Hans Oberleithner

Der Puppendoktor


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Dorfplatz auf – allein das ist ungewöhnlich - und scheucht mich heim. Sie nimmt mich fest bei der Hand und zieht mich fort. Ich müsse nach dem Abendessen rasch ins Bett, weil wichtiger Besuch käme für meine Eltern und ich bis dahin schon schlafen sollte. Rebellieren nützt bei Anni nichts. Am besten, man fügt sich. Außerdem bin ich heute eh nicht gut drauf – und Anni hat warme Hände.

      Daheim gibt es Milchreis und Zwetschgenkompott, mit Zimt und Zucker – das mag ich. Seit meine Schwester im Internat in Gmunden ist, muss ich nicht teilen, das finde ich recht praktisch. Zwar gilt das auch fürs Würstelgulasch, aber bei Milchreis hau‘ ich richtig rein.

      Während ich den Reis mit einem großen Löffel in mich reinstopfe, rennt mein Vater ein paarmal durch die Küche, mit fliegender Krawatte. Ich geh‘ etwas in Deckung und verschanze mich hinter dem Reisberg.

      Meine Mutter riech‘ ich nur.

      Manchmal steckt sie ihre Nase in die kaum geöffnete Tür und gibt Anni ein paar Aufträge. Die stellt dann klirrend Flaschen in den Kühlschrank oder spült die Aschenbecher im Waschbecken aus.

      Ich verdrücke einen ziemlichen Berg Reis und verziehe mich dann in mein Zimmer.

      Mein Zimmer teile ich rein theoretisch mit meiner Schwester. Die ist aber in Gmunden im Konvikt und nur selten hier. So habe ich das ganze Zimmer für mich. Ich mag es gern. Es hat einen blauen Kachelofen, der jetzt natürlich kalt ist und einen glatten Boden, auf dem meine Match-Box-Autos super rollen.

      Mein Zimmer liegt zwischen dem Schlafzimmer meiner Eltern und dem Vorzimmer. Dahinter folgen die anderen Zimmer, Esszimmer, Wohnzimmer und Küche. Jedes Zimmer hat eine Waschgelegenheit, das ist sehr praktisch. Bad haben wir keines. Aber wir haben eine Waschküche im Garten. Das ist ein kleines Häuschen, mit einem Steinbecken. Dort bade ich einmal pro Woche. Da kommen auch die Haare dran zum Waschen. Anni reibt mich dann von oben bis unten ab und kippt mir kübelweise das Wasser über den Kopf. Ich protestiere da höchstens erst, wenn mir Seife in die Augen kommt. Da gibt es dann einen kräftigen Klaps aufs Hinterteil, und das Augenbrennen ist schon vergessen.

      Samstag ist eigentlich Badetag. Aber heute scheint alles anders zu sein.

      Ich bin schon gegen sieben Uhr abends in meinem Zimmer. Es ist noch hell und ich höre die Amseln pfeifen. Anni hat mir schon das Bett gemacht, die Vorhänge zugezogen und wartet, bis ich im Bett liege. Sie zieht mir die Bettdecke fast über die Augen, löscht das Licht und geht leise aus dem Zimmer. Ungewöhnlich leise, zumindest für Anni.

      Im Schlafzimmer meiner Eltern nebenan ist Licht. Das sehe ich unten am hellen Türspalt.

      Die Mutter ist noch drin, das höre ich. Manchmal knarrt die Tür von ihrem Kleiderschrank, dann spricht sie irgendwas vor sich hin oder sprüht sich mit Parfum ein. Das hört man – pft-pft – ich kann es sogar durch den Türspalt riechen.

      Mein Vater ist wahrscheinlich im Wohnzimmer, dem Zimmer auf der anderen Seite der Wohnung, hinter dem Vor- und dem Esszimmer. Ich vermute das, denn das Stühlerücken, Vorhängeschließen und das Parkettbodenknarren kenne ich.

      Das macht er immer, wenn Gäste kommen.

Grafik 6

       Mausi & ich (1955)

      Und von denen hat es in der Vergangenheit viele gegeben. Normalerweise werde ich dann nicht einfach ins Bett gesteckt wie heute, sondern darf nach der Begrüßung einmal kurz auftreten. Wenn meine Schwester Mausi da ist, was in letzter Zeit selten war, dann treten wir gemeinsam auf. Ich zeige den Kopfstand und Mausi macht die Brücke. Dann dürfen wir abtreten.

      Diesmal ist es anders.

      Mausi ist im Internat und ich lieg‘ bereits im Bett. So richtig einschlafen kann ich nicht. Es knistert irgendwie im Haus, fast wie Weihnachten, nur mit Amselpfeifen.

