Kerstin Hornung

Hinter verborgenen Pfaden


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      »Die Prophezeiung!?« Rond’taros Stimme war wie immer leise und bedacht, aber Ala’na hörte den spitzen Unterton. Sie wusste, dass er nichts von vorgeburtlichen Prophezeiungen hielt.

      »Es wird erst mal ein Kind sein. Ein kleines, hilfloses Wesen, das alles lernen muss, ehe es irgendeiner Bestimmung folgen kann. Du weißt, was ich denke, und ich habe …«, er sah sie sanft lächelnd an, »wir haben unser Bestes dafür getan. Nicht ein Kind allein kann unsere Zukunft bestimmen, wir brauchen mehr, viele mehr.« Er warf einen Blick nach hinten zu seinen Gefährten der letzten Reise. Wieder grub sich die Sorgenfalte in seine Stirn. Sein Blick ging zu Boden und er flüsterte. »Ich habe in wenigen Tagen mehr Tapfere verloren, als Kinder in den letzten fünfhundert Jahren hier geboren wurden.« Er sah Ala’na eindringlich an. »Fari’jaro ist nicht mehr am Leben …«, hauchte er. Dann ging sein Blick wieder zu Boden.

      Als sie die ersten Gebäude der Stadt erreichten, richtete Rond’taro noch einmal seine Aufmerksamkeit auf die erschöpften Jäger.

      »Ihr Tapferen von Pal’dor! Wir haben unsere Aufgabe erfüllt. Wir sind weit geritten, und ihr seid mutige Gefährten gewesen. Geht jetzt nach Hause und ruht euch aus. Der Rat wird einberufen, und jeder von euch wird erzählen, was er gesehen und gehört hat. Wenn sich übermorgen das Tor der Dämmerung öffnet, haltet euch bereit. Im Rat werden wir entscheiden. Lebt wohl, Freunde.«

      Der See Latar’ria lag in einer kleinen Waldlichtung. Ala’na näherte sich ihm besonnen, wie sie es immer tat, und lauschte dem Flüstern der Wellen, die unruhig, stumpf und grau ans Ufer rollten. Sie breitete ihre Arme aus, murmelte leise Worte und beruhigte Latar’ria, bis sich die Wellen glätteten und das Wasser seinen natürlichen Glanz wiederhatte. Erst als der See still wie ein Spiegel dalag, begann sie damit, eine Verbindung zu den magischen Quellen in jeder der fünf Elbenstädte aufzubauen, um diese zum großen Rat zu bitten.

      Die Städte Mar’lea am Meer und Lac’ter im Engelsee waren leicht zu benachrichtigen, denn sie lagen an großen Gewässern. Munt’tar hingegen befand sich hoch in den südlichen Bergen. Die Bäche dort waren kaum größer als Rinnsale aus Gletscherwasser, die unruhig über die Steine spritzten. Descher’latar war noch schwieriger zu erreichen, denn sie lag jenseits dieser Berge an der Grenze zwischen Steppe und Wüste. Viele Antworten auf ihre Fragen konnte Ala’na höchstens erahnen.

      Vier der fünf großen Elbenstädte hatte sie nun benachrichtigt, und jetzt richtete sie ihre Aufmerksamkeit auf die letzte – Frig’dal.

      Es war die mit Abstand abgeschiedenste Stadt im gesamten Land Ardea’lia. Eis und Schnee hielten das Hochland im Norden beinahe das gesamte Jahr über fest im Griff. Zwischen weißen Hügeln lag Frig’dal, die Stadt aus Eis. Ala’na war in jungen Jahren einmal dort gewesen und andächtig zwischen den spinnwebzarten Kunstwerken aus Eis entlanggegangen.

      Als sie jetzt die Stadt zum wiederholten Male anrief, fröstelte sie bei dem bloßen Gedanken an die schaurige Kälte dort. Niemand antwortete. Sie versuchte es erneut, der See war heute sehr unruhig, und Ala’na merkte, wie diese Unruhe langsam auf sie übergriff. Sie konzentrierte sich auf das innere Bild, das ihr von der Stadt geblieben war, dann hob sie beide Arme, breitete sie langsam aus, atmete tief ein und rief:

      »Die nördliche Stadt aus ewigem Eis, in den Hügeln und Tälern des Hochlands. Fließendes Wasser und plätschernder Quell klopfe an bei deinem Bruder dem Eis. Zeig mir den Spiegel Ogla’ra!«

      Latar’ria knirschte und knackte. Eiskristalle bildeten sich am Ufer und breiteten bald eine zerbrechliche Eisdecke auf dem See aus.

      »Ala’na ruft den Rat nach Pal’dor …« Das Eis knackte und zersprang mit einem Mal.

      Schwarzes Wasser spritzte aus dem See. Ala’na wich zurück.

      Latar’ria war launisch seit jeher. Verbindungen ins Eis waren noch nie einfach gewesen, aber heute steckte mehr dahinter als bloß der Unwille dieses Wassers, eine feste Form anzunehmen. Etwas wühlte den See auf. Etwas veränderte sich.

