ich bin mir sicher. Dafür haben sie aber einen ziemlichen Zirkus veranstaltet, meine Eltern, Anni inklusive. Dann höre ich das übliche Flaschenentkorken und Gemurmel, das aus der Ferne des Wohnzimmers zu mir dringt. Das habe ich eigentlich ganz gern. Die Angst bleibt so draußen. Nicht einmal den Erzzug brauche ich dann zum Einschlafen, auch nicht den braungefleckten Panzer.
Irgendwann in der Nacht wache ich auf.
Die Stimmen aus dem Wohnzimmer sind laut geworden. Die lauteste ist die meines Vaters. Er brüllt ja fast so wie mit seinen schwerhörigen Patienten. Dazwischen höre ich auch immer wieder die Stimme meiner Mutter.
Schluchzt sie oder lacht sie?
Manchmal hör‘ ich auch eine fremde Stimme dazwischen, fast leise, heiser, von der meines Vaters übertönt. Meine Hand sucht den Panzer. Da ist er. Der darf jetzt neben mir auf dem Kissen schlafen.
Etwas später, vielleicht sogar viel später, werde ich wieder wach.
Mein Vater rauscht vom Schlafzimmer an meinem Bett vorbei ins Vorzimmer, wo unser Telefonapparat steht.
Wohl wieder ein Notfall, ich setze mich auf.
Das ist schon oft vorgekommen, dass ihn jemand in der Nacht braucht. Das Klingeln habe ich wahrscheinlich überhört. Trotzdem kommt mir alles diesmal anders vor. So laut trampelt mein Vater normalerweise nicht durch mein Zimmer. Außerdem hat er nicht einmal die Tür zum Schlafzimmer geschlossen.
Die Mutter schnarcht!
Das hört sich direkt lustig an, sowas hat sie bisher nie getan!
Alle schön beisammen, denk‘ ich mir und leg‘ mich wieder zu meinem Panzer. Links aus dem Schlafzimmer höre ich meine Mutter schnarchen, rechts im Vorzimmer meinen Vater telefonieren.
Dann schießt er wieder an mir vorbei zurück ins Schlafzimmer.
Ein bisschen komme ich mir vor wie in einem Zugabteil. Zugegeben, oft habe ich das nicht erlebt, nur einmal vor ein paar Wochen, als Mausi und ich zum ersten Mal allein nach Würzburg gefahren sind, mit dem Zug. Da saßen wir zusammen mit ein paar fremden Leuten in einem Abteil, ohne Eltern. Dauernd sind irgendwelche Menschen vor dem Abteil hin und hergegangen, wie jetzt mein Vater. Mausi ist zwölf, da müssen nicht unbedingt Erwachsene dabei sein, haben meine Eltern gemeint. War ja auch ein richtiges Abenteuer, ich ein Achtjähriger, von Linz mit dem Zug nach Würzburg zum Tante Bärbele! Die stand dann auch am Bahnsteig und hat uns abgeknutscht.
Jetzt höre ich meinen Vater immer wieder den Namen meine Mutter rufen.
Ich steige aus dem Bett und blicke durch die halboffene Tür hinein. Die Mutter schnarcht und der Vater schüttelt sie.
Ich drücke mich gegen die Türleibung.
Mein Vater schluchzt.
So hab‘ ich ihn noch nie gesehen, mir wird ganz anders. Dann hör‘ ich Lärm von unten.
Mein Vater stürzt an mir vorbei ins Treppenhaus, ich hinterher. Da kommen zwei Männer mit einer Tragbahre die Stiege herauf. Auf der Bahre liegen Decken, graue Decken mit roten Kreuzen. Ich kenne solche Decken, sie sind eklig, kratzen furchtbar und riechen komisch. Mein Vater winkt die zwei Männer an mir vorbei und geht voraus ins Schlafzimmer. Wortlos stellen sie die Trage ab.
Dann fragen sie, was los ist.
Mein Vater sagt sowas wie Schlaftabletten.
Welche? fragt einer der beiden Träger.
Wieviel? fragt der andere.
Wo ist die Schachtel? fragt der erste, und zieht die Schublade des Nachtkästchens heraus. Der andere leert den Papierkorb auf den Teppich und wühlt herum.
Da spring‘ ich aus der Deckung.
Wenn meine Mutter etwas nicht mehr braucht, dann steckt sie es in den Ofen, auch im Sommer, rufe ich.
