Rainer Nahrendorf

Die Chancengesellschaft


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Als in Kaiseresch und Mayen, im Umkreis von 15 Kilometern zu Weiler, gleich zwei Müllverbrennungsanlagen gebaut werden sollen, engagiert sich die Siebzehnjährige in einer vom BUND für Umwelt und Naturschutz koordinierten Bürgerinitiative. Beide Anlagen werden nicht gebaut. Andrea Nahles erkennt, dass man mit Argumenten und Mehrheiten in den Stadträten etwas verändern kann.

      Mit 18 Jahren tritt Andrea Nahles 1988 der SPD bei. Der Zufall will es, dass die SPD in diesem Jahr 125 Jahre alt wird. Wenige Wochen später gründet sie in Weiler einen SPD-Ortsverein.

      Als Grund für ihren Eintritt in die SPD nennt Andrea Nahles ihren Gerechtigkeitssinn. Die Gesellschaft sei 1988 in dem über viele Jahrzehnte von der CDU regierten Rheinland-Pfalz noch sehr hierarchisch strukturiert gewesen. Wer zu den „besseren Leuten“ gehören wollte, habe Unternehmer oder ein hohes Tier in der CDU sein müssen.

      Andrea Nahles arbeitet neben der Schule als freie Mitarbeiterin der Rheinzeitung. Sie will damals noch Journalistin werden. Durch ihre freie journalistische Tätigkeit erhält sie Einblick in die Kommunalpolitik und in die Arbeit der Parteien. Sie gewinnt den Eindruck, für junge Frauen wie sie, die Ehrgeiz haben und etwas bewegen wollen, sei kein Platz in der Union. Diese von ihr empfundene Situation in der Union verletzt für sie die Chancengerechtigkeit der Geschlechter, eine von ihr immer wieder gemachte Erfahrung. Hinzu kommt die Überzeugung, solidarisch helfen zu müssen, wenn andere auf Unterstützung angewiesen sind, so wie es ihre Mutter tut, als sie die Vormundschaft für eine blinde Tante übernimmt.

      Gerechtigkeit üben heißt für Andrea Nahles aber vor allem, Partei zu ergreifen für die Benachteiligten und Wehrlosen, für Schüler, die von anderen gemobbt werden oder für einen Schüler aus einer sozial schwachen Familie, der von den Lehrern nicht gefördert sondern besonders schlecht behandelt wird. Solche Vorfälle werden in der Familie Nahles diskutiert und als ungerecht gebrandmarkt. Wenig Sympathie gibt es in der Familie für jene, die arbeiten könnten, aber es nicht tun. Ein bedingungsloses Grundeinkommen wird auch die spätere Politikerin Andrea Nahles immer ablehnen.

      Nach dem Abitur am Gymnasium in Mayen studiert Andrea Nahles ab 1990 an der Bonner Universität Politik, Philosophie und Germanistik. Als sie Bundesvorsitzende der Jungsozialisten wird und eine 60-Stunden-Woche hat, muss sie das Studium zunächst ruhen lassen. Sie schließt es aber trotz der Doppelbelastung ab, als Magistra Artium bei dem Germanisten und Literaturwissenschaftler Professor Jürgen Fohrmann, dem späteren Rektor der Universität. Der Titel ihrer Magisterarbeit lautet: „Über die Funktion von Katastrophen im Serien-Liebesroman“. Sie sei insofern für ihre Arbeit in der SPD gut vorbereitet gewesen, sagt sie mit einem verschmitzten Lachen, weil Katastrophen in den Beziehungen zwischen Parteimitgliedern auch immer wieder vorkommen. Auch das konzeptionelle Denken, das vernetzte Denken in systemischen Zusammenhängen habe sie im Studium gelernt. Dieses strukturierte Denken, das gute Gefühl für Menschen und für Situationen habe ihr in der politischen Arbeit sehr geholfen. Die 2004 angefangene Promotion über „Walter Scotts Einfluss auf die Entwicklung des historischen Romans in Deutschland“ kann sie nicht beenden. Die vorgezogene Bundestagswahl 2005 kommt dazwischen. Sie entscheidet sich gegen eine universitäre Laufbahn und für eine politische Karriere. „Mich drängt es, etwas zu bewegen und zu gestalten.“

      Einen Masterplan für ihre politische Karriere hat Andrea Nahles nicht. Durch die Gründung des Ortsvereins in Weiler werden die Untergliederungen des Jungsozialisten und der Landespartei auf sie aufmerksam. Nahles wird schnell stellvertretende Kreisvorsitzende, dann Kreisvorsitzende der Jusos in Mayen-Koblenz, 1992 stellvertretende Juso-Landesvorsitzende. Mit 23 Jahren führt sie ab 1993 den Landesverband der Jusos. Sie will für zwei Jahre Landesvorsitzende bleiben, um danach ihr Studium zu beenden. Im Mai 1995 gibt sie deshalb den Landesvorsitz der Jusos auf. Aber es kommt anders. Im Mai tagt auch der Juso-Bundeskongress in Gera. Der Juso-Vorsitzende Thomas Westphal wird mit einer Mehrheit von nur zwei Stimmen gewählt, die Wahl wird erfolgreich angefochten. Thomas Westphal, der knapp gewählte neue Vorsitzende, verzichtet bei der fälligen Wahlwiederholung auf eine erneute Kandidatur.

