wie Lume’tai, und sie sahen ihn so erschrocken an, dass Philip am liebsten weggelaufen wäre. Aber er blieb.

      »Braucht Ihr etwas?«, fragte er tapfer.

      »Bist du gekommen, um mich zu holen?«, flüsterte sie. »Hat Varsa´ra dich geschickt?«

      Sie redet wirr, dachte Philip enttäuscht. »Niemand hat mich geschickt. Ich dachte nur …«

      »Ich spüre die Nähe von As’gard.« Ihre Hand griff nach seiner. »Das Vergessen ist nicht mehr fern.« Sie seufzte. »Fari’jaro ist mir vorausgegangen. Varsa’ra hat seinen Faden abgeschnitten. Aber Lume’tai wird leben. Wie geht es ihr?«

      Hilflos sah Philip in die Wiege.

      »Sie schläft«, sagte er schlicht. Er spürte seine grobe Hand zwischen ihren zarten feingliedrigen Fingern und trieb losgelöst von der Wirklichkeit, wie in einem Traum, von dem er nicht wusste, was für eine Wendung er nehmen würde.

      »Es ist so schön, dich wiederzusehen. Du warst sehr lange fort. Du musst zu Ala’na gehen. Du musst ihr sagen, dass noch nicht alles zu spät ist. Die letzte Prophezeiung ist eingetreten. Nate’re ist hier! Sag Ala’na, Nate’re ist bei meinem Kind. Lume’tai wird leben. Geh für mich nach Pal’dor – sie sollen es alle wissen, ich …« Jar’jana stockte und ließ seine Hand los.

      Philip spürte eine Bewegung hinter sich und drehte sich um.

      Seine Mutter stand in der Tür. Er konnte ihren Gesichtsausdruck nicht deuten.

      »Was tust du hier drin?«, fragte sie.

      »Ich habe etwas gehört und dachte, sie braucht …« Philip stockte, denn der Blick, mit dem ihn seine Mutter musterte, war streng, besorgt und gleichzeitig wild. Hilflos stand er zwischen den beiden Frauen. Stand zwischen zwei Welten und wusste plötzlich nicht mehr, wo er hingehörte. Seine Mutter verkörperte alles, was ihm vertraut und lieb war. Aber Jar’jana hatte soeben eine Tür aufgestoßen. Sie hatte ihm einen neuen Weg gewiesen, zu Orten, von denen er bisher nicht einmal geträumt hatte. Wie ein Reh scheute er vor dem Unbekannten zurück und ging zu seiner Mutter. Fühlte sich wie ein reuiger Sünder, der wieder aufgenommen werden wollte.

      Er war nur noch einen halben Schritt von ihr entfernt, als sie ihm auswich und an Jar’janas Bett trat. Verloren stand Philip im Raum.

      Etwas war geschehen, aber er konnte es nicht begreifen, er wusste noch nicht einmal, was es war, aber er fühlte sich verraten. Seine Mutter hatte ihn stehenlassen und sich mit der Elbin verbündet.

      Gedanken, die er nicht zu Ende dachte und Gefühle, die er nicht beschreiben konnte, brachen über ihn herein. Er machte auf dem Absatz kehrt und rannte aus dem Zimmer. Er lief aus dem Haus und blieb erst stehen, als er am Teich an der großen Weide ankam.

      An den Stamm gelehnt, starrte er ins Wasser. Sein Atem ging schnell. Es dauerte eine Weile, bis es ihm gelang, zumindest seine Gedanken zu ordnen. Der Gefühle, die so stark in ihm brannten, und die er nicht verstand, konnte er nicht Herr werden.

      Jar’jana hatte zu ihm gesprochen, doch den Sinn ihrer Worte hatte er nicht verstanden. Offensichtlich hatte sie