Im selben Moment bin ich schon beim Kachelofen, der neben dem Bett in der Ecke steht, und öffne die silbergestrichene Ofentür. Einer der Träger greift hinein und schmeißt den Inhalt auf den Boden.
Da ist die Schachtel, sagt er. Veronal - leer.
Meine Mutter schnarcht inzwischen im Bett daneben. Jetzt wird sie herausgehoben, auf die Bahre gelegt und zugedeckt. Das Gesicht bleibt frei. Die schwarzen Haare fallen ihr in die Stirn, die Augen sind geschlossen.
Mein Vater streicht ihr die Haare zurück und nimmt mich bei der Hand. Dann begleiten wir die beiden Träger nach unten. Im Halbstock vor der Klotür müssen sie absetzen, um die Kurve zu kriegen. Ich bin nahe an Mutters Gesicht. Es ist wie Wachs. Sie schnarcht noch immer. Das beruhigt mich.
Unten an der Haustür nimmt mich Anni in Empfang. Sie hat einen Schlafmantel an, aus weichem Stoff, gegen den ich mich drücke. Die Hintertür vom Rettungswagen ist weit offen. Da hinein schieben sie die Bahre. Mein Vater steigt mit ein.
Ich sehe noch das Blaulicht, wie es unten am Dorfplatz verschwindet. Anni geht mit mir zurück und bringt mich ins Bett. Eine Weile bleibt sie neben mir sitzen, dann schleicht sie sich hinaus. Ich glaub‘, sie hat geweint. Aber sicher bin ich mir nicht.
Mir fallen die Augen zu.
Als ich in der Früh aufwache, steht der Vater neben meinem Bett. Mit Anni essen wir gemeinsam in der Küche. Das war noch nie da. So richtig sprechen tun beide nicht. Ich frage auch gar nicht, was war und warte einfach, was kommt.
Dann sagt mein Vater, dass die Mutter im Spital ist und wir sie jetzt besuchen fahren. Ihr geht es wieder besser.
Das macht mich richtig fröhlich.
So schnell habe ich mir die Lederhose noch nie angezogen. Die muss ich auch gleich wieder ausziehen, sagt Anni. ... Da, die lange Hose ist besser ... und gibt mir die kratzige graue.
Im Auto stehe ich wie immer hinten und lehne mich an die vordere Sitzbank. Ich bin ganz nah am Ohr meines Vaters und spüre sogar seine Haare dann und wann an meiner Nase kitzeln.
Er hat die Hände am Steuer.
Die lederne Visitentasche liegt neben ihm, am Mittelsitz, wie immer, wenn er seine Patienten besucht. Allzu viel reden wir nicht am Weg ins Spital, aber das mag ich diesmal.
Ich fühle mich gut und geborgen. Die Sonne scheint und sein Vorderfenster ist halb offen.
Im Spital laufen wir durch lange Gänge, bis wir zu einer Tür kommen, die die Nummer Sechs trägt. Leise öffnet mein Vater die Tür und wir treten ein. Da finden wir meine Mutter im Bett. Alles ist weiß, die Wände, die Tür, das Bett. Ihr schwarzes Haar ist wieder glatt und geordnet, sie ist wach und blickt uns an. Das Bett ist ziemlich hoch, sodass ich mich auf die Zehen stellen muss, um sie zu sehen.
Sie sucht meine Hand und drückt sie.
Jetzt ist alles wieder gut, denke ich mir. Mein Vater steht am Fußende. Niemand sagt etwas. Beide weinen ein bisschen. Ich schau‘ inzwischen aus dem Fenster.
Ich möchte schnell wieder weg, mit meinem Vater. Aber nur, wenn er nicht flennt. Ich glaube, dass er das gemerkt hat, denn nach ein paar Worten gehen wir wieder. Beim Rausgehen sehe ich Blumen am Nachtkästchen. Sie erinnern mich an unseren Garten.
Dort will unbedingt hin.
Jetzt, sofort.
Die Eltern (Weihnachten 1955)
August 1958 - Neuanfang
Heut‘ kommt eure neue Mutter, sagt Tante Resi.
Ich bin gern bei Tante Resi in Wels. Mausi auch, glaube ich. Vor der Hausfront fahren ständig Autos vorbei. Man hört sie aber nur ganz leise durchs Fenster, das zur Straße geht. Da stehe ich manchmal, hinterm Vorhang, und schau‘ hinunter.
Ich