      Allein in meinem Zimmer zu sein, das bin ich gewöhnt. Aber um acht Uhr abends im Bett, das ist mir fremd. Zwar hab‘ ich keine Angst wie sonst, wenn ich ganz allein im Haus bin und meine Eltern irgendwo bei Freunden eingeladen sind. Anni ist dann auch häufig weg, weil sie mit ihrem Freund, einem Lastwagenfahrer, entschlüpft. Das darf sie eigentlich gar nicht, das haben ihr meine Eltern verboten. Sie tut es aber trotzdem und ich habe ihr das Ehrenwort gegeben, sie nicht zu verpfeifen.

      An solchen Abenden überkommt mich häufig die Angst.

      Ich hol‘ mir dann meinen blechernen Spielzeugpanzer mit den Gummiraupen ins Bett und lass‘ ihn über das Kopfkissen fahren. Ich kann ihn nur fühlen, das kalte Blech, und hör‘ sein Geratter. Er ist mit einem Schlüssel zum Aufziehen. Sehen kann ich ihn nicht, nur ein bisschen, wenn der Mond durch einen Spalt zwischen den Vorhängen hereinscheint.

      Und dann kommt immer der Moment, wenn die Angst in mir hochkriecht.

      Dann hör‘ ich mit dem Panzerspielen auf und horch‘ hinein in den dunklen Raum. Da ist dann schon mein Pyjama am Hals feucht und mir wird kalt. Leider steigert sich das, bis ich mir die Bettdecke komplett über den Kopf ziehe.

      Die Zeit wird jetzt furchtbar lang.

Grafik 8

       Erstkommunion. Mit Mutter, Mausi & Tante Bärbele und der ersten Uhr (1958).

      Das Tante Bärbele hat mir ein Sprücherl gelernt, das ich vor dem Einschlafen leise sprechen soll.

       Mein Herz ist klein,

       kann niemand hinein

       als du mein liebes Jesulein.

       Bitte beschütz‘ meine Eltern, Mausi, Onkel Hans und mich.

      Ich hab das Sprücherl kürzlich selber erweitert mit ... und beschütz‘ auch den Herrn Lehner. Der Onkel Hans ist mein Taufpate, der Bruder meiner Mutter, und bald nach meiner Taufe an einer Blutvergiftung gestorben. Das hat mir das Tante Bärbele erzählt. Der Herr Lehner hat unter uns im Haus gewohnt und ist letzten Herbst plötzlich gestorben. Der war immer recht nett zu mir, deshalb ist der jetzt mit von der Partie.

      Hie und da fährt ein Erzzug die Pfaffermair-Höh entlang. Das beruhigt mich für kurze Zeit. Wenn meine Eltern dann irgendwann in der Nacht zurückkommen und durch mein Zimmer in ihr Schlafzimmer stolpern, dann ist es mit einem Schlag mit der Angst vorbei. Ich stelle mich schlafend und bin sehr froh, dass der ganze Spuk vorüber ist.

      Wenn ich morgens aufwache, hab‘ ich die Nacht beinah‘ vergessen und nur der Panzer neben meinem Kopf erinnert mich ganz kurz daran.

      Heute hab‘ ich keine Angst, denn alle sind da.

      Da höre ich durchs geschlossene Fenster ein Auto vorfahren und eine Wagentür. Die Decke hab‘ ich vorsichtshalber schon bis über die Nase gezogen und warte nur noch auf den Augenblick, dass meine Mutter an meinem Bett vorbei in Richtung Wohnzimmer stürmt.

      Das tut sie auch gleich.

      Sehen kann ich sie nicht, nur hören und riechen. Ihre Schuhe hämmern an mir vorbei, gefolgt von einem Duftschwall.

      Im Vorzimmer werden die Gäste begrüßt.

      Ziemlich leise diesmal, denk‘ ich, ist es vielleicht nur einer?

      Gesagt hat mir niemand, wer heute abends eingeladen ist, aber ich hab‘ auch nicht danach gefragt. Den Kopfstand muss ich heute wohl nicht machen. Ich tu‘ das eigentlich ziemlich gern, besonders auch, wenn Mausi mitmacht mit ihrer Brücke. Mein Vater schaut dann immer recht glücklich drein. Auch meine Mutter, die aber schnell die Gäste wieder aus unserem Zimmer hinaus bugsiert. Das ist mir ganz recht, weil unsere Gäste dann häufig anfangen zu fragen, ob es uns in der Schule gut geht. Diese Fragen mag ich überhaupt nicht. Mausi mag sie noch weniger. Ich mach‘ die lange Nase zur Tür hin und Mausi streckt die Zunge raus, natürlich erst, wenn sie draußen sind. Wir kichern danach noch eine Weile, oft bis uns die Tränen