Sorin Mirel Constantin

Grenzen


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lauten Knall zu, alle Anwesenden sprangen auf, böse Blicke richteten sich auf Alexandru, der vergessen hatte, dass man Türen hier leise schließen musste. Nein, es gab keine freien Zimmer. »Sie sehen es doch, alle hier wollen ein Zimmer!«

      Die Nacht verbrachten sie im Wagen, einige Kilometer hinter der Grenze, bei laufendem Motor, damit sie nicht erfrieren würden. Sie hatten sich eingehüllt in Daunenjacken und Pullover, die sie als Geschenke für die Cousins und Cousinen mitgenommen hatten. Anna schaute jede fünf Minuten nach hinten und schüttelte Alexandru jedes Mal wach: »Sie atmet nicht mehr.«

      »Doch, sie schläft, ruh dich aus, sie schläft tief, hab keine Angst.« Fünf, zehn Mal, fünfzehn Mal sprang sie auf. Sie schliefen trotzdem ein wenig.

      Ein improvisiertes Frühstück. Die Bewohner des kleinen Dorfes an der Grenze brachten etwas Wurst in die Hotelhalle, etwas Butter, die sich nicht streichen ließ, weil sie zerbröckelte. Die Hotelangestellten machten Tee, für alle, selbst für diejenigen, die kein Zimmer in der Nacht mehr bekommen hatten und in ihren Autos übernachten mussten bei laufendem Motor. Die Sonne schien so hell und weiß über das Meer von sauberem Schnee, als wäre nichts passiert, und der Schnee verspräche, alles sauber zu waschen, um alles vergessen zu machen. Man konnte tatsächlich nach dem improvisierten Frühstück weiterfahren.

      Der Schnee hielt sein Versprechen nicht, er wurde immer grauer, immer holpriger, immer glitschiger wie die Haut eines aus einem trüben, matschigen Wasser gefischten Aals. Man verlor das Gefühl, das man für einen Augenblick hatte, alles würde glattgehen, weiß und hell sein, wie der Morgen es versprochen hatte. Die Reise dauerte ewig, man konnte nicht schnell fahren, die Straßen waren nicht geräumt, man wusste nicht, trotz der fast blind machenden Helligkeit, ob man auf der Straße fuhr oder quer durchs Feld.

      Dreihundert Kilometer und sechzehn Stunden weiter, um drei Uhr morgens, der erste geräumte Weg: die Einfahrt zur Garage ihrer Eltern, Annas Eltern, geräumt, als hätte es in den letzten Stunden nicht geschneit. Victor war jede Stunde aufgewacht und hatte den Schnee zur Seite geschaufelt, der Schnee, der auf der Straße aufgetürmt war, als bildete er einen Wehrturm oder eine Wehrmauer um alle Häuser herum zum Schutze gegen die langen Ohren der »Staatsnacht« oder der Staatsmacht in der Stadt, in der vor Jahrhunderten drei Gürtel von Wehrtürmen und Wehrmauern gegen die Türken oder gegen die Mongolen errichtet wurden. Nicht gegen die eigene Bevölkerung. Drei Gürtel, die die Bevölkerung zusammenhalten sollten und die es taten, sechs- oder siebenhundert Jahre lang, oder waren es mehr? Sie hielten Sprache, Trachten, Gewohnheiten zusammen bis jetzt, wo alles zerbröselt, wo die Menschen, trotz der Grenzen und der Mauern, die um sie gebaut wurden, abhauen, neue Sprachen oder neue Dialekte der eigenen Sprache lernen müssen.

      Der Wein und die Spuren im Schnee

      Der Wein wurde aus dem Keller geholt, Alexandru wusste noch genau, wie das ging. Mit einem Gummischlauch zog man im Keller den Wein, der vom Schwiegervater im Herbst gemacht wurde, aus der bauchigen 25 Liter Flasche mit ganz dicken grünen Glaswänden in Literflaschen und hatte dabei jedes Mal einen Schluck von dem Wein sicher. Dann ging man die Treppen hoch und stellte den Wein auf den Tisch. Dies wiederholte sich etliche Male. Der Wein schmeckte ihnen, er war weich und nicht sehr süß, Victor war sehr stolz auf seine Weinmacherkunst. Früher holten sie den Wein von einem Siebenbürger Sachsen aus Agârbiciu, deutsch »Arbegen« und sächsisch »Arbäjen« im Kreis Hermannstadt, Gemeinde Frauendorf. Herr Hermann, ein kräftiger Mann mit immer roten Wangen, erwartete sie und führte sie ins Haus, ins vordere Zimmer, wo keiner schlief, wo aber die Gäste empfangen wurden. Dort gab es jedes Mal große Platten mit geräucherter Wurst, in Schmalz eingelegtes Schweinefleisch, Scheiben von einem dicken weißen Speck und ein wunderbar duftendes Bauernbrot. Den Anfang machte eine Runde Zwetschgenschnaps, und dann wurden mit jedem Happen die Weine probiert, die Herr Hermann benannte: Riesling, Mädchentraube, Muskateller. Einmal durften sie alle auf den Kirchturm, wo die ganze Gemeinde ihre Vorräte aufbewahrte. Oben unter dem Kirchturmdach hingen hunderte geräucherte Würste, Riesentafeln Speck, geräucherter Schinken, alles unmarkiert. Jeder aus dem Dorf wusste genau, wem was gehörte und es fehlte nie jemandem etwas von seinen Vorräten. All das ging Alexandru durch den Kopf, als er die Treppen vom Keller aus in die Küche hochlief, die er so mochte, vielleicht auch, weil er an der Gestaltung dieser Küche damals sehr beteiligt war. Er war so begeistert von Victors Idee gewesen, einen Schreiner aus Rasinari, »Städterdorf« genannt, mit dem Bau der Küchenmöbel zu beauftragen, dass er, als alle ins Bett gingen, Stifte in die Hand nahm und am großen Küchentisch sitzend Möbel entwarf, so wie er sie in deutschen und französischen Zeitschriften gesehen hatte. Er zeichnete, bis die Sonne durch das Küchenfenster schien und er geblendet wurde von den Sonnenstrahlen und vom stechend weißen Schnee im Hinterhof und im Garten. Der Schnee lag da noch unberührt, damals.

