Kerstin Hornung

Hinter verborgenen Pfaden


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werdet euren Platz im Leben noch finden, auch du Josua.« Sie drückte ihrem ungläubig dreinschauenden Sohn einen Kuss auf die Stirn.

      Einen Platz im Leben finden, dachte Philip, war leichter gesagt als getan. Natürlich wäre durch ein Studium im Monastirium Wilhelmus diese Frage erst einmal aufgeschoben, und danach boten sich ihm ganz andere Möglichkeiten, aber plötzlich verspürte Philip überhaupt nicht mehr den Wunsch, von zu Hause wegzugehen. Um in Wilhelmus zu studieren, musste er in spätestens vier bis fünf Wochen aufbrechen. Das konnte er sich im Moment am allerwenigsten vorstellen. Er wollte Waldoria und seine Familie nicht verlassen. Gerade jetzt brauchten sie ihn doch mehr denn je. Jar’jana und ihr Kind mussten wieder in den Wald gebracht werden, und wenn Mutter wieder schwanger war …

      »Worüber denkst du nach?«, fragte Phine, als sie alleine waren.

      »Ach«, versuchte er abzuwehren, aber unter dem aufmerksamen Blick seiner Mutter fiel ihm keine Ausrede ein, die nicht wie eine Lüge geklungen hätte.

      »Ich dachte an das Monastirium, und ob es nicht besser wäre, hier zu bleiben«, antwortete er deshalb ehrlich.

      »Du musst noch so viel lernen, und dort wärst du wirklich ungestört und könntest endlich all das lesen, was dir wichtig ist.«

      »Und was wird dann aus euch?«, fragte er.

      Phine lachte. »Du hältst dich wohl für unentbehrlich.«

      »Nein«, sagte er beschämt und entschlossen zugleich. »Aber jetzt haben wir Elben im Haus, und ihr braucht mich.«

      »Davon kannst du deine Zukunft nicht abhängig machen.«

      »Mutter!«, rief Philip aufgebracht und warf das Hemdchen, das er gerade in der Hand hatte, ins Wasser.

      »Du musst gehen«, sagte sie in einem Ton, der keinen Widerspruch duldete. »Es hängt sehr viel davon ab!«

      »Das ist immer noch meine Entscheidung«, erwiderte er trotzig. Ihn einfach wegschicken wie ein kleines, unmündiges Kind, das ließ er nicht mit sich machen. In zwei Monaten wurde er sechzehn – also erwachsen. Es war sein Leben, und er konnte damit tun und lassen, was er wollte. In seinem Trotz vergaß er, dass er sich noch vor einer Woche nichts mehr gewünscht hatte, als in diesem Sommer nach Süden zu ziehen, um sich unter die Studenten im Monastirium Wilhelmus zu mischen.

      »Friede. Wir sprechen ein andermal darüber«, sagte Phine besänftigend.

      Philip wollte aber im Moment keinen Frieden, er wollte Antworten auf all das, was ihm in den letzten beiden Tagen den Boden unter den Füßen wegzuziehen drohte. Doch seine Mutter war bereits wieder in die Küche gegangen.

      Er hängte das letzte Hemdchen auf und ging dann auf den Dachboden, um zu lesen.

      Seitenlang wurden die Schönheit und die Feinheit der elbischen Bauten beschrieben. Rituale und Gesänge wurden erklärt und wörtlich aufgeführt. Zum Teil jedoch nur in elbischer Sprache, so dass Philip überhaupt nichts verstand. Es wurde erwähnt, dass alle Elben die ardelanische Sprache fließend sprachen sowie sämtliche Dialekte, die in diesem Land gebräuchlich waren, dass sie aber auch die Sprachen von Mendeor beherrschten.

      Der Verfasser des Buches schien ein häufiger Gast in Pal’dor gewesen zu sein. Er hatte von einigen der »Älteren«, wie er sie nannte, Stammbäume erstellt. Seitenlang nur Namen und Linien. Seine Aufzeichnungen waren sehr genau, zu genau, fand Philip. Sie waren ermüdend, langatmig, langweilig.

      Hier stand (endlich einmal eine Antwort auf zumindest eine seiner Fragen), dass es viele Pfade nach Pal’dor gab, aber auch, dass sie alle durch Magie verborgen waren.

      Obschon alles genauestens beschrieben war, wurde Philip aus der Erklärung der Eingangsrituale nicht schlau. Offensichtlich gab es verschiedene Pforten, die nur zu bestimmten Tageszeiten erreicht werden konnten. Es gab Bäume, die sozusagen als Landmarken galten, es gab auch Sprüche, die gesagt werden mussten. In Philips Kopf drehte sich alles.

