die Menge drängen sich Verkäufer mit Würstchen, Zeitungen, Eis. Aber sie verkaufen nichts, die Leute haben keine Zeit zu essen, sie wollen auch nicht mehr die Nachrichten vom Morgen lesen, die längst überholt, unwahr geworden sind. Sie wollen die Entscheidung! Sie reden abgerissen, erregt miteinander, jeder weiß etwas. Aber dann – mitten im Gespräch – verstummen sie, alles vergessend starren sie zu den Fenstern des Schlosses hinauf. Zu dem Balkon, von dem heute vormittag der Kaiser gesprochen haben soll ... Sie versuchen, durch die Scheiben zu spähen, aber die blitzen, blenden in der Sonne; und wo sie hindurchspähen können, sehen sie nur gelbe, matte Vorhänge hängen.
Was geht dort drinnen vor? Was wird in jenem Dämmer beschlossen – über jeden Wartenden, Mann für Mann, Weib für Weib, Kind für Kind? Sie haben vierzig Jahre im Frieden gelebt, sie können es sich nicht vorstellen, was das ist: ein Krieg ... Aber doch ahnen sie, daß ein Wort aus dem stummen, verschlossenen Haus dort alles ändern kann, ihr ganzes Leben. Und sie warten auf dieses Wort, sie fürchten es, und sie fürchten doch auch, daß es ausbleiben könnte, daß so viele Wochen Wartens umsonst durchwartet sein könnten ...
Plötzlich wird es ganz still in der Menge, als halte sie den Atem an ... Es ist nichts geschehen, noch ist nichts geschehen, nur die Turmuhren schlugen, von nah und fern, schnell und langsam, hoch und mit tiefem Brummton: Es ist fünf Uhr ...
Noch ist nichts geschehen, sie stehen und warten atemlos ...
Da öffnet sich das Tor des Schlosses, sie sehen es aufgehen, langsam, langsam – und heraus tritt: ein Schutzmann, ein Berliner Polizist, in der blauen Uniform, mit Pickelhaube ...
Sie starren ihn an ...
Er klettert auf eine Treppenbrüstung, er bedeutet ihnen, daß sie still sein sollen.
Aber sie sind ja still ...
Der Schutzmann nimmt langsam den Helm ab, hält ihn vor die Brust. Sie verfolgen atemlos jede seiner Bewegungen, obwohl es nur ein ganz gewöhnlicher Schutzmann ist, wie sie ihn alle Tage auf allen Straßen Berlins sehen ... Und doch prägt er sich ihnen unauslöschlich ein. – Sie werden in den nächsten Jahren ungeheure und schreckliche Dinge sehen müssen, aber sie werden nie vergessen, wie dieser Berliner Schutzmann seinen Helm abnahm, ihn vor die Brust hielt!
Der Schutzmann tut den Mund auf, ach, sie hängen an seinem Munde – was wird er sagen? Leben oder Tod, Krieg oder Frieden?
Der Schutzmann tut den Mund auf und sagt: »Auf Befehl Seiner Majestät, des Kaisers, teile ich mit: Die Mobilmachung ist befohlen.«
Der Schutzmann schließt den Mund, er starrt über die Menge, dann setzt er ruckartig – wie eine Puppe – den Helm wieder auf.
Einen Augenblick schweigt die Menge, schon fängt es in ihr zu singen an, einzelne. Hunderte, Tausende von Stimmen vereinen sich: »Nun danket alle Gott, mit Herzen, Mund und Händen ...«
Ruckartig, wie eine Puppe, nimmt der Schutzmann den Helm wieder ab.
2
Über die Linden rasen die Automobile. Offiziere stehen in ihnen – sie schwenken Fahnen. Sie legen die Hände hohl an den Mund, sie rufen: »Mobil! Mobil!«
Die Menschen lachen glücklich, sie jubeln den Offizieren zu. Blumen fliegen durch die Luft, die jungen Mädchen reißen ihre großen Strohhüte vom Kopf, sie schwingen sie an den Bändern, sie rufen begeistert zurück: »Mobil! Mobil! Krieg!!«
Dies ist die Stunde der Offiziere, vierzig Jahre lang haben sie öden Gamaschendienst kloppen müssen, sie waren dessen so überdrüssig! Die Leute drehten sich kaum noch um nach ihnen, sie waren so überflüssig! Jetzt jubelt ihnen alles zu, die Augen leuchten – sie werden ja für Freiheit und Frieden eines jeden kämpfen und vielleicht sterben!
»Daß ich das noch erleben darf!« ruft der alte Hackendahl im Strudel der Begeisterten. »Nun wird alles wieder gut!«
An seinem einen Arm hängt Heinz, am anderen Eva, sie treiben in der Menge, sie lachen. Übermütig wirft Eva den Offizieren Kußhände ins Auto.
