Maxi Hill

Gefangen auf der Insel vor dem Wind


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von den Urlaubsnächten mit Ida zu verwirklichen begonnen. In Ida indes bleibt etwas zurück, was sie sich trotz höchster eigener Zufriedenheit, nicht erklären kann. Noch niemals zuvor hatte sie Gedanken wie diese, wenn sie sich geliebt haben. Warum stellt sie sich heute ein Szenario vor, das so weit weg liegt wie Kimbuktu.

       Wie muss es sein, ein ungeliebter Mann zwingt dich zu dem, was du Ben freiwillig gegeben hast. Und was wäre, du müsstest unfreiwillig empfangen, was du von einem Scheusal zu empfangen befohlen bekommen hast?

      In den meisten Jahren zuvor hatte sie bisweilen einen inneren Widerstand gegen Bens unverhofften Ausbruch gehegt, weil sie seine Liebe bei Tage vermisst hatte. Das war zwar Fakt, aber sie hat trotzdem seinen Willen zugelassen, was als einvernehmlich gilt. Freilich wäre sie glücklicher, seine Liebe außerhalb des Bettes deutlicher zu spüren, gerne würde sie auch abseits jeglicher körperlicher Erwartung von ihm Worte geflüstert bekommen, die ihr schmeicheln. Daraus dürfte er dann gerne neue Sehnsucht schöpfen, neue Erwartung an sie, neue Gier.

      Sie lieben sich noch einmal, nicht mehr so heftig, mit mehr Ruhe und Tiefe, dann schläft Ben ein. Sie bleibt wach wie stets, wenn sie erregt ist, egal wovon.

      Auf einmal ist es ihr, als sterbe ihre eigene Sehnsucht, als bliebe ihr Körper leer und ihr Herz kalt und verlassen zurück.

      In ihre vielen Gedanken mischt sich wie so oft die ernüchternde Erkenntnis, dass Bens Hingabe nicht das bedeutet, was sie braucht. Die Liebe eines Mannes ist nur die Belohnung der Frau für das, was sie ihm schenkt. Alles, was nach Liebe duftet, dient nur diesem einen Ziel. Ist das erreicht, ist es vorbei mit lieben Worten, mit tausend Schwüren. Erst recht mit jeglichem Verständnis für das, was die Frau an seiner Seite anders macht, anders denkt als er.

      Ein Urlaub wie dieser kann schön sein, aber die Zeit ihrer grauen Einsamkeit tief in ihr drin wird wiederkommen und dann hilft ihr nur, die Zähne zusammenzubeißen und sich in ihre Texte zu vergraben, die Enttäuschungen zu vergessen und sich einzubilden, sie lägen einzig an ihrer eigenen übertriebenen Erwartung an die Liebe. Nur so hat sie die Jahre überstanden, und nur so wird sie die kommenden überstehen.

      Bei Tage roch die Luft nach Weite, nach Schlamm und nach Fisch. Nur an den Koppeln stach der bekannte Duft nach frischem Gras heraus. Dennoch waren ihr die fremden Dünste nicht unangenehm, wie sie fremde Dünste in der Stadt gewöhnlich empfindet.

      Jetzt hat sich etwas verändert. Wind heult ums Haus und es scheint sogar, dass Regen an die Fenster peitscht. Unter diesem dicken Dach kann sie die Geräusche nicht so gut ausmachen wie zuhause in ihrer Wohnung, wo sie jeden Mucks vom anderen unterscheidet. Zudem liegen die Fenster hier oben so weit hinter der vorspringenden Wulst aus Reet, dass es die Regentropfen schwerhaben könnten.

      Ida kann jetzt kein Auge zumachen. Sie lauscht in die Nacht. Dabei geht ihr merkwürdigerweise durch den Kopf, dass sie den Namen der Leute gar nicht kennen würde, wäre er nicht auf den Stein geritzt worden. Von der wortkargen Frau haben sie ihn schließlich nicht erfahren, und in ihrem Glückwunschschreiben stand nur der Name der Insel. Sie denkt an den Anruf von gestern: Fritsch oder ähnlich hatte der Anrufer gesagt. Aber ein F stand nicht auf dem Stein, nur M. und H. Peterson.

      Fast schläft sie darüber ein. Nicht lange, und sie hat das Gefühl, sie liege auf schwankenden Schiffsplanken. Das kann kein Wind mehr sein, denkt sie, und greift behutsam nach Ben. Der aber schläft tief und befriedigt, wie Männer danach wohl alle sind.

      Auf nackten Füßen schleicht sie zum Fenster. Der Regen verhindert jede Sicht in die Ferne. Gerade noch kann sie schleierhaft erkennen, wie sich der Busch hinterm Haus und der Baum daneben gespenstisch biegen. Wenn sie jetzt Ben wach macht, lacht er sie aus.

      Irgendetwas schlägt hart auf. Immer wieder. Sie schleicht die schmale Treppe hinunter. Irgendwo muss ein Fenster offenstehen, sie spürt den stürmischen Atem der See. Und sie fröstelt sogar, ob vor Angst oder ob es wirklich so kühl geworden ist, kann sie nicht sagen.

