Rainer Nahrendorf

Die Chancengesellschaft


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Region und ihrem ökonomischen Sachverstand imponieren.

      Die Zeit von 2002 bis 2005 hätte meinen politischen Tod bedeuten können, sagt Nahles im Rückblick. Aber ihre Partei-Karriere endet nicht, sondern gewinnt an Tempo. Sie wird mit einem Spitzenergebnis wieder in den Parteivorstand gewählt und rückt im Dezember 2003 in das Parteipräsidium auf.

      Ihre innerparteiliche Position festigt Andrea Nahles, als sie der damalige SPD-Chef Gerhard Schröder mit der Entwicklung des Konzeptes der Bürgerversicherung beauftragt. „Ich bin nur so weit gekommen, weil ich konzeptionell, weil ich politisch inhaltlich gearbeitet habe“, urteilt Andrea Nahles. Das sieht auch ein Teil der Medien so, wenn auch mit einem alarmierenden Unterton. „Lange nichts gehört von Andrea Nahles. Jetzt ist sie plötzlich wieder da − und gilt gar als Hoffnungsträgerin der SPD. Denn die ehemalige Juso-Chefin hat ein neues Amt: Sie ist Leiterin der „Projektgruppe Bürgerversicherung“, schreibt die FAZ Mitte Mai 2004 unter der Überschrift: „Eine linke Sirene schreckt die Reichen“. Zwar fehlt in dem Konzept, das die Arbeitsgruppe Ende August 2004 vorlegt, die Einbeziehung der Mieteinkünfte in die Beitragspflicht, aber zum Reichenschreck taugt es immer noch. „Es ist politisch gewollt, dass diese Kapitaleinkünfte zur Finanzierung der Krankenversicherung herangezogen werden“, erläutert Nahles gegenüber verdi.de. „Denn die Bürgerversicherung ist auch eine Antwort auf die demografische Entwicklung: Wenn wir keine zusätzlichen Finanzierungsquellen finden, wird der Beitrag als Folge der Altersstruktur unserer Gesellschaft in den kommenden Jahren deutlich steigen. Wir halten es für den besten Weg, bei den Kapitaleinkünften anzusetzen. Denn damit trifft man diejenigen, die wirtschaftlich gut dastehen.“ Ihre Rolle als konzeptionelle Vorarbeiterin füllt Nahles auch als Leiterin einer Projektgruppe zu Mindestlöhnen und einer Arbeitsgruppe zur Leiharbeit aus. „Ich habe als Präsidiumsmitglied politische Positionierungen meiner Partei gründlich und erfolgreich vorbereitet“, sagt Andrea Nahles mit leichter Verärgerung, weil dies in allen Berichten über sie unterschlagen werde.

      Zusammen mit Wolfgang Thierse macht sie sich im Sommer 2007 auch an die Überarbeitung des Entwurfs für das neue Grundsatzprogramm der SPD, das im Oktober 2007 verabschiedete Hamburger Programm. Der Entwurf sei garantiert nicht mehrheitsfähig gewesen. Nahles schreibt die Einleitung sowie die Kapitel Europa, Arbeit und Soziales teilweise neu. Das Grundsatzprogramm schärft das Profil der SPD als der linken Volkspartei.

      Andrea Nahles ist inzwischen in den Bundestag zurückgekehrt. Bei der vorgezogenen Bundestagswahl 2005 hat sie die rheinland-pfälzische SPD auf den sicheren Platz vier der Landesliste gesetzt. Als Ende 2009 ihr Buch „Frau, gläubig, links“ erscheint, kommentieren viele Medien, das Buch diene der Imagekorrektur. In den Leitmedien sei Nahles auf die Rolle der ewigen SPD-Linken und Ränke schmiedenden Königsmörderin festgelegt. Sie sei über die falschen Zuschreibungen genervt. Als Königsmörderin sieht sie sich in der Tat nicht.

      Als im Oktober 2005 die Ministerposten in der großen Koalition verteilt werden, gibt Andrea Nahles ihre Kandidatur für das Amt der Generalsekretärin bekannt. Alle sich damals aus dem personellen Tableau der Partei ergebenden Kriterien treffen auch auf sie zu: sie ist jung, weiblich und links und hat zudem mit der Bürgerversicherung bewiesen, dass sie konzeptionell arbeiten kann. Als sie ihre Kandidatur anmeldet, sei keine andere Kandidatur auf dem Markt gewesen, korrigiert Nahles die Darstellung des Ablaufes in einigen Medien. Details will Nahles nicht nennen, solange bestimmte Politiker noch in politischen Funktionen aktiv sind.

      Ihre Kandidatur sei positiv in der Partei aufgenommen worden. Sie habe für diese Kandidatur auch eine klare Mehrheit im Parteivorstand bekommen. Erst eine Woche später habe der damalige SPD-Vorsitzende Franz Müntefering über eine Ticker-Meldung verbreiten lassen, dass er den SPD-Bundesgeschäftsführer Kajo Wasserhövel bei einer Kandidatur für das Amt des Generalsekretärs unterstützt. Wasserhövel habe zwar als guter Organisator gegolten, aber als Repräsentanten der Partei in der Öffentlichkeit hätte ihn kaum jemand gesehen, erst recht nicht als eine eigenständige Stimme der Partei gegenüber Franz Müntefering. Ein solches Gegengewicht halten viele in der SPD für unverzichtbar, weil Müntefering Vizekanzler der großen Koalition werden sollte und dadurch besonders stark in die Koalitionsdisziplin eingebunden gewesen wäre. Die sich anbahnende Eskalation ist für Nahles nicht erkennbar, schließlich hat sie mit Müntefering und Wasserhövel bislang gut zusammengearbeitet. Sie sieht ihre Kandidatur als ein Angebot und eine Ergänzung, eine deutliche Mehrheit im Parteivorstand teilt ihre Perspektive. Versuche, den heraufziehenden Eklat in letzter Minute zu verhindern, scheitern.

