Maxi Hill

Gefangen auf der Insel vor dem Wind


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und ich trage daran die Schuld. Nur daran. Nicht daran, was in den Jahren hier im fremden Land, hier auf dieser gottverlassenen Insel, hier mit Mads und mit seinem Vater Villads, mit dem ständigen Wind und der latenten Angst vor der Flut aus mir geworden ist.

      Das alles und noch viel mehr steht jetzt schwarz auf weiß auf beinahe dreihundert Seiten. Ob es mir hilft, mit mir selbst ins Reine zu kommen, wenn geschehen ist, was geschehen muss, das weiß keiner. Ich kenne ein gutes Versteck für Papier, aber ich werde es nicht brauchen. Mads hat keinen Sinn für Lesestoff. Wenn er etwas kann, dann ist es, den Tieren und mir seinen Willen aufzuzwingen.

       Nicht mehr lange mein Freund. Nicht mehr lange…

      Ich werde es tun. Bald. Mein Plan ist gut und er verspricht viel. Auf dieses Eiland wird es ohnehin nie wieder einen Menschen verschlagen. Nie wieder. Darin hat Mads — darin hatte schon sein Vater Villads — vermutlich Recht. Das Klima leidet, und die Vadehavsoer, wie man hierzulande sagt, werden verschwinden. Alle. Und Mads‘ Überreste werden mit Pedersand untergehen.

      Ich werde mir jetzt einen Cognac genehmigen und dann zu Bett gehen. Wir schlafen getrennt. Nur wenn Mads betrunken ist und nicht mehr weiß, wie es zwischen uns steht, kommt er angekrochen. Bisweilen schlägt er dann mit der Tür und stampft siegessicher auf. Dann macht er nicht lange Federlesen.

      Ein Cognac reicht nicht. Gleich wird er mich missbilligend anschauen und ich werde schadenfroh zurückgrinsen. Warte nur ab, du wirst dich noch wundern.

      Was also macht es aus, wenn ich seinen Cognac leere. Er braucht ihn bald nicht mehr…

      Wenn geschehen sein wird, was geschehen muss, werde ich sein Boot bei Flut hinaus aufs Meer steuern und dort wie herrenlos treiben lassen. Ich werde jammern, wenn jemand kommt und es zurückbringt. Ich werde zetern, er sei ertrunken. Ihn aber werde ich hier auf dieser einsamen Insel, auf der niemals wieder einer leben möchte, in Tiefschlaf bringen, ihn ersticken und anschließend vergraben. Und niemand wird es je erfahren…

      Aber was, wenn er das Boot nicht zum Ufer bugsiert, weil er nie mehr etwas zu meinem Gefallen gemacht hat in letzter Zeit. Nie mehr.

      Ich grabe meine verschüttete Intelligenz heraus, die mit den Jahren soweit gediehen ist, dass sie neue Zweifel gesät hat: Was, wenn jemand Lunte riecht, wenn sie mit Spürhunden kommen…?

      Verflucht sei das Boot. Besser wäre gleich die Jauchengrube, in die steckt kein Hund seine Nase, und Spuren hinterlässt eine Leiche auch nicht…

      EINE OSTDEUTSCHE STADT – IM MAI 2008

      Die Schatten auf der Veranda werden länger. Doktor Benjamin Winter sitzt in die Zeitung vertieft mit dem Rücken zu seiner Frau Ida. Vermutlich war es ihm heute in der UNI nicht geglückt, sein Tagesblatt zu lesen.

      Ida läuft in der Küche hin und her, setzt Wasser für den Tee auf und garniert Wurst, Schinken und Käse auf eine Platte. Obwohl sie beide ganz verschiedene Bedürfnisse haben, hält sie verbissen an den alten Ritualen fest. Früher mit den Kindern haben sie stets zur selben Zeit gegessen, und es waren angenehme Minuten zu viert am Tisch mit liebvollen Gesprächen über den Tag eines jeden. Heute erfährt sie kaum noch etwas davon, wie Bens Tag verlaufen ist, und ihn interessiert es nicht, wie ihr Tag war. Vermutlich bringen das Alter und die Gewohnheit mit sich, dass man gleichgültig wird. Womöglich hat er nicht mehr Fantasie, als zu glauben, sie sitzt ohnehin nur stundenlang am Computer und schreibt. Es interessiert ihn nicht, was dazu gehört, einen Roman zu veröffentlichen.

      Sie fragt sich seit Langem, wann sich diese Gleichgültigkeit zwischen sie geschoben hat. Sie hat in der Regel eine gute Wahrnehmung, mitunter eine viel zu gute, als dass sie das Leben kaltlassen könnte. Es kann nur so schleichend geschehen sein, dass auch sie es nicht gespürt hat — jedenfalls nicht sofort. Als es ihr dann bewusst geworden ist, beschloss sie, wenigstens die guten alte Rituale nicht zu vernachlässigen, ihrer Ehe zuliebe. Auch wenn daraus keine neue Leidenschaft erwächst, sie wird ihren Teil Verantwortung leben, so deprimierend es auch ist, wenn der Partner nie Anteil am Erfolg wie auch am Misserfolg nimmt. Immerhin gab es einmal die übergroße Liebe. Diesen Teil von sich, von ihrem Leben, will sie nicht verlieren. Man verliert in dieser Zeit schon viel zu viel an Werten, die mal etwas bedeutet haben. Die Zeiten werden immer feindseliger, fast bedrohlich. Vermutlich steht davon wieder allerhand in der Zeitung, weshalb sich Ben nicht losreißen kann, obwohl sie schon lange mit dem Geschirr klappert.

