auf Platz eins. Sein sechstes Buch geht weg wie warme Semmeln.
Den Erfolg kann sich Henkel selbst nicht so recht erklären. Für das Buch wird nicht stark geworben. Den Leitmedien der Nation ist es nur Kurzrezensionen wert, einige ignorieren es. Vielleicht liegt es am Titel, meint der bald siebzigjährige Autor. „Die Abwracker“ hat Henkel sein Buch zur Wirtschafts- und Finanzkrise der Jahre 2008 und 2009 genannt. Der Heyne-Verlag hat die Unterzeile hinzugefügt: „Wie Zocker und Politiker unsere Zukunft verspielen“.
Das Buch ist eine scharfsinnige Analyse der Ursachen der schwersten Wirtschaftskrise der Nachkriegszeit und eine knallharte Abrechnung mit Versagern unter Staatsbankern, Politikern, Spitzenbeamten und Managern. Henkel weist ihnen einen neuen Platz in der Gesellschaft zu: Die Hall of Shame.
Es ist ihm gleich, ob den von ihm Angeklagten die Scham- oder Zornesröte ins Gesicht steigt. Er bekennt sich zu seiner Subjektivität, der Innenansicht einer Krise, die er als Privatmann und als Aufsichtsratsmitglied großer Unternehmen miterlebt hat. Dieses persönliche Erleben der Krise, der Verführungen, der Verantwortungslosigkeit, der Überforderung und Fehlentscheidungen, erzählt im fesselnden Ich-Stil, macht „Die Abwracker“ spannend wie einen guten Kriminalroman.
„Im Auge des Hurrikans“ wollte Henkel das Buch zunächst nennen, aber als die Abwrackprämie fast zum Unwort des Jahres 2009 geworden wäre, fand er „Die Abwracker“ besser. Die politische Klasse kommt darin schlecht weg. Henkel sieht sie in der Verantwortung für das drohende Platzen der „Beschäftigungsblase“, der „Schuldenblase“, der „Sozialversicherungsblase“ und auch dafür, dass sein 13-Punkte-Reformprogramm wohl in der Ablage verschwinden dürfte.
Um „politische Korrektheit“ hat sich Henkel nie geschert, obwohl ihm die Reaktionen auf seine zuweilen provozierenden und polarisierenden Äußerungen nicht gleichgültig sind. Nach dem Erscheinen der „Abwracker“ hat ihn, obgleich er keine E-Mail-Adresse angegeben hat, eine Welle elektronischer Post überflutet. Er hat viel Zustimmung, aber auch üble Beleidigungen erhalten. Henkel tröstet sich damit, dass diejenigen, die ihn verunglimpfen, das Buch nicht gelesen haben.
Henkel liebt es trocken und direkt. Er weiß zuzuspitzen, spricht und schreibt Klar-Text, nicht um Auflage zu machen, sondern um aufzurütteln. Der ehemalige IBM-Top-Manager und frühere Präsident des Bundesverbandes der deutschen Industrie ist ein bekennender Neoliberaler. Er ist Verfechter einer wertgebundenen, Regeln setzenden Ordnung, einer Wirtschaftsordnung der verantworteten Freiheit, in der sich Fürsorge für die Gesellschaft und die Freiheit die Waage halten. Ohne marktwirtschaftliche Befreiung können nach seiner Auffassung die Volkswirtschaft und die Gesellschaft nicht gesunden.
Mit dem scharfzüngigen Kämpfer für eine Marktwirtschaft ohne Attribute und Streiter gegen den Neosozialismus liegen viele über Kreuz. Es sind gerade die Reibflächen, die Henkel bietet, die ihn zu einem begehrten Gast in den Talkshows der Nation machen. An diesen Reibflächen lässt sich eine heiße Diskussion entzünden. Das schätzen die Dramaturgen der Shows. Wenn dann noch jemand das Charakterfach des kompromisslosen Marktwirtschaftlers so beherrscht wie Henkel und kämpft wie der letzte Samurai, ist er für die Regie eine Pflichtbesetzung. Es findet sich auch kaum ein anderer Wirtschaftssprecher, der es in der freien Rede mit Henkel aufnehmen könnte. „Der deutsche Vorstandschef“, spottet Henkel, „trennt sich eher von seiner Frau als von seinem Manuskript“.
Manche Menschen tragen einen Kompass in sich. Er hilft ihnen, ihr Leben lang Kurs zu halten. Für Henkel ist dies die Suche nach Freiheit. Sie steckt hinter der Auflehnung des kleinen Jungen gegen seine Mutter, hinter dem Aufbegehren gegen die Internatslehrer, hinter dem Abweichen von vorgezeichneten Karrierewegen. Henkel braucht zur Entfaltung seiner Talente und Fähigkeiten Freiräume so nötig wie Fische das Wasser. „Freiheit ist eine Macht, die nur der entdeckt, der sie sich erarbeitet“, schreibt Henkel in seinen 2001 erschienen Erinnerungen. Er hat seine bei Econ verlegten Memoiren – seinen ersten Bestseller – mit dem Titel „Die Macht der Freiheit“ versehen. Diese Erinnerungen, viele Interviews und Moderationen aus meiner Chefredakteurszeit sowie ein Anfang Februar 2010 geführtes, mehrstündiges Gespräch bilden die Grundlage für dieses Porträt.
