zu den Hackendahls, schon seit vielen Jahren, so haben sich Otto und sie kennengelernt, liebengelernt. Ohne daß je ein anderer etwas merkte, selbst nicht die listige Eva. Gertruds lebhaftes Gesicht spiegelt alles wider, was er erzählt, mit abgerissenen Ausrufen begleitet sie seine Worte: »Sehr gut. Ottchen!« – »Das war richtig, was du da gesagt hast!« – »Und du hast das Schloß gleich aufgebracht? Großartig!«
Er sieht sie an, jetzt ist er frei, er hat nun selbst das Gefühl, als habe er einiges verrichtet, er, der Getriebene, der zwischen den Mühlsteinen Zerriebene.
»Aber was wird Vater sagen, daß Erich weg ist?« fragt er schließlich. »Und Eva, die so geizig ist, was wird die für ein Geschrei machen?!«
»Eva ...?! Eva kann ja gar nichts sagen, wenigstens zum Vater nicht. Es ist ja alles gestohlenes Geld, sie würde sich bloß selbst verraten! Nicht wahr?«
Er nickt langsam, jawohl, das versteht er.
»Aber der Vater – wegen Erich?« fragt er noch einmal, hoffend, daß sie ihm auch diese Last erleichtern wird.
Sie sieht ihn nachdenklich an mit ihrem sanften Taubenblick.
»Der Vater«, sagt sie – und die Gestalt des eisernen Gustav, die immer über ihrem kleinen Leben steht, richtet sich groß hinter ihnen auf. »Der Vater«, sagt sie und lächelt, ihm Mut machend, »der Vater wird sehr traurig sein – auf Erich ist er doch immer am stolzesten gewesen. Sag kein Wort gegen Erich, auch nicht, daß er Evas Geld genommen hat. Es wird dem Vater schon so schwer genug sein. Und gib ruhig zu, daß du die Schlösser aufgemacht hast, sag, hör zu, Otto, merk dir das, sag ihm: ›Ich hätte dich ja auch aus jedem Keller rausgeholt, Vater!‹ – Behältst du das?«
»Ich hätte dich ja auch aus jedem Keller rausgeholt, Vater«, wiederholt er schwerfällig. Und dann: »Aber das ist ja wahr, Tutti, das stimmt genau: Ich hätte Vater doch nicht eingesperrt gelassen!«
Er blickt sie freudig an.
»Siehst du, Otto! Ich sage ja nur, was du selbst denkst, du kannst es nur nicht so ausdrücken.«
»Aber was wird Vater dann tun, Tutti?«
»Das kann man nicht wissen, Otto, bei Vater kann man es nie genau wissen, weil er jähzornig ist ...«
»Vielleicht schmeißt er mich raus. Und was dann? Sollst du mich auch noch satt machen?«
»Aber, Otto, du bekommst doch jede Stunde Arbeit! Du gingst den Tag über in eine Fabrik als ungelernter Arbeiter oder auf einen Bau als Handlanger ...«
»Ja. Das könnte ich wohl. Doch, das ginge.«
»Und wir wohnten ganz zusammen, und dein Vater müßte dir deine Papiere geben, und wir könnten ...«
»Nein, das nicht. Ohne Vaters Willen heirate ich nicht. Es steht in der Bibel ...«
Es ist seltsam, dieser schwache Mensch ist in einem Punkt unnachgiebig: Er will nicht gegen den Willen des Vaters heiraten. Zu Anfang ihrer Liebe hat sie ihm viele Male gesagt, daß er sich die notwendigen Papiere hinter des Vaters Rücken besorgen kann, sie wird das Aufgebot bestellen. Was ändert denn eine standesamtliche Trauung, wie kann sie dem Vater weh tun, der doch nichts von ihr erfährt ...?!
Aber nein! Hierin ist er unerschütterlich. Aus dem Religionsunterricht der Volksschule, aus der Konfirmandenlehre bei Pastor Klatt, aus den Urgründen seiner dunklen, trüben Seele kommt ihm das Gefühl: Es bringt Unheil, ohne des Vaters Segen zu heiraten. Er braucht des Vaters Segen. An den die anderen nie denken.
Und sie weiß das, sie hat auch das verstanden. Sie hat begriffen, daß in der Brust dieses einen verachteten Sohnes der Vater nicht nur der Gott der Rache, sondern auch der Liebe ist – daß dieser verachtete Sohn den Vater am stärksten liebt. Daß sie trotzdem immer weiter hofft auf die Trauung, nicht ihret-, sondern Gustävings wegen, der schon den Vornamen vom Großvater trägt, aber auch einmal seinen »ehrlichen« Namen bekommen soll – das kann ja nicht anders sein.
