Melinde Manner

Schwingungswelten


Скачать книгу

Es entstand zwischen ihm und Robert eine Freundschaft, die ihn in jenen Tagen bereicherte. Sie joggten gemeinsam, rasten mit dem Mountainbike erklommene Berge wieder herunter und irgendwann – wie in einem schlechten Hollywoodfilm – verliebten sie sich in dasselbe Mädchen.

      Er schmunzelt bei dem Gedanken an Clarissa. Sie hat nie einen Hehl daraus gemacht, dass er, Valentin, nicht der Auserwählte war. Aber sie hatte eine nette Art, mit ihm umzugehen und sich nie zwischen ihn und Robert gestellt. Lange Zeit waren sie als Trio unterwegs. Heute, 17 Jahre später, erinnert er sich nicht einmal mehr an ihr Gesicht.

      Die Traurigkeit darüber lässt ihn wieder in die Gegenwart zurückkehren.

      Er nimmt genüsslich einen Schluck Tee, gibt im Suchfeld seines Browsers "Ausbildung zum Physiotherapeuten" ein und klickt sich durch die Seiten. Als er knapp zwei Stunden später seine Recherchen beendet, hat er eine klare Vorstellung vom Ausbildungsablauf und Berufsbild. Er ist sogar auf eine Privatschule gestoßen, die bequem zu Fuß erreichbar ist.

      Die monatlichen Gebühren werden zwar seine Ersparnisse schmälern, ihm aber auch neue Türen öffnen, hofft Valentin.

      Sein Herz macht einen Sprung und für einen Moment, den er tief in sich verankert, geht er in einem Gefühl voller Dankbarkeit auf. Er muss sich um das Finanzielle nicht sorgen. Als seine Eltern vor 3 Jahren ihren Bauernhof verkauften, zahlten sie ihm und seiner Schwester das Erbe vorzeitig aus.

      Valentin merkt, dass er wieder abzuschweifen droht und beschließt, sich zu einer Runde Joggen aufzumachen. Er zieht sich schnell um, steckt seinen MP3-Spieler ein und verlässt mit dem Gefühl, etwas erreicht zu haben, die Wohnung.

      Ein neuer Plan

      Am nächsten Tag wacht Valentin auf. Es ist schon 8.30 Uhr. Er bleibt im Bett und sieht aus dem Fenster.

      Ein grauer Tag, wie meine Seele, denkt er sich.

      Es kostet ihn Überwindung, aufzustehen. Mühsam schleppt er sich in die Küche, macht seinen Tee fertig, eilt unter die Dusche und setzt sich trotz der Kälte hinaus auf den Balkon.

      Er nimmt das Zwitschern der Vögel wahr. In der Ferne hört er den Verkehrslärm und es gehen ihm all die Menschen, die jetzt zur Arbeit hasten, durch den Kopf. Er fragt sich, wie es wohl allen geht. Wie sie es schaffen, einen Weg zu finden, um nicht in einem Loch zu versinken, das so tief ist, dass man nicht mehr herauskommt.

      Was kann ich anders machen, fragt er sich.

      Es ist ihm klar: Wenn er jetzt nichts unternimmt, wird er sich nur wieder in Grübeleien verlieren und alles schweifen lassen.

      Ich hole mir zumindest die Anmeldeformulare ab, nimmt sich Valentin vor.

      Seine Laufstrecke hat er gestern bewusst anders gewählt, um an der physiotherapeutischen Schule vorbeizukommen. Auf seinem Weg vergewisserte er sich, dass das Sekretariat, wie auf der Homepage angegeben, täglich von 9 bis 11.30 Uhr für den Parteiverkehr offen ist.

      Valentin zieht sich an und marschiert entschlossen in Richtung Schule. Als er ankommt, sieht er jemanden vor der Eingangstür stehen. Etwas verunsichert tritt er näher und entdeckt den beschrifteten Zettel "Komme gleich".

      "Dauert bestimmt nicht lange", sagt der Mann. Valentin nickt und ist unschlüssig, ob er stehenbleiben oder auf- und abgehen soll.

      Bevor er zu einer Entscheidung kommt, spricht ihn dieser wieder an. "Möchten Sie sich Informationen holen oder anmelden?"

      "Eigentlich habe ich mich schon online informiert. Ich weiß nur nicht, ob das reicht. Das wollte ich eben nachfragen und mir auch gleich die Anmeldeformulare mitnehmen."

      "Das werden Sie sicher erfahren. Ich habe mich schon mit einigen Schülern unterhalten: Sie treffen ganz sicher eine gute Wahl, wenn Sie sich für diese Schule entscheiden."