Henkel akzeptiert das Etikett des „Freiheitskämpfers“ noch aus einem anderen Grund. Es passt für ihn auch, weil er sich als Mitglied von amnesty international für die Freiheit anderer Menschen engagiert, viele Petitionen geschrieben hat und weil er überzeugt ist, dass Marktwirtschaft, Demokratie und Menschenrechte untrennbar miteinander verbunden sind. Zu seinem sechzigsten Geburtstag im Jahr 2000 hat er statt persönlicher Geschenke um Spenden für ai gebeten. 130 000 D-Mark sind zusammengekommen. Das in dem Wort „Freiheitskämpfer“ mitschwingende Pathos mag er allerdings nicht. Dazu ist er zu sehr Hanseat.
Über Henkels Kindheit liegt wie ein dunkler Schatten der frühe Tod des geliebten Vaters. Hans Henkel wird nur 39 Jahre alt. Das Glück, das der Vater mit seiner kleinen Familie und der florierenden Generalvertretung für Papierbedarf hat, endet abrupt. Hans Henkel stirbt im Januar 1945 im Kessel von Budapest. Als Hans-Olaf Henkel Jahre später erfährt, dass sein Vater auf dem Gräberfeld des Budapester Zentralfriedhofes zusammen mit neuntausend deutschen Soldaten bestattet ist, kann er die Tränen nicht unterdrücken. Er besucht den Friedhof und entdeckt den Namen des Vaters auf einer von drei Bronzetafeln. Im Abstand von wenigen Jahren kehrt er immer wieder an das Grab zurück.
Der Vater Hans Henkel war ein Erfolgsmensch, die Mutter, eine nordische, aus einfachen Verhältnissen stammende Schönheit, war es auch. Sie wollte aufsteigen, hatte den Willen zum Glück und fand es in der Ehe mit dem tüchtigen und lebenslustigen Geschäftsmann Hans Henkel. Hans-Olaf, sechs Jahre nach seiner Schwester Karin geboren, ist in seinen ersten Schuljahren alles andere als ein Erfolgsmensch. Das eine Mal fliegt er von der Schule, das andere Mal muss er sie verlassen, weil er nicht mitkommt, dann wieder muss er eine neue Schule besuchen, weil er umzieht. Während seiner Kindheit besucht er sieben Schulen und lebt in drei Heimen.
Mit der Mutter, die nicht weniger erfolgreich als der Vater die Generalvertretung weiterführt, stößt der kleine Hans-Olaf immer häufiger zusammen. Sie ist ihm nicht nur zu exzentrisch, sondern auch zu streng, zu autoritär. Der aufmüpfige Sohn verträgt das nicht. Selbstkritisch räumt Henkel ein, er habe seiner Mutter mit seinen ständigen Widerworten und dem Infragestellen ihrer Autorität häufig Unrecht getan. Die drei Henkel-Kinder, zwei Jungen und ein Mädchen, fühlen sich nicht innig geliebt. Noch heute klingt ihnen die Warnung der Mutter im Ohr: „Schafft euch bloß keine Kinder an.“ Die Kinder sind der Mutter, die schon durch das Geschäft stark gefordert ist, zu einer Last geworden, die sie schwer allein tragen kann. Da sie selbst auf eigenen Füßen stehen muss, sollen auch ihre Kinder früh selbstständig werden. Das Fördern früher Selbstständigkeit ist ein eigentlich Erfolg versprechendes Erziehungsprinzip. Aber Hans-Olaf Henkel, von der Mutter für einundeinhalbes Jahr in ein strenges katholisches Nonnenstift gesteckt, fühlt sich ausgestoßen.
Nach zwei weiteren Schulwechseln und erneuten Auseinandersetzungen meldet die Mutter den Vierzehnjährigen im „Rauhen Haus“ an. Der Name trügt, wie Henkel bald bemerkt. Er rührt nicht von rauen Erziehungsmethoden, sondern von der rauen Außenfassade des ersten Hauses des 1832 gegründeten Wichern-Stiftes her. Aus dem Stift hat sich die Diakonie entwickelt. Das „Rauhe Haus“ gilt als Heim für problematische Kinder. Die Kinder und Heranwachsenden werden dort nach dem Familienprinzip erzogen. Ein Diakon betreut wie ein älterer Bruder jeweils zehn bis zwölf Kinder. Henkel verbringt ein halbes Jahr im „Rauhen Haus“. Die Fürsorge der Diakone tut ihm gut. Der Knoten platzt. Er fühlt sich an die Hand genommen und beginnt zu lernen. Später, auf der Hochschule für Wirtschaft und Politik, wird er bei Ralf Dahrendorf eine Abschlussarbeit mit dem Thema schreiben: „Die soziale Herkunft der Diakone der Inneren Mission und Gründe für den Eintritt in die Diakonie“.
Anderes als zu lernen bleibt ihm auch nicht übrig, denn die Mutter hat ihm Auswege versperrt. Henkel entdeckt, dass ihm im „Rauhen Haus“ mehr Freiheit gewährt wird, wenn er sich anstrengt. Das weckt seinen Ehrgeiz und trägt Früchte. Nach kurzer Zeit steigt er in eine andere Familie auf, in der es weniger streng zugeht. Er wird einer der besten Schüler in der Klasse und darf das Heim verlassen. Es ist ein erstes Erfolgserlebnis, er hatte aus eigener Kraft etwas erreicht. Auf einer Schule im Hamburger Stadtteil Poppenbüttel