      Nun suchen die Delegierten einen Kandidaten, der nicht in die Strömungskämpfe involviert ist, am besten eine Frau. Das trifft nur auf Andrea Nahles, die ehemalige Landesvorsitzende aus Rheinland-Pfalz zu. Andrea Nahles erbittet sich eine Bedenkzeit von zwei Wochen, denn eigentlich will sie ihr Studium beenden. Sie entschließt sich jedoch zu kandidieren, weil die Jusos in einer schweren Krise stecken. „ Es ist ein Zufall der Geschichte, dass ich Juso-Bundesvorsitzende geworden bin. Hätte ich gewusst, was auf mich zukommt, hätte ich damals „Nein“ gesagt.“ Auf Andrea Nahles stürmt ein „Hurrikan“, eine gewaltige Arbeitslast zu. Gleich am ersten Tag nach ihrer Wahl erhält sie zwanzig Interviewanfragen. An einen schnellen Abschluss des Studiums ist nicht zu denken. Aber sie steht zu ihrer Entscheidung.

      Sie schließt als Juso-Vorsitzende eine strategische Allianz mit dem Vorsitzenden der IG Metall-Jugend. Beide organisieren in Frankfurt eine „Kohl-muss-weg“-Kampagne, an der sich 40 000 Jugendliche beteiligen. Die Zusammenarbeit konzentriert sich auf das Thema Ausbildung und Arbeit. Es wird Andrea Nahles politisches Kernthema. Ihre Rede auf dem außerordentlichen Jugend-Parteitag der SPD 1996 bringt für sie den Durchbruch in der Partei. Oskar Lafontaine überlässt ihr die Hauptbühne. Er hat Andrea Nahles Rede, bevor sie diese hält, gelesen, ungeachtet der darin auf ihn enthaltenen Angriffe für gut befunden und trotz der Einwände des damaligen SPD-Bundesgeschäftsführers Franz Müntefering auf die Hauptrede verzichtet. Die „Welt“ schreibt, die Nachwuchspolitikerin nutzt die Gelegenheit und liest den in die Jahre gekommenen Enkeln gehörig die Leviten. „Erst habt ihr die Alten überrannt – so weit okay – und dann habt ihr aus Konkurrenzangst die Jungen über Jahre hinweg einfach weggebissen.“ Für solche Sätze gibt es stürmischen Applaus.

      Nahles und die Jusos kämpfen auf dem Parteitag dafür, Betriebe, die nicht ausbilden, mit einer Umlage zur Kasse zu bitten. Nahles im Juso- Jargon: „Wer nicht ausbildet, wird umgelegt.“ Der Parteitag beschließt gegen den Widerstand von Wolfgang Clement und Gerhard Schröder die Ausbildungsumlage.

      Lafontaine wird Andrea Nahles Förderer. Andrea Nahles ahnt damals noch nicht, dass die wechselseitige Unterstützung für sie Folgen haben wird. Andrea Nahles wird 1997 ordentliches Mitglied des SPD-Bundesvorstandes und bleibt bis 1999 Bundesvorsitzende der Jungsozialisten. Beim Machtwechsel 1998 zieht sie über die rheinland-pfälzische Landesliste in den Bundestag ein. Die Lafontaine-Anhängerin hat zwar nur Platz 12 auf der SPD-Liste erhalten, aber angesichts von 41,3 Prozent der Zweitstimmen für die Landes-SPD reicht der Platz für den Einzug in den Bundestag. Im Jahr 2000 wird Nahles stellvertretende Vorsitzende der Arbeitsgruppe Arbeit und Sozialordnung der SPD-Bundestagsfraktion. In diesem Jahr gründet sie auch das „Forum Demokratische Linke 21“ in der SPD, die Nachfolgeorganisation des Frankfurter Kreises. Anders als 1998 schafft Andrea Nahles bei der Bundestagswahl 2002 nicht den Einzug in den Bundestag. Die Liste der SPD in Rheinland-Pfalz erhält nur noch 38,2 Prozent der Zweitstimmen. Nahles fehlen 34 Stimmen. Sie hat zwar Platz 11 auf der Landesliste bekommen, der ist aber bei dem erwarteten schlechteren Abschneiden der SPD ein Wackelplatz. Eine Kampfkandidatur um einen besseren Landeslistenplatz kann sie nicht wagen, weil ein Teil der Bezirks- und Unterbezirksvorsitzenden ihr immer noch übel nimmt, dass sie auf dem Mannheimer SPD-Parteitag 1995 Oskar Lafontaine und nicht den Rheinland-Pfälzer Rudolf Scharping unterstützt hat. Die gerade zur Bundesvorsitzenden der Jungsozialisten gewählte Andrea Nahles und weitere 60 Jungsozialisten unter den Delegierten haben damals für Lafontaine votiert und zur Abwahl Scharpings als SPD-Vorsitzendem beigetragen.

      Das vergisst die Landespartei der Rheinland-Pfälzerin nicht so schnell. An der Spitze der Landes-SPD steht damals Kurt Beck, der Rudolf Scharping viel zu verdanken hat. Andrea Nahles büßt noch nach Jahren für ihre Parteinahme zugunsten Lafontaines. Lafontaine hat allerdings bereits im März 1999 alle seine politischen Ämter niedergelegt. Nahles und viele andere Lafontaine-Anhänger in der SPD fühlen sich von ihm betrogen. Nach der Bundestagswahl 2002 arbeitet Andrea Nahles im Berliner Büro der IG Metall, behält aber ihr Bürgerbüro im Wahlkreis Ahrweiler bei. Sie leistet konzeptionelle Arbeit um das Verhältnis zwischen SPD und Gewerkschaften zu verbessern, organisiert Hospitanzen von Gewerkschaftsjunioren bei Bundestagsabgeordneten und lernt Verwaltungsstellen der IG Metall kennen. Der von der IG Metall gewünschte Blick von außen auf ihre Organisation fällt, was die Gleichstellung von Mann und Frau