Irene Dorfner

GIERSCHLUND


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Brechtinger. „Was für ein Wahnsinn!“

      „Was ist mit dem Ehepaar Geiger? Sind Sie auch mit ihnen befreundet?“

      „Früher schon“, sagte Frau Brechtinger und sah ihren Mann dabei an, der kaum spürbar den Kopf schüttelte.

      „Und heute?“

      „Heute nicht mehr.“

      Leo und Hans spürten, dass das einen triftigen Grund haben musste, wollten aber nicht weiterbohren. Es ging hier um die Söhne und nicht um die Differenzen der Eltern.

      „Ihr Sohn war heute nicht in der Schule“, sagte Leo vorsichtig.

      Das Ehepaar Brechtinger war zuerst sprachlos, dann wurden beide panisch. Von Ruhe war nichts mehr zu spüren. Beide riefen mehrere Personen an und fragten nach ihrem Sohn, leider ohne Ergebnis. Roswitha Brechtinger weinte und war nicht zu beruhigen.

      „Bitte suchen Sie nach meinem Sohn. Wir werden unsererseits alle befragen, die Kontakt zu unserem Sohn haben“, rief Markus Brechtinger aufgeregt und wollte sich sofort an die Arbeit machen.

      „Ich habe nur noch eine Frage“, hielt ihn Leo zurück. „Auf dem Firmenschild steht Brechtinger & Müller. Ihnen gehört die Firma nicht allein?“

      „Nein. Jochen Müller ist schon lange bei uns. Er hat sich vor vier Jahren finanziell in die Firma eingebracht. Ich selbst habe ihn ausgebildet und bin froh, dass ich auf ihn zählen kann. Er vertritt mich, wenn ich im Urlaub oder krank bin. Darüber hinaus übernimmt er sehr viele Aufgaben, die ich mir nicht mehr zutraue. Nach dem zweiten Bypass habe ich eingesehen, dass ich kürzertreten muss. Außerdem ist es mit Ende Fünfzig an der Zeit, etwas ruhiger zu werden. Wer weiß, wie viel Zeit mir noch bleibt.“

      „Wo finden wir Ihren Kompagnon?“

      „Auf der Baustelle in Neuötting, Bahnhofstraße. Ich weiß zwar nicht, wie er Ihnen behilflich sein kann, aber bitte, reden Sie mit ihm. War es das jetzt? Ich möchte nach meinem Sohn suchen. Außerdem muss ich mich um meine Frau kümmern. Sie sehen ja, in welchem Zustand sie ist.“

      Die Fahrt ging direkt nach Neuötting. Leo und Hans brauchten nicht lange nach Jochen Müller suchen. Mehrere Fahrzeuge mit dem Firmenlogo parkten dicht an dicht. Jochen Müller stand vor dem Haus, an dem gerade gearbeitet wurde und diskutierte gestikulierend mit einem Mann, der sehr viel älter war als er. Leo und Hans waren bezüglich des Alters Jochen Müllers überrascht. Dieser war gerade mal dreißig Jahre alt. Die Kriminalbeamten wiesen sich aus und erklärten die Situation.

      „Noah ist tot und Julian ist verschwunden? Um Gottes Willen! Was ist passiert?“

      „Deshalb sind wir hier. Vielleicht haben Sie eine Ahnung, wo sich Julian aufhalten könnte.“

      „Woher soll ich das wissen? Ja, ich kenne Julian schon sehr lange, so wie auch Noah, aber ich weiß nie, wo sie sich herumtreiben.“

      „Wie ist Ihr Verhältnis zu der Familie Brechtinger?“

      „Nicht nur gut, sondern sehr gut. Ich bin Markus‘ Geschäftspartner und ein enger Freund der Familie, der ich sehr viel zu verdanken habe. Früher hatte ich keine Lust auf Schule und Ausbildung. Als ich bei Markus anfing, glaubte ich nicht daran, dass ich dort bleiben würde. Arbeit war nichts für mich. Aber Markus hatte viel Geduld mit mir und hat mich unter seine Fittiche genommen. Er war ein sehr guter Ausbilder und dazu wie ein Vater für mich; mehr, als es mein eigener jemals war. Sie sehen ja, was aus mir geworden ist“, fügte er nicht ohne Stolz hinzu.

      „Sie haben sich in die Firma eingekauft?“

      „Ja. Die Erbschaft meiner Großmutter und meine Ersparnisse haben zum Glück ausgereicht. Markus hat mich dazu ermutigt. Ich vermute, dass er mit seinem Sohn nicht als Nachfolger rechnet, dessen Interessen gehören nicht der Baubranche. Nach dem Abitur soll er studieren, das braucht er in unserem Gewerbe nicht zwingend. Verstehen Sie mich nicht falsch, wenn ich sage, dass Julian nicht für die Baubranche geschaffen ist. Er ist keiner von denen, die gerne mit den Händen arbeiten. Er verkriecht sich lieber hinter seinem Computer und seinen Büchern.“ Jochen Müller grinste.