      Frig’dal hatte nicht geantwortet, aber zumindest war ihre Nachricht durchgegangen. Auch im eisigen Norden wusste man, dass ein Aufruf zum Rat verbindlich war.

      Regungslos stand Ala’na noch eine ganze Weile vor dem See.

      Es gab viele Dinge, die sie tun musste.

      Als erste Mutter war es ihre Aufgabe, nach dem verletzten Leron’das zu sehen. Er war zwar nicht mit ihr verwandt, aber er hatte an der Seite ihres Mannes gekämpft und gehörte damit zur Familie.

      Sie musste Vorbereitungen für den Rat treffen, ebenso wie für die Geburt auf der Warte.

      Ala’na beschloss mit einem Besuch bei Leron’das zu beginnen, dann konnte sie Rond’taro von ihm berichten, ehe sie das Ratstreffen vorbereitete.

      Ihren Ritt zur Warte würde sie erst einmal verschieben. Jar’jana sollte noch nicht erfahren, dass Rond’taro zurückgekehrt war. Ala’na fürchtete sich davor, Jar’jana die Nachricht von Fari’jaros Tod zu überbringen, und wollte diesen Moment so lange wie möglich hinauszögern.

      Was für ein Tag, dachte sie bei sich. Gestern war alles noch nach Plan verlaufen.

      Jar’jana hatte am Vormittag ihr Abschiedsritual befolgt und war zum höchsten Stand der Sonne auf ihren Weg gegangen. Als sie durch das Sonnentor hinaus in den Wald ging, konnte Ala’na ihre Schritte noch eine Zeitlang verfolgen. Schon am Vortag hatte sie die Aussicht, dass Jar’jana zwei Tage lang alleine im Wald sein würde, mit Sorge erfüllt. Die Veränderungen, von denen der See zeugte, trugen auch heute nicht zu ihrer Beruhigung bei und nun wusste sie auch noch, dass es im Wald von Menschen nur so wimmelte. Es war der denkbar schlechteste Zeitpunkt, um als werdende Mutter im Wald zur Ruhe zu kommen. Dabei hatte gerade Jar’jana diese Ruhe dringend nötig. Die Erwartungen hatten sie stark unter Druck gesetzt.

      In Pal’dor waren in den letzten tausend Jahren kaum zwei Dutzend Kinder geboren worden. Die letzte Geburt lag fast hundert Jahre zurück.

      Ala’na versuchte, ihre treibenden Gedanken zu sammeln. Es gab Dinge, die sie nicht beeinflussen konnte, mahnte sie sich. Sie würde warten müssen, bis die Nachricht von der Warte kam.

      Entschlossen glättete sie ihre Kleider, zupfte die Ärmel zurecht und machte sich auf den Weg, um das zu tun, was sie tun musste.

      Leron’das ging es den Umständen entsprechend gut. Er hatte einige Streifschüsse an Armen und Beinen, die stark geblutet hatten, die allerdings keine große Herausforderung für die Heilkunst Iri’tes darstellten. Um seinen Oberkörper war ein dicker Verband gewickelt. Ein Pfeil hatte seine leichte Jagdrüstung aus Leder an der Schwachstelle unter dem Arm durchbohrt und war tief in seinen Körper eingedrungen. Iri’te hatte den Pfeil entfernen können und die Wunde gereinigt, allerdings musste Leron’das noch einige Tage liegen und sich schonen.

      Als er Ala’na sah, lächelte er tapfer und versuchte, sich in seinen Kissen aufzurichten. Ala’na ließ sich auf seiner Bettkante nieder und nahm seine Hand.

      »Ich danke dir, Leron’das, für deine Tapferkeit«, sagte sie. »Ich danke dir, dass du dein Leben eingesetzt hast, um das deiner Gefährten zu schützen, und ich danke dir, dass du Pal’dor geschützt hast.«

      Leron’das lächelte, aber sein Blick wurde trüb.

      »Ich bedaure, Ala’na, dass ich nicht mehr tun konnte. Viele meiner Gefährten sah ich sterben, ohne sie beschützen zu können. Es tut mir leid, Ala’na, dass ich nicht mehr für Fari’jaro, den Mann deiner Urenkelin, tun konnte.« Leron’das sah eine Weile stumm auf seine grün durchmusterte Decke. »Er starb in meinen Armen. Sein letzter Gedanke galt Jar’jana und dem Kind.« Er seufzte, und Ala’na konnte ein leichtes Pfeifen hören, das seine verletzte Lunge beim Einatmen machte.

      »Ich muss ihr die letzten Grüße und Wünsche ihres Mannes überbringen.« Er sah Ala’na aus großen dunklen Augen an. Tränen schimmerten darin.

      »Jar’jana ist gestern beim höchsten Stand der Sonne auf ihren Weg gegangen. Die Nachricht wird sie erschüttern, und ich bin froh,