      "Die Frage ist, ob ich überhaupt die richtige Entscheidung treffe, nicht nur, was die Schule als solche betrifft", rutscht es Valentin heraus.

      "Sie meinen, dass die Entscheidung, eine neue Ausbildung zu machen, falsch sein könnte? Oder ob Sie speziell diese Ausbildung machen sollen?"

      "Beides."

      "Kann ich gut nachvollziehen. Ich war 36, als ich mich entschlossen habe, hier nebenan in der Volkshochschule eine Ausbildung als Fremdsprachenkorrespondent zu beginnen. Und jetzt arbeite ich dort. Als Lehrer für Spanisch und Italienisch. Das war damals keine leichte Entscheidung. Da gehen einem viele Gedanken durch den Kopf."

      Eine Flut voller Emotionen, die er so schnell nicht einzuordnen weiß, überrollt Valentin und verschlägt ihm die Sprache. Bevor er sich wieder sammeln kann, sieht er die Sekretärin durch die Scheibe der Eingangstür. Sie nimmt das Schild "Komme gleich" weg, entschuldigt sich und bittet die beiden hinein.

      "So, junger Mann, was kann ich für Sie tun?"

      Verunsichert schaut Valentin zum Volkshochschullehrer; dieser war zuerst da.

      "Ich bin privat hier. Erledigen Sie nur, warum Sie hier sind. Ich kann auch gern draußen warten, wenn Ihnen das lieber ist".

      "Nein, bitte, das ist nicht nötig."

      Valentin wendet sich der Sekretärin zu. "Könnte ich bitte die Anmeldeformulare haben?"

      Sie reicht ihm die Unterlagen, dazu einige Broschüren und sieht ihn geduldig an.

      "Hier ist alles dabei, was ich brauche und wissen muss?"

      "Ja. Sehen Sie sich zu Hause alles in Ruhe an und falls Sie Fragen haben, kommen Sie vorbei oder rufen Sie an. Beachten Sie bitte, dass die Anmeldefrist am 30. März endet. Wenn Sie sie versäumen, ist eine Anmeldung erst nächstes Jahr wieder möglich."

      "Ja, danke, mach ich. Auf Wiedersehen!"

      Valentin verlässt gedankenverloren das Sekretariat. Das Bedürfnis, nochmal mit dem Lehrer zu sprechen, lässt ihn vor der Eingangstür förmlich festwachsen.

      Aber auf einmal kann er keinen klaren Gedanken fassen, nimmt alles um sich sehr intensiv und in Zeitlupe wahr; er hört sein Herz schlagen. Nein, nicht nur schlagen, es pocht. Es pocht ganz wild. Er kommt sich wie ein Beobachter vor, der alles aus der Ferne wahrnimmt. Valentin kennt dieses Gefühl. Er hat Angst. Oder sogar Panik. Obwohl er nicht weiß, wovor; er hat ja nicht einmal einen klaren Plan, was er diesen Mann fragen will.

      Aus der Ferne hört er eine Stimme. Er braucht ein bisschen, aber dann schafft er es, sich auf diese zu konzentrieren.

      "Bitte?", fragt Valentin, um ein ein wenig Zeit zu gewinnen.

      "Sie überlegen noch? Oder haben Sie etwas vergessen? Sie sehen etwas blass aus. Kommen Sie, setzen wir uns kurz auf die Bank da vorne." Behutsam legt ihm der Mann die Hand auf die Schulter und führt ihn zur Bank.

      "Ich heiße Silvio."

      Die Welt um Valentin rückt wieder näher und verliert allmählich ihre vermeintliche Bedrohlichkeit. Er atmet tief durch und merkt, dass sich sein Körper entspannt. In der Therapie hat man ihm gesagt, er solle auf eine gleichmäßige langsame Atmung achten, wenn ihn Panik erfasst.

      Gut, das hat er jetzt geschafft. Er überlegt kurz, was er zuletzt gehört hat.

      "Silvio?", fragt er.

      "Ja, Silvio. Ich bin zwar kein Italiener, sondern Spanier, aber meine Eltern fanden Gefallen an diesem Namen."

      Es entsteht eine Stille zwischen den beiden. Für Valentin scheint sie eine Ewigkeit zu dauern, in der er sich nicht sicher ist, was er sagen könnte.

      "Danke, mir ist etwas schwindlig geworden", sagt er, um die Stille zu unterbrechen.

      "Haben Sie etwas vergessen, weil Sie vor dem Eingang gewartet haben?"

      "Nein, ehrlich gesagt, hätte ich gern mehr darüber gehört, wie Sie Ihre Entscheidung getroffen haben. Ich meine, als Sie sich entschlossen haben, die Ausbildung zu machen. Sie