      Leo mochte den Mann nicht. Er war ihm zu glatt und einen Tick zu überheblich.

      „Falls Ihnen etwas einfällt, rufen Sie uns bitte an.“

      Leo und Hans saßen im Wagen und atmeten tief durch.

      „Was ist heute Nacht geschehen?“

      „Das müssen wir herausfinden.“

      „Womit fangen wir an?“

      „Beide Eltern sagten aus, dass die Jungs immer zusammen waren. Wir müssen die Gegend um den Unfallort absuchen.“

      „Du denkst, dass Julian dort irgendwo ist?“

      „Keine Ahnung. Aber ich möchte mir später nicht den Vorwurf machen, nicht nach ihm gesucht zu haben.“

      „Willst du heute noch nach ihm suchen?“

      „Auf jeden Fall.“

      4.

      Bettina Geiger saß weinend auf der Bank vor dem Jägerhäusl im Kastler Forst. Immer wieder stand sie auf und blickte sich um. Endlich! Dort hinten kam er! Sie lief auf ihn zu und die beiden fielen sich in die Arme; dabei schluchzte Bettina und weinte hemmungslos.

      Markus Brechtinger versuchte, sie zu trösten. Er sprach mit ruhiger Stimme, auch wenn ihm klar war, dass sie ihm nicht zuhörte. Er wusste, dass kein Wort der Welt den Schmerz dieser Frau lindern konnte.

      Langsam beruhigte sich Bettina. Das war auch gut so, denn ein Radfahrer näherte sich und sie durften nicht in dieser Vertrautheit gesehen werden. Markus und Bettina hatten seit zwei Jahren eine Affäre, die vor zehn Monaten durch einen dummen Zufall aufgedeckt wurde. Die Ehepartner waren enttäuscht und wütend. Roswitha Brechtinger war sogar kurz davor, sich scheiden zu lassen, und machte ihrem Mann vor den Augen ihres Sohnes eine heftige Szene. Sie gingen sogar zur Paartherapie, was für Markus reine Zeitverschwendung war, denn er liebte seine Frau schon lange nicht mehr und daran würde sich auch nichts mehr ändern. Er blieb nur wegen des gemeinsamen Sohnes, nur ihm zuliebe hielt er die ständigen Streitereien und Demütigungen aus, die lange vor Bekanntwerden der Affäre an der Tagesordnung waren. Markus Brechtinger hatte mit Bettina vereinbart, mit einem gemeinsamen Leben zu warten, bis beide Söhne mit der Schule fertig waren. Nur noch ein Jahr, und dann waren sie frei. Für Alexander Geiger war eine Scheidung nie eine Option gewesen, denn die würde sich eventuell negativ auf die Geschäfte auswirken, die in seinem Leben eine zentrale Rolle spielten. Trotzdem hatte ihn das Verhältnis zwischen seiner Frau und seinem besten Freund bis ins Mark getroffen. Seitdem gingen sich die Paare aus dem Weg.

      Bettina Geiger und Markus Brechtinger sahen sich nach Bekanntwerden ihrer Affäre drei Monate nicht, bis es Markus nicht mehr aushielt und seine Geliebte vor dem Garchinger Schuhgeschäft abfing. Er konnte und wollte nicht ohne sie sein, zumal seine Frau noch schlimmer geworden war. Die dominante und bestimmende Art wurde durch Boshaftigkeiten und tägliche Sticheleien fast unerträglich. Markus schob abends oft Arbeit vor, um so spät wie möglich nach Hause gehen zu müssen, wo ihn seine fiese Frau erwartete und ihn wie so oft mit Demütigungen und Streitigkeiten drangsalierte. Am Morgen ging er sehr früh außer Haus und atmete tief durch, wenn er im Wagen saß und er endlich seine Ruhe hatte. Es kam nicht selten vor, dass Roswitha ihn kontrollierte, was ihm zusätzlich auf die Nerven ging.

      Bettina wurde von dieser Behandlung zuhause verschont, allerdings war Alexander mit seiner Ignoranz und Schweigsamkeit auch nicht viel besser. Im Hause Geiger herrschte Totenstille, was ihr sehr aufs Gemüt schlug. War sie nicht selbst schuld daran?

      Seit Markus sie angesprochen hatte, trafen sie sich alle zwei Wochen am Jägerhäusl im Kastler Forst, immer zur selben Uhrzeit. Ihnen blieb nie viel Zeit, außerdem mussten sie vorsichtig sein. Es gab keine Telefonate zwischen ihnen und keine Geschenke. Nichts durfte sie verraten. Die wenigen Augenblicke genossen sie und schöpften daraus die Kraft, die nächsten beiden