Kerstin Hornung

Hinter verborgenen Pfaden


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Warnruf des Tores hatte mit einem schrillen Summen begonnen, das sich langsam in ein immer tieferes Grollen verwandelte. Ohne die Rituale zu befolgen, hatte jemand die geheimen Pfade betreten und die äußerste Schutzgrenze von Pal’dor durchbrochen. Ala’na stand auf dem weißen Balkon vor ihrem Schlafgemach und schaute beunruhigt in die Ferne. Doch selbst mit ihren scharfen Augen konnte sie nicht mehr erkennen als ein paar Blättchen, die sich ein wenig zu schnell in der leichten Brise wiegten.

      Besorgt sah sie die ersten für einen Kampf gerüsteten Elben die Pfade hinuntereilen.

      Auch jenseits der Stadtgrenzen war es unruhig. Der ganze Wald befand sich in Aufruhr. Ala’na konnte dies mehr spüren als sehen.

      Hoffentlich war Jar’jana in Sicherheit.

      Die Ursache der Störung konnte sie jedoch nicht erkennen. Das Grollen des beschädigten Tores wurde zwar leiser, aber draußen im Wald nahm das Chaos zu. Der Lärm und das Ungeschick deuteten darauf hin, dass es Menschen waren. Menschen vor Pal´dor?! Das war in den letzten tausend Jahren so gut wie nie vorgekommen. Aber wer konnte schon in die Köpfe der Menschen sehen? Unruhig und wankelmütig, wie sie waren, waren sie immer für eine Überraschung gut. Dass sie den Wald normalerweise fürchteten, war immer ein beruhigender und zusätzlicher Schutz für Pal’dor gewesen, aber möglicherweise hatten die Menschen sich von ihrer Angst losgesagt. Immerhin schien ihr Leben außerhalb des Waldes auch nicht ungefährlich zu sein. Warum sonst trauten sich in letzter Zeit immer mehr von ihnen immer tiefer? Ala’na verfolgte ihr Treiben mit Hilfe des Sees Latar’ria schon seit vielen Monden. Bisher hielten sie sich hauptsächlich im Norden des Waldes auf und sie benahmen sich so, dass der Wald sie duldete.

      Hatte sie in letzter Zeit vielleicht etwas übersehen? Hatte sie sich zu sehr darauf verlassen, dass sie an sich harmlos waren? In den letzten tausend Jahren war es selbst den engsten und vertrautesten Menschenfreunden nie gelungen, die Tore von Pal’dor zu finden. Aber Menschen lebten und starben so schnell, dass man als Elbe schnell den Überblick verlieren konnte.

      Wie lange war es her, dass der letzte Mensch die Stadt besucht hatte? Hundert oder hundertfünfzig Jahre?

      Der kluge Theobald aus Waldoria war regelmäßig gekommen. Jahrelang. Er suchte in Pal’dor Wissen und Frieden und fand auch Freundschaft. Eines Tages brachte Theobald ein Kind mit. Einen Jungen, der das beschauliche Leben von Pal´dor aufgewühlt und umgekrempelt hatte. Selbst in hunderten von Jahren würde man sich an dieses Kind erinnern. Ala’na erinnerte sich gerne an ihn. Er hieß Peredur und war der jüngste Sohn des damaligen Menschenkönigs. Theobald war beauftragt worden, für dieses Kind Sorge zu tragen, damit es das Kriegsgräuel jener Tage nicht miterleben musste. Als er mit dem Jungen nach Pal’dor kam, war der König tot. Theobald sprach von Thronraub und Verrat, von Unrecht und Mord und wollte das Kind in Sicherheit wissen.

      Es war sein letzter Besuch in Pal’dor. Als er die Stadt verließ, lauerten ihm die Häscher des Thronräubers im Wald auf und brachten ihn zur Strecke, noch bevor jemand ihm zu Hilfe eilen konnte.

      Daraufhin nahmen Ala’na und ihr Gefährte Rond’taro dieses Kind wie ihr eigenes auf.

      Peredur war wie Quecksilber. Er hüpfte, er rannte, er kletterte auf Bäume und Mauern. Ruhig war er nur, wenn er schlief oder, wenn man ihm eine Geschichte erzählte.

      Als er größer wurde, lernte er mit der gleichen Energie, mit der er vorher gespielt hatte. Seine dunklen, ständig zerzausten Haare fielen in Locken auf seine Schultern, und Ala’na erinnerte sich immer noch an seine grünen Augen, umrahmt von dunkeln Wimpern. Innerhalb weniger Jahre wuchs er zu erstaunlicher Größe heran, und die junge Sili’rana suchte oft seine Nähe. Stundenlang saßen die beiden am See, redeten und lachten und kümmerten sich wenig um die Gepflogenheiten, die solchen Treffen vorauszugehen hatten. Ala’na war besorgt, konnte sich aber der sprühenden Lebensfreude dieses jungen Mannes selbst nicht entziehen.

