Sorin Mirel Constantin

Grenzen


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und dass es genau um diese Uhrzeit einen weißen Strich über die Straße ziehen musste. So, als sollte es ein »vor dem weißen Pferd« und ein »nach dem weißen Pferd« geben.

      Alexandru drückte das Gaspedal so kräftig, dass die Reifen laut quietschten wie die Sirenen der alten Salamifabrik in der Nähe ihrer Wohnung damals in Hermannstadt, bei jedem Schichtwechsel, sogar nachts konnte man sie hören. Die schwarzen Reifenspuren, die der Wagen hinterließ, blieben zurück als einzige Zeugen der Begegnung mit dem weißen Pferd. Lang und schwarz waren sie, als wollten sie die Schärfe der Scheinwerfer wegwischen. Anna wurde von dem Quietschen der Reifen und dem Ruck, mit dem der Wagen fast stehen blieb, wach.

      Er wusste nicht, ob sie das Pferd gesehen hatte, fragte nicht danach, so wie er den ganzen Tag und die halbe Nacht fast keine Fragen gestellt hatte. Welches Zeichen wollte dieses Pferd setzen? Ein weißes Pferd, das ihnen bei Nacht vor ihrem Wagen erschienen war, um gleich danach zu verschwinden.

      Sie hatten sich diese Reise gewünscht, sie wollten unbedingt zurück, nur für kurze Zeit. Sie machten diesen langen Weg und wussten, dass diese Reise zurück mehr bedeuten konnte, als nur die Eltern zu besuchen. Und jetzt dieses weiße Pferd! Er war zu müde, um tiefer zu grübeln, sich zu fragen, was all die Umleitungen, all die Umstöße und all die Umkehrungen, die es häufig in der letzten Zeit gegeben hatte, zu sagen hatten.

      Als Anna ihren »vor dem weißen Pferd« unterbrochenen Satz wieder aufrollte, huschten die paar Sätze, die sie sprach, an seinem Ohr vorbei. Er, Alexandru, wusste es. Dieses Zeichen, was auch immer es zu bedeuten hatte, hatte sie nicht wahrgenommen, es existierte für sie nicht. Sie sprach weiter, um ihn am Steuer wach zu halten. Ihr dagegen fielen die Augen zu; an ihren Augenlidern hingen schwere Lasten, wie Steine, die man um die Hälse von Katzen legte in der alten Heimatstadt, wenn man diese Katzen ertränken wollte, wenn man diese Katzen nicht mehr haben wollte. Man warf sie in den alten Fluss, in den schlammigen, langsam fließenden Zibin. Anna wusste nicht, was sie sagte, sie sprach wie von einem Band, wie Alexandru in manchem Verhör, ohne Unterbrechung, ohne etwas sagen zu wollen, ohne etwas sagen zu können, die Krallen der Angst im Nacken. Die Angst jetzt bei Anna, dass Alexandru am Steuer einschlafen könnte. Sie war davon überzeugt, ihn wach halten zu können. Er musste schließlich noch etwa 150 km fahren, und die Nacht war schwarz wie Pech, und die digitale Uhr zeigte 03:24 morgens, tief in der Nacht. Nacht. Schlafen. Das Kind schlief hinten auf der Rückbank. Sie blickte plötzlich nach hinten, wie in Panik, das Kind atmet nicht! Auf der Rückbank schlief ihre fünfjährige Tochter, sorgenlos, sie atmete ruhig aus und ein, sie schien einen schönen Traum zu haben. Anna beruhigte sich.

      Man muss bezahlen

      Die Angst, sie nicht mehr atmen hören zu können, hatte sich so fest in ihr Gedächtnis eingegraben wie ein Maulwurf, der vor der Kälte flüchtet und sich tiefer und tiefer in der Erde seine winterliche Unterkunft baut. Es war damals an der Grenze gewesen, die schwer bewachte Grenze mit Maschinenpistolen, Grenztürmen und Kontrollen, bei denen man nicht einmal einen Liebesbrief in der Hosentasche verstecken konnte oder eine goldene Kette in einer Zahnpastatube. Dies galt sowohl für Ausreisende als auch für Einreisende. Man konnte sie nur passieren wie beim Passieren eines gewissen mythologischen Flusses: nur, wenn man etwas dafür abgab. Man gab Zigaretten, Whisky oder Geld ab, man verlor schnell die Achtung vor sich selbst, man fühlte sich erniedrigt, man wurde angesteckt mit einem Virus. Beim bloßen Wort »Grenze« schaute man nach links und rechts mit dem Blick eines gejagten Tieres, man spürte dieses Gefühl der Leere im Magen, als hätte man lange Zeit nichts gegessen. Das kleine Mädchen Sophia, ihre Tochter, wurde lange Jahre danach, beim Passieren welcher Grenze auch immer, selbst wenn keine Grenzsoldaten sie überwachten, schon Kilometer bevor die Grenze sichtbar war, hell wach, und Anna konnte es jedes Mal deutlich hören: Sophias Herz klopfte laut und schnell. Es war aber nicht Freude, die ihr Herz lauter und schneller klopfen ließ. »War die Grenze schon oder müssen wir noch warten?«, wollte sie jedes Mal wissen, obwohl viele Grenzen nicht mehr als Grenzen zu erkennen waren.

