Kerstin Hornung

Hinter verborgenen Pfaden


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unschlüssig dastand.

      »Jetzt gleich?«

      »Lauf! «

      Philip wollte der Aufforderung nachkommen, aber seine Beine bewegten sich nur schwer von der Stelle. Auf dem Weg zur Tür fiel ihm plötzlich Ruben ein.

      »Wo ist Ruben?«

      »Dem hab ich gesagt, dass ich krank bin, und hab ihn heimgeschickt. Lauf jetzt«, forderte Feodor ungeduldig.

      Philip stürmte die Einfahrt hoch, rannte die Hauptstraße entlang am Waldtor vorbei und stand schließlich vor dem Haus, in dem seine Mutter alles für die bevorstehende Geburt vorbereitete.

      Er klopfte. Als niemand öffnete, klopfte er noch einmal und drückte dann die Türklinke hinunter. Die Tür sprang auf.

      »Hallo!«, rief er, als ein hagerer Mann aus dem Zimmer trat.

      »Ja?«

      »Ich suche meine Mutter«, sagte Philip.

      »Ach, du bist das!« Jetzt erkannte der Mann ihn auch. »Sie ist bei meiner Frau.«

      In dem Moment erklang ein markerschütternder Schrei aus dem Nebenzimmer, der Mann erbleichte und stürmte durch die Tür, aus der der Schrei gekommen war.

      Gleich darauf wurde er rückwärts aus dem Zimmer geschoben.

      »Entspann dich, Matthias«, befahl die Hebamme. »Sonst jag ich dich aus dem Haus.«

      »Aber … Aber sie hat Schm…«

      »Unter Schmerzen bringen alle Frauen ihre Kinder zur Welt. Elvira ist eine starke und gesunde Frau, das …« Ihr Blick fiel auf Philip, und sie verstummte. Einen kurzen Augenblick sahen sich Mutter und Sohn schweigend an.

      »Vater braucht dich in der Schmiede«, sagte Philip endlich.

      Alle Farbe wich aus ihrem Gesicht.

      »Braucht er einen Arzt?«

      »Nein, er braucht dich«, antwortete er.

      »Du kannst jetzt nicht gehen, Josephine. Was wird aus meiner Frau?« Matthias sprang vor die Tür, um ihr den Ausgang zu versperren. Sie legte ihm die Hände auf die Schultern.

      »Deiner Frau geht es gut, Matthias. Das Kind lässt sich noch etwas Zeit. Und ich bin gleich wieder da.«

      »ABER …«, protestierte Matthias.

      »Hör zu. Ich lasse dir Philip hier.« Sie sah Philip eindringlich an. »Wenn irgendetwas ist, dann schickst du ihn. Du weißt doch, wo die Schmiede ist! Ich bin sofort wieder da!«

      Matthias wirkte nicht beruhigt, aber er trat zur Seite und ließ Josephine durch.

      Einen Moment später, sie war kaum zur Tür hinaus, standen sich die beiden Männer sprachlos in der Küche gegenüber. Matthias sah aus, als könnte er jeden Moment ohnmächtig werden. Aber auch Philip war von den Erlebnissen noch ganz mitgenommen. Ein qualvolles Stöhnen aus dem Nebenzimmer brachte zumindest Matthias zur Besinnung. Er ging zu seiner Frau. Philip hörte ihn leise mit ihr reden, dann kam er wieder heraus und sagte:

      »Elvira will wissen, was los ist.«

      Philip folgte Matthias in die Stube.

      Elvira saß in einem weiten Nachthemd auf dem Bett. Sie wirkte angespannt und atmete tief ein und aus, während sie ihren kugelrunden Bauch streichelte.

      »Deine Mutter hat gesagt, dass alles in Ordnung ist mit meinem Kind«, sagte sie gepresst. »Was ist mit deinem Vater?«, fragte sie.

      Philip zuckte mit den Schultern. Er konnte Elvira doch nicht erzählen, dass der Vater eine Elbin im Wald gefunden hatte.

      »Nichts«, murmelte er.

      Elvira sah ihn zweifelnd an. »Wegen nichts wird er Phine bestimmt nicht von einer Geburt wegholen.«

      »Es geht … um etwas anders«, stammelte Philip. Elvira nickte ihm aufmunternd zu. Er würde nicht drum herumkommen, ihr eine plausible Erklärung zu geben. Während er jedoch noch fieberhaft nachdachte, was er sagen sollte, gewährte ihm die nächste Wehe etwas Bedenkzeit.

