Irene Dorfner

GIERSCHLUND


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Tod tut mir sehr leid. Ich mochte den Jungen, er war wie ein zweiter Sohn für mich.“

      „Das weiß ich. Gibt es schon eine Spur von Julian?“

      Markus schüttelte den Kopf. Jetzt kämpfte er mit den Tränen, was Bettina bemerkte. Sie küsste ihn.

      „Lass es raus, Markus. Du kannst nicht immer stark sein.“

      Nun weinten sie beide und hielten sich aneinander fest.

      „Was passiert mit uns?“

      „Ich weiß es nicht.“

      Die Zeit ging wieder viel zu schnell vorbei. Sie hätten sich noch so viel zu sagen, aber dazu reichte die Zeit einfach nicht. Sie gestatteten sich nur eine halbe Stunde, die musste reichen.

      Markus verabschiedete sich und sah Bettina hinterher. Er wollte ihr für die Beerdigung tröstende Worte mit auf den Weg geben, die er sich sorgsam zurechtgelegt hatte. Jetzt war es dafür zu spät, sie war weg.

      Markus setzte sich in seinen Wagen. Tief im Inneren rechnete er bereits mit dem Tod seines Sohnes. Würde er je damit zurechtkommen, wenn sich das bestätigte? Julian war sein ganzer Stolz, er liebte ihn sehr. Er hatte ihn oft gegen seine zänkische Mutter in Schutz genommen, wenn sie wieder einen ihrer Anfälle hatte. Dafür hatte er selbst von ihr alles abbekommen, aber das war ihm immer gleichgültig gewesen. Julian! Was war mit ihm geschehen? Markus weinte und betete, auch wenn er kein gläubiger Mensch war. Er betete nicht nur, sondern flehte Gott an. Ein Jogger lief an seinem Wagen vorbei, weshalb er mit dem Gebet aufhörte und sich langsam wieder beruhigte. Markus nahm sich fest vor, einiges in seinem Leben zu ändern, wenn sein Sohn wieder gesund auftauchen sollte. Ja, das würde er machen. Natürlich würde er sich sofort von seiner Frau trennen, dafür war es schon längst höchste Zeit. Er würde seine Firmenanteile verkaufen und sich an einem schönen, ruhigen Platz ein neues Leben aufbauen. Noch war er nicht zu alt dafür, noch war Zeit genug. Aber das alles würde er nur machen, wenn er Julian wieder in seine Arme schließen konnte.

      Mit einem Kloß im Hals fuhr er zur Firma. Dort stand der Wagen seiner Frau, die wie immer direkt vor der Eingangstür parkte, was er auf den Tod nicht ausstehen konnte. Das wusste Roswitha und deshalb ließ sie sich davon auch nicht abbringen.

      „Wo kommst du her?“, begrüßte Roswitha Brechtinger ihren Mann, der nicht darauf antwortete. Es war egal, was er sagte. So, wie seine Frau gerade drauf war, gab es sowieso Streit, deshalb sparte er sich die Energie. „Hast du mich nicht verstanden? Ich habe gefragt, wo du herkommst! Warst du wieder bei der Hure Bettina? Oder bei einer anderen? Fängt das Theater wieder von vorn an?“

      Roswitha stand direkt vor ihm. Ihr Gesicht hatte sich zu einer Fratze gewandelt, die er einfach nur widerlich fand. Ja, er hatte eine Affäre und er war sicher nicht stolz darauf. Warum konnte seine Frau nicht ein wenig wie Bettina sein? Sie war herzlich, verständnisvoll und leise. Alles Eigenschaften, die seiner Frau völlig fremd waren. Sie schimpfte und zeterte, was natürlich die Angestellten mitbekamen, denn Roswitha schrie immer lauter. Markus schloss die Tür, was vermutlich nicht viel brachte.

      „Was kann ich für dich tun?“, fragte er, statt auf ihre Vorwürfe zu antworten, die er über sich ergehen lassen musste.

      „Erinnerst du dich daran, dass wir einen Sohn haben, der verschwunden ist? Ich sorge mich um unseren Sohn, während du einfach zur Tagesordnung übergehst und fröhliche Ausflüge unternimmst. Was bist du nur für ein Mensch!“

      „Was soll ich deiner Meinung nach tun? Ich habe nach Julian gesucht. Ich habe alle möglichen Leute angerufen und habe persönlich mit vielen gesprochen. Ich bin deiner Bitte nachgekommen und habe einen Privatdetektiv engagiert, obwohl ich nichts davon halte. Was soll ich noch tun? Zuhause sitzen und warten? Das kann ich nicht. Ich muss mich ablenken und das kann ich am besten mit meiner Arbeit.“

      „Natürlich geht deine Arbeit vor. Die war dir schon immer wichtiger als deine Familie.“ Es folgte ein weiterer Regen von Vorwürfen, die Markus wieder kommentarlos über sich ergehen ließ. Roswitha setzte sich, sie war erschöpft. Sie hatte Probleme damit, sich zu konzentrieren, daher konnte sie nicht arbeiten. Sie malte sich wegen ihres Sohnes die schlimmsten Szenen aus und wurde fast verrückt. Aber das sagte sie ihrem Mann nicht. Sie hatte von klein auf gelernt, stark zu sein und keine Schwäche zuzugeben.

      „Warst du bei deiner Hure?“, fragte sie jetzt leise und sah ihren Mann an.

      „Nein, das war ich nicht“, log er. Ja, er hätte die Wahrheit zugeben können. Das war eine dieser verpassten Gelegenheiten, seiner Frau endlich reinen Wein einzuschenken. Aber dafür war er zu feige. Außerdem war das nicht der richtige Zeitpunkt. Julian stand an erster Stelle, alles andere konnte später geklärt werden.

      „Die Polizei hat Julian immer noch nicht gefunden. Wo könnte er sein?“

      „Das weiß ich nicht. Ich bin mir sicher, dass er wohlbehalten wieder auftaucht.“

      „Alles spricht dagegen. Wie kannst du dir dabei sicher sein?“

      „Weil ich nicht zulassen will, an das Schlimmste zu denken. Julian kommt gesund wieder.“ Das sagte Markus nicht nur zu seiner Frau, sondern vor allem zu sich selbst. Er musste fest daran glauben, dass Julian noch lebte, alles andere wäre Wahnsinn.

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