      Er war der letzte Mensch gewesen, der in Pal’dor gelebt hatte, doch wie alle Menschen war er vergänglich. Ala’na konnte nicht umhin, auch heute noch den Stolz zu bewundern, mit dem er damals das Geschenk der Unsterblichkeit zurückgewiesen hatte. Und so war er gegangen wie so vieles, was gut und schön war in dieser Welt.

      Jetzt endlich konnte sie von ihrem Aussichtspunkt aus etwas erkennen. Sie konzentrierte sich und richtete ihren Blick in die Ferne. Ein leises Stöhnen, gefolgt von einem erleichterten Aufatmen entwich ihren Lippen, dann drehte sie sich auf dem Absatz um und durchquerte mit fliegenden Kleidern ihr Schlafgemach.

      Wenige Minuten später lief sie die Pfade von Pal’dor entlang, der Gruppe Jäger entgegen, die bereits seit vielen Tagen zurückerwartete. Erst kurz bevor sie sie erreichte, mäßigte sie ihren Schritt und beruhigte ihren Atem. Sie war schließlich Ala’na die Weise oder die Alte, sie hatte mehr gesehen und erlebt als die meisten hier. Sie war Mutter, Großmutter und Urgroßmutter, und gewiss hatte sie in den letzten tausend Jahren hier niemand mehr wie ein Kind laufen gesehen. Sie zog ein paar Strähnen ihres langen, wallenden Haares auf die Brust, dann trat sie mit gemessenen Schritten der Gruppe entgegen.

      »Rond’taro, ich grüße dich.« Der Glanz ihrer Augen sprach deutlichere Worte, als ihre Lippen es tun konnten. Ihr Blick fiel auf den Rest der Truppe und wurde trüb. Es war nur knapp die Hälfte derer, die ausgezogen waren, und sie sahen müde und abgekämpft aus. Einer blutete aus frischen Wunden. Ala’na begrüßte auch sie mit einem gemessenen Kopfnicken.

      »Ala’na! Meine Augen sind erfreut, dich wiederzusehen.« Rond’taro stieg von seinem Pferd und fasste seine Gefährtin an beiden Händen.

      »Was ist dort draußen los?«, fragte sie. »Wo sind die anderen?«

      »Ruf den großen Rat zusammen. Ich bringe schlechte Nachrichten. Alle müssen davon erfahren.«

      Ala´na warf ihm einen prüfenden Blick zu und biss die Zähne zusammen. Indem Rond´taro zum Rat rief, versagte er ihr die Möglichkeit, gleich Antworten zu erhalten.

      »Da sind Menschen im Wald!?« Den Vorwurf in ihrer Stimme konnte nur Rond’taro hören. Er streichelte mit dem Handrücken beschwichtigend über ihren.

      »Sie tragen die Farben des Königs. Wir ritten auf das Tor der Morgenröte zu, aber die Sonne hatte ihren Stand noch nicht erreicht, als sie plötzlich durch das Dickicht brachen und uns sofort angriffen. Ich wollte keinen weiteren Kampf riskieren. Leron’das«, er deutete auf den blutenden Elben, »schoss ein paar Warnpfeile ab und hielt uns den Rücken frei, während wir das Tor öffneten. Ein Pfeil hat ihn getroffen, die Heilerin Iri’te sollte bald nach ihm sehen.«

      »Konnte euch jemand folgen?«, fragte Ala’na besorgt. Das Verhalten der Menschen war sehr ungewöhnlich, aber nicht das, was Rond´taro nach dem großen Rat verlangen ließ. Wieso dieser Angriff?, fragte sie sich trotzdem.

      »Es folgte uns keiner. Als auch der Letzte von uns hindurch war, haben wir das Tor notdürftig verschlossen. Aro’gen und Lilli’de sind jetzt dort, sie sprechen die Worte des Verbergens und Verschließens.«

      Ala’na nickte. Alles hatte seine Ordnung in Pal’dor, jeder wusste, was er zu tun hatte, und erfüllte seine Aufgaben. Niemand beherrschte das Verschleiern von Orten so gut wie diese beiden Elben. Sie war beruhigt, trotzdem lauschte sie noch einmal prüfend nach dem Grollen.

      »Wie geht es Jar’jana?«, erkundigte sich Rond’taro. »Der letzte Mond ist gestern angebrochen.«

      Ala’na war ein wenig überrascht, dass er sofort darauf zu sprechen kam.

      »Sie ging wie geplant auf ihren Weg. Ihre Vertraute und Freundin seit frühen Kindertagen, Sili’rana, erwartet sie spätestens morgen bei Sonnenuntergang auf der Warte.« Ala’na brauchte nicht aufzusehen, um zu wissen, dass auf Rond’taros Stirn eine steile Sorgenfalte sichtbar wurde.

      »Es sind sehr viele Menschen im Wald«, gab er zu bedenken.

      »Sie hat ihren Aufbruch so lange wie möglich hinausgezögert«, sagte Ala’na. Wieder ein Vorwurf und sie zwang sich nach vorne zu sehen, obwohl sie gerne einen Blick auf die Jäger geworfen hätte. War Jar’janas Gefährte Fari’jaro unter ihnen?

      Rond’taro