      Alexandru fuhr weiter durch die warme tiefschwarze Nacht. Es war jetzt die zweite Reise nach Rumänien, und er musste an damals denken, als sie zum ersten Mal zurückfuhren, zurück nach Hermannstadt, wo die Eltern in ihrem kleinen Haus in der Nähe des Jungen Waldes lebten und wo auch sie gelebt hatten, zur Schule gegangen waren, sich ineinander verliebt und geheiratet hatten, wo ihre Tochter zur Welt kam. Es war die erste Erfahrung mit der rumänischen Grenze nach ihrer Ausreise vor einigen Jahren.

      Nur die Augen des Grenzsoldaten konnte man erkennen, in seinem langen, dicken Mantel eingehüllt und mit seinen überdimensionalen Filzstiefeln, in denen er sich kaum bewegen konnte.

      »Aussteigen, alle!«

      Sie stiegen aus und wussten sofort, warum er diesen Mantel brauchte. Der Schnee knirschte unter ihren feinen Schuhen, und sehr schnell wussten sie nicht mehr, warum sie zitterten, wegen der für diese Jahreszeit ungewöhnlichen Kälte, oder weil sie zum ersten Mal die Grenze zurück passierten und nicht wussten, was ihnen widerfahren würde. Oder war es die Aufregung, wieder diese Sprache dort zu hören und zu sprechen, die Gerüche, auch wenn sie sie nicht mochten, wiederzuerkennen?

      »Auch die Tochter muss raus!«

      »Sie schläft aber, sie ist vier Jahre alt, bitte lassen Sie sie schlafen, im Wagen ist es warm.«

      »Alles raus! Kind, Gepäck, alles!« Den Tonfall des Befehls erkannten sie wieder, er war ruhig, gelassen und trotzdem bestimmend, getragen von einer ungeheuren Sicherheit: Hier bestimme nur ich und niemand anderes. Sie mussten sich fügen, sie hatten nicht einmal die Kraft oder den Mut, sich zur Wehr zu setzen. Nicht einmal innerlich. Es gab kein Zähneknirschen, keine in der Tasche geballte Faust. Sie packten alles heraus auf die für diesen Zweck aufgestellten Bänke: Kleiderkoffer, Nahrungsmittelkisten, Medikamente, alles, was sie hatten. Anna ging mit Sophia ins Zollhaus, es stank nach abgestandenem Zigarettenrauch. Sie kannte diesen Gestank. Es war der Gestank von schäbigen Kneipen, in deren Holzböden Petroleum eingelassen wurde, angeblich aus hygienischen Gründen, in denen unrasierte raue Männer streng riechenden Zwetschgenschnaps tranken und billige, filterlose Zigaretten der Marke Marasesti rauchten, nach der schweren Arbeit in der Fabrik. Sie betranken sich, damit sie zuhause einen Grund hatten, ihre Frauen schlagen zu dürfen. Es war kalt im Zollhaus, genauso kalt wie draußen vielleicht. Draußen nahm sich der warm angezogene Zöllner die Zeit, alles in Ruhe zu betrachten und wollte auch unterhalten werden.

      »Wie seid ihr denn raus?«

      »Als Touristen.«

      »Aha, und nicht mehr zurückgekommen, eh?« Was wollte er damit sagen? Es wurde deutlich kälter, Alexandru fing an, noch stärker zu zittern unter seiner kurzen ledernen Jacke. Was hatten sie vor mit einem, der »geflüchtet« war? Trotz seines deutschen Reisepasses, den er stolz an jeder Grenze vorzeigen wollte und den keiner anschauen wollte?

      »Und diese Tasche, was ist drin?«

      »Medikamente für meinen herzkranken Schwiegervater«. Es fing eine Auslese an, die Guten ins Töpfchen und diejenigen, die der Zöllner nicht weiterverkaufen konnte, blieben in der Tasche.

      »Die hier sind für mich, ihr könnt weiterfahren. Übrigens, nach zwei Kilometern ist die Straße unpassierbar. Schnee.«

      Schnee

      Sie fuhren trotzdem weiter, sofort, der Soldat könnte sich das auch anders überlegen, nein, sie mussten schnell weg.

      In einem kleinen für sie namenlosen Grenzdorf mussten sie tatsächlich nach zwei Kilometern anhalten. Die hellen Scheinwerfer leuchteten auf ein mitten auf der Straße stehendes Schild aus Pappe: »Drum barat!« Es ging nicht weiter. Alexandru stieg aus dem Wagen und sah sich um. Alles dunkel, keine Straßenlaternen, er konnte kein Haus sehen. Doch, auf der rechten Seite der Straße erblickte er ein schwaches Licht. Er ging dem Licht entgegen. Es war ein großes, schmutziges Fenster, auf dem er das Wort »Hotel« erkennen konnte. Rechts davon eine dunkle, schwere Metalltür, die Alexandru mit großer Mühe öffnete. Die kleine Eingangshalle war voller Menschen. Manche saßen in den paar Sesseln, die um einen kleinen quadratischen