      In die Abstimmung im Parteivorstand über die Nominierung des Generalsekretärs geht sie nicht mit dem Gefühl zu gewinnen, sondern knapp zu verlieren. Das Ergebnis überrascht sie: der Parteivorstand schlägt sie mit einer Mehrheit von 23 zu 14 Stimmen als Generalsekretärin vor. Die überdeutliche Mehrheit signalisiert, dass sich Unzufriedenheit in der Partei ein Ventil gesucht hat. Andrea Nahles kann sich über ihren Triumph nicht eine Sekunde freuen. Ihr ist sofort klar, dass dieses Stimmenergebnis für Müntefering demütigend ist. Müntefering tritt vom Amt des SPD-Vorsitzenden zurück. Andrea Nahles will sich nicht auf ein Angebot des neuen Parteichefs einlassen, stellvertretende Parteivorsitzende zu werden. Die SPD-Rechte macht auch entschieden Front dagegen. Der Sprecher des konservativen „Seeheimer Kreises“, Johannes Kahrs, sagt der ARD vor der Entscheidung über Nahles’ neue Rolle, es dürfe keine Belohnung für die „Königsmörderin“ geben. „Ich halte es für absurd, dass jemand als Königsmörderin belohnt wird, der mit seiner Sturheit die Partei in die Krise geführt hat.“

      Nahles sieht sich nach ihrem Empfinden in Teilen der Partei einer Treibjagd ausgesetzt. Prominente SPD-Politiker fordern von ihr, sie solle sich für ihre Kandidatur entschuldigen. Das lehnt Nahles ab. Sie nimmt sich selbst aus dem Spiel, kandidiert weder als Generalsekretärin noch als SPD-Vize-Vorsitzende. Sie steht am Nullpunkt ihrer Karriere, zieht sich nach Weiler zurück. Die Eltern berichten ihr, dass die Bildzeitung mit zwei Leuten im Dorf gewesen sei und fast jeden befragt hätte. Doch keiner im Dorf habe irgendetwas Schlechtes über Andrea Nahles gesagt. Die „Bild“-Reporter ziehen wieder ab und bringen keine Zeile über ihre Recherche in Weiler. „Es hat mir gut getan, dass mein Dorf so hinter mir steht“, kommentiert Nahles diese Erfahrung.

      Über den unerwarteten Rücktritt Münteferings und den tragischen Verlauf ihrer Kandidatur denkt sie auch heute noch nach. Sie zweifelt, ob es nicht besser gewesen wäre, die Kandidatur zurückgezogen zu haben. Sie habe aber nicht voraussehen können, dass Münteferings Nachfolger an der Parteispitze, Matthias Platzeck, krank werden und dessen Nachfolger Kurt Beck nicht reüssieren würde. Ihr Verhältnis zu Kurt Beck ist mittlerweile sehr gut, sie steht auch in dessen bitteren Stunden an seiner Seite. Das Kesseltreiben gegen den neuen SPD-Vorsitzenden Beck findet sie ungerecht. Sie ist davon überzeugt, dass der Absturz der SPD auf damals 26 Prozent in den Umfragen nicht an einer Person liegt, sondern an der Politik der SPD und am Glaubwürdigkeitsdefizit der Partei. Auf dem Karlsruher Parteitag am 16. November 2005 kommt es zu einer Geste der Versöhnung zwischen Müntefering und Nahles. Die Delegierten wählen sie mit einer deutlichen Mehrheit von 323 Stimmen im ersten Wahlgang wieder in den Parteivorstand. Nahles ist erleichtert. Sie hat in der Partei noch eine Zukunft, zieht wieder in das Präsidium ein und wird im Oktober 2007 mit fast 75 Prozent der Delegierten- stimmen zur stellvertretende SPD-Vorsitzenden gewählt. Wenige Monate später wird sie auch stellvertretende Vorsitzende der SPD-Bundestagsfraktion. Der SPD-Kanzlerkandidat bei der Bundestagswahl 2009, Frank-Walter Steinmeier, beruft sie in sein Kompetenzteam. Darin ist sie für Bildung zuständig.

      Nach dem Wahldebakel der SPD bei der Bundestagswahl 2009 unternimmt Andrea Nahles auf dem Dresdener SPD-Parteitag im November 2009 einen zweiten Anlauf, Generalsekretärin der SPD zu werden. „Die Welt“ schreibt bereits am 11. Oktober über die künftige Generalsekretärin: „Andrea Nahles – eine Anti-Merkel prägt die SPD. Mit ihrem künftigen Posten als Generalsekretärin hat Andrea Nahles ihre Traumrolle gefunden. Schon seit Jahren prägt sie die Politik der SPD und hat viele linke Positionen durchgesetzt. In Acht nehmen müssen sich jetzt nicht nur konservative Parteikollegen, sondern auch die Bundeskanzlerin.“ Am 13. November 2009 nach dem Kirchgang wettet Andrea Nahles mit Prälat Karl Jüsten um eine Flasche Rotwein, dass sie auf dem Parteitag nur 70 Prozent der Delegiertenstimmen bekommen werde. Jüsten schätzt 80 bis 85 Prozent. Nahles wird mit 69,6 Prozent der Stimmen zur Generalsekretärin