      Er las die Stellen noch einmal laut vor, in der Hoffnung, dass er sie eher verstehen konnte, wenn er die Worte hörte, und fasste sie dann für sich zusammen.

      »Also bei Sonnenaufgang, nein – wenn die erste Sonne berührt das obere Blatt, streift man die Esche Verdon – man berührt sie also an der Wurzel am Stamm, man stellt sich nach links und sagt – Erlaube mir oh Schwester zu gehen den Pfad –, dann geht man vorbei, dann noch mal rechts und wieder rechts. Dann – Du Treue, du Ewige, gegrüßt sollst du sein – jetzt links an der Eiche – Eglte – stehen bleiben und warten, dass sie das Tor öffnet.« Vielleicht musste man das alles sehen, um es zu verstehen. Da standen auch noch Rituale zum Begehen des Sonnentors, der Tore zur Dämmerung und des Abendsterns. Dann gab es Rituale, die begangen wurden, wenn diese Zeiten nicht unmittelbar bevorstanden und man trotzdem in die Stadt wollte. Moos und Steine wurden berührt und versetzt. Natürlich jede Menge Bäume umrundet, und wenn Philip das richtig verstand, dann war man nach so einer Baumumrundung oft nicht an der gleichen Stelle wie vorher. Meistens stand auch nicht mehr der gleiche Baum dort.

      »Mein steter Begleiter auf meinem Weg nach Pal’dor war mein Freund Rond’taro, aber auch wenn ich ihn immer genau beobachtete und er mir alles zeigte, so muss ich gestehen, dass ich nie aus eigener Kraft einen Weg nach Pal’dor finden konnte.«

      Geschickt gelöst, dachte Philip. Wäre da nicht Jar’jana, hätte er vermutlich das Buch spätestens jetzt zugeschlagen und es dem Lehrer Theophil als unglaubwürdig zurückgegeben. Aber Jar’jana hatte Pal’dor erwähnt. Sie musste er fragen! Sie könnte ihm zumindest eines dieser verflixten Rituale erklären, dann würde er Hilfe für sie holen und sie konnte wieder nach Hause gehen. Der Gedanke versetzte ihm einen Stich, aber dann beflügelte ihn die Aussicht, dass er als strahlender Held vor ihr stehen würde. Fast spürte er schon den zarten Kuss, den sie für ihren kühnen Retter bereithielt.

      Trotzdem musste er das alles erst mit seinen Eltern besprechen, und er war sich sicher, dass seine Mutter es nicht gutheißen würde.

      Er konnte nun nicht mehr weiterlesen, denn es wurde zu dunkel. Also klappte er das Buch zu und schlich die Treppe hinunter. Als er an Jar’janas Zimmertür vorbeikam, hörte er sie leise singen. Verzaubert blieb er stehen und lauschte den unbekannten Worten. Er hörte Lume’tai weinen und wollte bereits anklopfen, als Johann, in der Hand eine eigenartige Flasche, um die Ecke flitzte. »Was machst du da?«, fragte Philip, als sein Bruder die Tür aufriss.

      »Ich bring ihr die Milch, ich war doch deswegen gerade bei Elvira«, antwortete er.

      »Wieso?«, fragte Philip einfältig.

      »Mutter hat gesagt, ich soll es tun, und das habe ich gemacht. Ist doch ganz klar.«

      Ja, das passte zu Johann. Alles, was er zu erledigen hatte, tat er, ohne nachzufragen. Jetzt ging er direkt auf das Bett zu und überreichte Jar’jana die Flasche. Sie nahm sie und stellte sie beiseite.

      »Danke«, sagte sie und wandte sich mit unverhohlenem Interesse aber gleichzeitig unglaublich scheu dem Jungen zu. »Wer bist du?«

      »Ich bin Johann«, sagte er schlicht.

      »Du bist ein Kind!« Ihre Stimme flatterte, sie wirkte zerbrechlich und doch so klar. Philips Herz zog sich innerhalb weniger Augenblick zusammen und wurde weit.

      »Ja«, antwortete Johann und grinste.

      »Ihr seid viele?«

      »Sechs«, erwiderte Johann. »Hast du die noch nicht gesehen?«

      »Nein.«

      Philip hatte seinen Standort gewechselt und konnte nun einen Blick auf ihr Gesicht erhaschen. Sie sah sehr erschöpft aus, aber sie saß in ihrem Bett.

      Johann stürmte aus dem Zimmer.

      »Geh rein, sie will uns kennenlernen«, sagte er und rannte die Treppe hinunter, wobei er laut die Namen seiner Brüder rief.

      Philip trat unschlüssig von einem Bein aufs andere und traute sich nach den Ereignissen des Nachmittags nicht, das Zimmer zu betreten.

      »Philip«,