Darum ersehnt sie die Trauung. Nur darum! »Könntest du es dem Vater nicht wenigstens einmal andeuten, Otto?« hat sie oft gesagt. »Sprich doch wenigstens einmal mit mir vor seinen Augen, wenn ich bei euch auf Arbeit bin.«
»Ich will es versuchen, Tutti«, hat er geantwortet und hat doch nie auch nur einen Ansatz zum Sprechen gemacht.
Dies ist der einzige Punkt, in dem sie mit ihm nicht einig ist, den sie immer wieder zur Sprache bringt, obwohl sie weiß, daß sie ihn damit quält. Sie will es gar nicht, aber dies kommt ihr stets von neuem auf die Zunge, wie jetzt eben, ganz ohne daß sie es wollte.
Rasch sagt sie darum: »Nein, du hast recht. Grade jetzt wäre es falsch, wo Vater so viel andere Sorgen hat.«
Sie sieht vor sich hin. Schüchtern kommt seine Hand über den Tisch zu ihrer hin. »Du bist doch nicht böse?« fragt er ängstlich.
»Nein, nein«, versichert sie eilig. »Nur ...«
»An was denkst du?« fragt er, als sie nicht weiter spricht. »Ich denke an den ermordeten Prinzen von Österreich«, sagt sie, »und daß die Leute meinen, es gibt Krieg ...«
»Ja ...?« fragt er verständnislos.
»Du müßtest doch mit in den Krieg, nicht wahr?«
Er nickt.
»Otto«, sagt sie eindringlich und drückt seine Hand. »Otto – würdest du denn auch in den Krieg gehen, ohne mich geheiratet zu haben? – Oh, Otto, ich sage es nicht meinetwegen! Aber Gustäving würde ja nie einen Vater gehabt haben, wenn dir etwas geschähe ...«
Er sieht nach dem friedlich spielenden Kind hin.
»Wenn es einen Krieg gibt, Tutti, dann heirate ich dich«, sagt er. »Das verspreche ich dir.« Er sieht das Leuchten ihrer Augen, er sagt schwach: »Aber es gibt ja keinen Krieg ...«
»Nein! Nein!« ruft sie hastig, selber erschrocken von den eigenen Wünschen. Nur das nicht! Nicht um den Preis!
18
Wie alle Abende hatte der eiserne Gustav auf seinem Fuhrhof gestanden, hatte mit den heimkehrenden Tagesdroschken abgerechnet und die Nachtdroschken zur Arbeit hinausgeschickt, wie alle Abende. Vielleicht war er noch ein wenig wortkarger als sonst gewesen, aber darauf war nicht viel geachtet worden heute, in der allgemeinen Aufregung. Denn aufgeregt waren die Droschkenkutscher an diesem Abend.
»Es gibt Krieg!« hatten die einen gesagt.
»Quatsch!« hatten die anderen gerufen. »Der Kaiser ist gleich wieder von Kiel weiter gedampft – der würde hübsch nach Berlin kommen, wenn es Krieg gäbe!«
»Aber die Kieler Regatta ist abgesagt.«
»Weil Trauer ist, nicht wegen Krieg. Er ist doch mit dem verwandt.«
»Der ›Lokalanzeiger‹ hat geschrieben ...«
»Du mit deinem dusseligen Skandalanzeiger! Der ›Vorwärts‹ sagt, wir haben hundertzehn Sozialdemokraten im Reichstag, und die sind sich mit den Proletariern der Welt einig: Wir wollen keinen Krieg.«
»Ruhe!« befahl Hackendahl.
»Wir bewilligen keinen Pfennig für die Kriege von den Kapitalisten ...«
»Ruhe da!« befahl Hackendahl noch einmal. »Auf meinem Hof will ich solch Geschwätz nicht hören.«
Sie schwiegen, aber hinter seinem Rücken flüsterten sie weiter, und das kümmerte ihn diesmal nicht, sosehr es ihn sonst geärgert hätte. Es freute ihn heute auch nicht die Tageskasse, die wieder ungewöhnlich hoch war: Man merkte, es war etwas los in Berlin. Die Leute waren unruhig, sie hielten es nicht aus in ihren Wohnungen, sie liefen auf die Straße, sie fuhren vom Reichstag zum Schloß, vom Schloß zum Kriegsministerium, vom Kriegsministerium ins Zeitungsviertel. Sie wollten etwas hören, etwas sehen. Aber das Schloß war dunkel, die Jacht des Kaisers fuhr mit ihrem Herrn dem Nordkap zu