      »Kann ich Euch etwas bringen?«, fragte er, in der Hoffnung verschwinden zu können. Er kannte Geburten nur vom Hörensagen. So unmittelbar dabei zu sein, überforderte ihn.

      »Nee, es geht schon wieder.« Sie lächelte tapfer. »Wenn ich mich mit jemandem unterhalte, lenkt mich das von den Schmerzen ab. Also erzähl!«

      »Es ist nicht so aufregend«, behauptete Philip. »Eine entfernte Base meines Vaters ist plötzlich in der Schmiede aufgetaucht. Sie wollte etwas zu essen haben und was zum Anziehen für ihr Kind. Aber mein Vater ist der Meinung …«

      »Stammt sie nicht von hier aus Waldoria?«, fragte Elvira neugierig.

      Philip schüttelte den Kopf.

      »Nein, nein«, sagte er. »Es ist … Vater hat es mir gesagt, aber ich hab‘s vergessen. Sie kommt aus einem kleinen Dorf weiter südlich.«

      »Und was macht sie hier?«

      »Nichts … wie gesagt, sie wollte gleich weiter, aber sie ist anscheinend krank, und dann hat sie auch noch dieses Kind …«

      Eine weitere Wehe verschaffte Philip etwas Zeit, um seine Geschichte auszubauen. Als Elvira wieder ruhiger atmete und sich ihre Gesichtszüge zu entspannen begannen, fuhr er fort.

      »Er hofft jetzt natürlich, dass meine Mutter es schafft, sie davon zu überzeugen, eine Weile zu bleiben.«

      »Dafür holt er sie von meiner Geburt weg?« Die Enttäuschung stand Elvira ins Gesicht geschrieben.

      »Es ist ein sehr kleines Kind. Kaum älter als drei Tage«, versuchte Philip sie zu beschwichtigen. »Ein Neugeborenes und eine Wöchnerin gehören doch nicht auf die Straße.«

      »Das stimmt schon«, räumte Elvira ein. »Aber wieso ist sie dann überhaupt unterwegs?«

      »Ganz genau weiß ich das auch nicht, ich hab nur gehört, dass sie etwas von einem Überfall gestammelt hat und davon, dass sie zu ihren Eltern will. Es muss etwas Schreckliches geschehen sein.« Jetzt hatte er Elviras Mitgefühl geweckt. »Sie hat getobt und auf meinen Vater eingeschlagen, als er sie zurückhalten wollte. Die Ereignisse scheinen ihr den Verstand geraubt zu haben.« Zufrieden dachte Philip, dass er jetzt, für den Fall, dass die Elbin und ihr Kind einige Tage bei ihnen blieben, eine glaubwürdige Erklärung gefunden hatte. Falls sie es nicht taten, würde diese Geschichte auch das erklären.

      Plötzlich fasste sich Elvira an den Bauch und krümmte sich.

      »Matthias! Die Fruchtblase …«, stöhnte sie und sah peinlich berührt auf ihr nasses Nachthemd. Plötzlich schien ihr bewusst zu werden, dass Philip kein Kind mehr war.

      »Hol deine Mutter«, keuchte sie. »Schnell!«

      Fluchtartig verließ Philip die Stube. Er hörte Matthias und Elvira miteinander tuscheln. Sie stöhnte jetzt in kürzeren Abständen. Wahrscheinlich würde es wirklich nicht mehr lange dauern.

      Er hatte das Waldtor noch nicht erreicht, da kam ihm seine Mutter bereits entgegen.

      »Was ist mit der … der …?«, fragte er.

      »Es geht ihr nicht gut, aber dein Vater weiß, was er jetzt tun muss. Hilf ihm dabei. Wie geht’s Elvira?«

      »Die Fruchtblase ist geplatzt«, erwiderte Philip. »Sie hat mich ganz schön ausgefragt.«

      Phine grinste und strich Philip über den Arm.

      »Geh zu deinem Vater, er braucht dich«, sagte sie.

      »Ich habe ihr erzählt, sie wäre eine Cousine von Vater … auf der Flucht …«

      Phine nickte. »Darüber sprechen wir nachher«, sagte sie und wandte sich zum Gehen.

      »Wird sie … Wird sie bei uns bleiben?«, fragte Philip stockend.

      »Vorerst.«