      Die amerikanischen Zigaretten wurden aus dem Wagen geholt, die Müdigkeit war verflogen. Das erste Wiedersehen nach drei Jahren. Man hatte so viel zu erzählen im Schutze der Nacht, die letzten drei Jahre hatten so viel gebunkert. Wie ein Hamster, der seine Vorräte versteckt, hatte man jeden Eindruck, jedes Geschehnis aufbewahrt, um es jetzt zu erzählen. Im Schutze der Nacht.

      In der Morgensonne konnte man es am nächsten Tag deutlich sehen. Der Baum – mitten im Garten. Unter ihm konnte man, ohne gehört zu werden, über alles sprechen, ohne dass das Ohr der Wanze im Telefon oder in der Mauer davon Wind bekam. Mal voller Blüten, weiß über den Köpfen der miteinander Sprechenden wie eine runde, gezipfelte Schlafmütze, die das Schweigen oder das Geredete, die Geheimnisse oder das Unausgesprochene aufsog und nicht weitergab. Mal kahl, die Zweige wie Antennen der »Staatsnacht« oder der Staatsmacht gen Himmel gerichtet, die mit breitem Stiefel ungeniert in dem neuen Schnee ihre Spuren hinterließ. Das waren sichtbare, beabsichtigte Zeichen. Wir waren hier, wir haben alles gehört. Dort, wo ihr eure Geheimnisse der großen Schlafmützenkrone anvertraut habt. Spuren der breiten Stiefel zum Baum hin und um den Baum herum, Zigarettenstummel um den Baum herum. Der Blick des rauchenden Stiefeltragenden direkt durch das Küchenfenster auf den Tisch gerichtet, wo alle gesessen hatten. Wo sie ihre Geschichten, ihre Ängste, ihre Pläne ausgebreitet hatten. Im Schutze der Nacht, geschützt von der »Staatsnacht«, oder besser der Staatsmacht, dachten sie.

      Die Anrufe

      Das verwanzte Telefon klingelt um elf Uhr, gleich am nächsten Morgen. Mia weiß es ganz genau, das Telefon ist verwanzt, sie selbst hat früher bei der Telefongesellschaft gearbeitet.

      Man wolle Alexandru sprechen. Wer da sei? Oberst Soundso.

      »Ich bin aus diesem Grunde aus diesem Land geflohen, ich möchte keine Gespräche mit Ihnen führen!« Aufgelegt.

      Zehn Minuten später. Man wolle Alexandru sprechen, Oberst Soundso.

      »Sie haben es doch gehört, er möchte nicht mit Ihnen sprechen, war es nicht deutlich genug?«, sagt Mia mit einem am Anfang zögerlichen Ton und dann immer entschlossener, als machte sie ihr eigener Mut mutiger. Alexandru nimmt den Hörer in die Hand, Mias Mut gibt ihm Kraft.

      »Und wenn Sie noch einmal anrufen, dann …«, was dann? Wie kann er in diesem Land, in dieser Stadt, die er so geliebt hat, die von der Staatsmacht umzingelt und vermauert ist, zeigen, dass er über das eigene Schicksal selbst entscheiden kann?

      »… dann packe ich meine Leute und meine Sachen ins Auto und fahre zurück!« Lächerliche Antwort, er hat Angst, nichts anderes. Flüchten, erneut flüchten vor einer Stimme am Telefon, die nichts anderes tut, als ihn eine vergessen geglaubte Ekelkralle im Nacken spüren zu lassen. Eine Machtlosigkeit, die ihn grau und dumpf fesselt. Und dann die Vorstellung dessen, was unterwegs zurück in die Freiheit passieren könnte. Die Kralle drückt immer heftiger in seinen Nacken. Soll er aufgeben, soll er versuchen, wie damals zu sprechen, als er verhört wurde und stundenlang sprach, ohne etwas zu sagen, soll er so tun als ob? Einen Unfall zu inszenieren, wäre für diese Machtkrake ein Kinderspiel. Bericht in der lokalen Zeitung: »Drei Ausländer: Mann, Frau, Kind gestorben in einem fürchterlichen Unfall auf der E 34. Erhöhte Geschwindigkeit und Trunkenheit am Steuer.«

      Er legt auf und wartet. Nichts. Bis zum nächsten Tag nichts.