»Oh, Vater!« ruft Heinz und drückt den Arm des Vaters fester gegen seine Brust.
»Was denn, Bubi?« Hackendahl muß sich tief hinabbeugen, um in dem Trubel den Sohn zu verstehen.
»Vater ...« Er ist ganz atemlos. »Vater ...« Er stößt es hervor: »Ob ich nicht auch mit darf?«
»Was – mit?« Der Vater versteht ihn nicht.
»Mit heraus ... in den Krieg ... an den Feind! Ach, bitte, Vater!«
»Aber, Bubi«, sagt der Vater. Er spottet und ist doch glücklich über seinen Sohn: »Du bist doch erst dreizehn! Du bist doch noch ein Kind ...«
»Ach, Vater, es geht sicher, wenn du es erlaubst! Bring mich bei deinem alten Regiment an, bei den Pasewalkern ... Es gibt doch Trommlerjungen, ich weiß das!«
»Trommlerjungen! Und so was will der Sohn von einem altgedienten Wachtmeister sein! Trommlerjungen gibt es bei uns Deutschen nicht ... vielleicht bei den Rothosen ...«
»Ach, Vater!«
»Faß mich an, Evchen, faß mich fest unter! Wir wollen machen, daß wir nach Haus kommen! Wir müssen Otto Bescheid sagen – Otto weiß doch noch von nichts! Wenn heute Mobilmachung ist, muß er sich spätestens morgen stellen! Oder heute noch ... Ich weiß es nicht! Rasch, wir wollen nach Haus – ich muß das sofort in seinen Papieren nachsehen!«
Sie gehen gegen den Strudel an, oft kommen sie nicht von der Stelle. Sie müssen sich aneinander festhalten, um nicht getrennt zu werden.
Heinz sieht den Vater von der Seite an. »Du, Vater ...«
»Ja?«
»Vater, sei nicht böse, aber muß nicht auch Erich zu den Soldaten?«
»Muß ...?« Der Vater antwortet ganz bereitwillig, als sei Heinz ein Großer. Er hat eben auch darüber gegrübelt. »Muß – nein. Er ist doch erst siebzehn! Aber er würde sich freiwillig stellen können ...«
»Der Erich, Vater, freiwillig ...?«
»Wieso nicht? Redest du jetzt auch schlecht von deinem Bruder, Heinz? Jetzt gibt es das nicht, jetzt müssen wir alle zusammenhalten. Jetzt weiß einer wieder, daß er zum andern gehört – der Erich auch.«
»Ja, Vater, ich glaube es ja auch, es ist alles jetzt ganz anders!«
»Ja, ganz anders! Paß auf, jetzt kommt der Erich auch zurück. Jetzt kommt er ganz von selbst. Er muß ja, ich habe ja seine Papiere. Die braucht er jetzt. Aber auch so ... er würde auch so kommen, Bubi, er weiß ja jetzt, daß man nicht allein leben kann. Einer gehört zum anderen, alle gehören zusammen – wir Deutsche!«
»Ja, Vater.«
»Es hat wohl so sein sollen, daß wir ihn all diese Wochen vergeblich gesucht haben. Er hat erst lernen müssen, was das ist, wenn man ganz allein ist, niemanden hat. Jetzt gehören wir alle zusammen. Siehst du, wie die Eva mit dem Herrn lacht und spricht?! Eben haben sie sich noch nicht gekannt, und gleich kennen sie sich nicht mehr. Aber jetzt fühlen sie, daß sie zusammengehören, daß sie eine Sache haben – Deutsche! Paß auf, wenn wir nach Haus kommen, sitzt der Erich vielleicht schon bei Muttern und wartet auf uns. Dann aber soll kein Wort mehr von vergangenen Dingen gesprochen werden, Bubi, verstehst du? Alles ist vergeben und vergessen! Jetzt gibt's so was nicht mehr. Und ihr vertragt euch gefälligst auch, verstanden, als Brüder! Jetzt sind wir alle ... Halt, Eva, wo ist Eva? Dort ... Eva, hier sind wir doch! Guck einer das Mädchen! Sieht gar nicht, wo wir stehen! Eva!« Er legt die Hände an den Mund. »Eva – Hackendahl! Hak-ken-dahl! Hierher!«
Eine ganze Schar junger Männer kommt die Linden entlang, sie haben sich ineinander eingehakt, sie versuchen, so gut es eben im Gedränge geht, nach dem Takt zu marschieren. Dazu singen sie: »Siegreich wollen wir Frankreich schlagen ...«
Einer der Marschierenden