      Ihr Blick fällt auf die Zeitung vor Bens Brust. Er hat seinem Stuhl eine leichte Drehung gegeben, vermutlich, um die letzten Sonnenstrahlen noch auszunutzen. Über die Blätter hinweg spürt sie seinen Blick, der sofort verschwindet, sobald ihre Augen ihn finden.

      Der Wasserkessel sprudelt über. Sie gießt das heiße Wasser über die Teebeutel in zwei Gläser — sie trinken seit Jahren verschiedene Teesorten, genau wie sie verschiedene Sorten Kaffee bevorzugen. Ben tritt fast lautlos ins Zimmer. Schwungvoll landet die Zeitung auf dem Wohnzimmertisch.

      »Der Artikel steht drin«, sagt er und setzt sich auf seinen Essplatz. Fast gelangweilt wandert sein Blick über Teller und Platten. Beinahe mechanisch schiebt er das Schälchen gemischten Salat beiseite. Sie weiß, dass er kein Grünzeug mag, aber sie achtet seit Jahren darauf, dass er genug Vitamine und wichtige Ballaststoffe zu sich nimmt.

      »Hat sie ganz gut geschrieben.« Ben räuspert sich umständlich, was bei ihm heißt, er habe es noch vergessen zu erwähnen.

      Ida schaut ihn an, fragend, aber sie fragt nicht mehr. Wenn er ihr etwas erzählen will, soll er es tun, ohne dass sie ihn dazu auffordert. Es ist ohnehin besser, wenn sie die große Politik unerwähnt lassen. Sie ändern daran nichts, reiben sich nur auf. Erst recht, seitdem ihr Sohn bisweilen mit ziemlich verqueren Einstellungen bei ihnen aufkreuzt und damit die Familienidylle erheblich stört.

      »Woher kanntest du eigentlich die Geschichte um diesen …, der der Euthanasie zum Opfer gefallen ist? «

      »Wie? Ich meine, woher weißt du…?«

      Ben hat seit Jahren keines ihrer Bücher mehr gelesen. Seine Argumente sind zwiespältig. Zum Teil leuchten sie ein, zum Teil klingen sie wie Ausreden.

      »Der Artikel«, sagt er mit einer Spur von Vorwurf und dreht seinen Kopf wie beiläufig zur Zeitung hin.

      »Ach«, sagt sie. »Ist er heute drin?«

      »Eigentlich kannst du zufrieden sein. Die Dame schreibt doch sehr wohlwollend.«

      »Okay. Ich lese ihn nachher. Jetzt essen wir erst einmal in Ruhe. «

      Wiedermal gibt sie die Gelassene, die gute Hausfrau, die so tut, als gebe es nichts Wichtigeres für sie als sein Wohl, bestenfalls beider Wohl. In Wahrheit brennt sie darauf, zu lesen, was die Presse schreibt.

      Solange sie isst, denkt sie darüber nach, warum sich das Leben immer wiederholt und warum sie nichts dagegen tun kann. …hat sie gut geschrieben…kannst du zufrieden sein.

      Diese Worte fliegen durch ihren Kopf und finden keinen Widerhall. Warum kann er alle Menschen richtig einschätzen, nur für sie findet er nie die passenden Worte. Wie schön wäre es gewesen, er hätte nur ein Wort geändert. Hast du gut gemacht.

      Dafür hätte er leider das Buch erst einmal lesen müssen.

      In den ersten Jahren ihrer Autorenkarriere war sie bisweilen frustriert, weil sie den Eindruck hatte, von ihm alleingelassen zu werden. Unterbewertet. Aber es lag noch der Glaube in ihr, dass sich daran etwas ändern würde, sobald sie erfolgreich sei. Sie hatte sich geirrt. Später wollte sie ihn nichtmehr darum bitten, eines der Bücher mal zu testen, bevor es veröffentlicht wird. Was man erzwungenermaßen tut, wird mit gleicher Münze bezahlt. Das wollte sie sich ersparen. Also legt sie lediglich jedes fertige Buch offen im Arbeitszimmer hin, lässt es zwei Tage liegen und legt es dann, zumeist von ihm unberührt, in den Schrank. Umso berührter ist sie an diesen Tagen in ihrem Gemüt. Bisweilen denkt sie, sie könnte den erfolgreichsten Bestseller landen, ohne ein Wort von ihm zu hören. Kein Wunder, dass ihr dabei selbst die Puste ausgegangen ist und sie sich im Selbstmitleid lange Zeit gut gefiel.