      Im Halbdunkel stolpert sie über einen Gummistiefel, der, wer weiß woher herausgefallen sein muss. Am Abend stand da keiner. Irgendwann weckt sie Ben, versucht es jedenfalls. Noch im Halbschlaf nimmt er sie in seine Arme, zieht sie unter seine Decke und presst seinen Körper, der noch nicht wieder bekleidet ist, an ihre Seite.

      »Schlaf jetzt«, murmelt sein Mund, der nur ganz flüchtig einen Kuss auf ihre Schläfe drückt. »Da hat doch jemand von Sturm geredet«, hört sie ihn lallen, und sie fühlt, wie er sie fester an sich drückt, dass sie seine Männlichkeit spürt: »Ich habe alles niet- und nagelfest gemacht.« Kaum sind seine Worte vom Kissen verschluckt, wird seine Arm auf ihrer Lende schwerer und sein Atem in ihrem Nacken noch tiefer, noch stärker als zuvor. Seit Langem liegen sie wieder wie früher zusammen in einem Bett. Sie rundgerollt wie ein Baby, er mit seinem Bauch an ihrem Rücken, was für beide etwas Erotisches hätte, wäre Ben nicht zu erschöpft von der Liebe.

      Sie ergibt sich seinem Wunsch, still zu halten, und sie hofft, schnell einschlafen zu können. Diese Bauernhäuser stehen seit ewiger Zeit und trotzen den Unbilden der Natur. Warum sollte heute etwas passieren, ausgerechnet jetzt, wenn sie hier sind. Das wäre in der Tat nicht logisch, und logisch war sie noch immer.

      Bevor sie langsam hinüber driftet, taucht eine Erinnerung aus längst vergessener Kinderzeit nebelhaft in ihr Gedächtnis. Es waren ähnliche Worte, wie sie ihre Mutter gebrauchte, wenn die kleine Ida bei einem Gewitter ins Bett der Mama gekrochen kam und sich fest an sie kuschelte: Dir kann gar nichts passieren. Ich bin ja bei dir. Als ob ein Blitz nur dort einschlägt, wo es einsame Kinder gibt. Als ob man einen Donner weniger hört, wenn die Mama neben einem liegt.

      Merkwürdig, dass sie sich gerade jetzt wieder wie ein Kind fühlt, das in Zärtlichkeit gehüllt von allen Sorgen enthoben werden soll. Wann gab es das zuletzt? Nicht von Ben, seit Langem nicht mehr.

      DIE STURMFLUT

      Ida glaubt, das Unterbewusstsein hat sie geweckt. Sie zwingt sich, die Augen zu öffnen und miteinander zu verbinden, was die Ohren längst hören aber der Kopf nicht wahr haben will. Mit großem Getöse rüttelt der Sturm am Haus. Sie stemmt sich gegen ihre Angst, weil sie stark sein will. Ben würde anderenfalls wieder in seine Art des Kleinredens verfallen, oder sie der Panikmache schelten, und weg wäre die gerade zurückgewonnene Harmonie.

      Noch wehrt sie sich gegen klares Denken, das nur bedrohlich sein würde. Im Dämmerzustand so nah bei Ben lässt es sich in der Tat leichter verharren. Wenn er doch nur bald aufwachen würde. Sie muss sich der Lage stellen, in der sie ist.

      Der Wind scheint ein Vielfaches stärker zu sein als am Abend. Sie lauscht in den Morgen zwischen Bens ziehendem Atem und dem heulenden Sturm. Ein heftiger Schlag, ein Poltern irgendwo im Haus treibt sie in die Höhe. Ben spürt ihre Bewegung, aber er grunzt nur undeutlich und möchte sie mit einem kurzen Griff dazu bewegen, noch eine Stunde zu schlafen. Das kann sie nicht. Sie schleicht zum Fenster, das viel weniger dicht zu sein scheint, als behauptet, weil die Vorhänge sich bewegen. Der blaue Himmel des Vortages ist unsichtbar und tief ergraut. Der würzige Duft der Wiese nach Schafgarbe, das Wogen wippend-rosa Köpfe der Grasnelken und das Zittern der feinen gelben Blüten vom Hornklee sind weggespült vom vielen Regen. Alles versinkt im diffusen Dunst einer Macht, die sich ihrer Erwartung an einen Tag voller Innigkeit mit Ben, wenigstens aber voller Eintracht, entgegenstemmt.

      Beim Anblick der Bilder um sie herum pfeift sie auf Ben und seine Müdigkeit, sie muss hinunter, schauen, was los ist. Völlig unverständlich für eine Frau aus der Stadt, denkt sie in diesem Moment an die Tiere fremder Leute, die ihr als einzige Pflicht anvertraut wurden. Ob sie trocken geblieben sind in ihrem Holzverschlag? Gestern hat sie bemerkt, wie der Wind durch die Ritze weht. Und gestern war er nicht halb so heftig. Bei diesen Dingen, in denen Verantwortung zu tragen ist, war sie das ganze Leben der Vorreiter, ehe Ben überhaupt eine Notwendigkeit für sich erkannt hat. Zumeist hatte er ihrem Drängen nur nachgegeben und lustlos Vorkehrungen getroffen, die nur sie für nötig erachte, wie er zu sagen pflegt.

      Sie schlüpft in Jeans und Pullover und steigt die schmale Treppe hinunter. Es knackt im alten Gebälk, aber das kennt sie noch aus der Kinderzeit.