ganzen anderen Welt ...«
Sie standen eine Weile schweigend, auf der Straße schwoll der Jubel und Trubel und sank wieder, schwoll und sank, es war wie Brandung des Meeres ...
Der große Mann bewegte sich, wie aus einem Traum. »Du mußt jetzt gehen, Erich«, sagte er ganz ruhig. »Ich kann dich nicht länger bei mir behalten.«
Erich machte eine Bewegung.
»Nein, Erich, ich schicke dich nicht im Ärger fort. Aber ich bin Abgeordneter der Sozialdemokratischen Partei, ich kann keinen Kriegsbegeisterten als Sekretär um mich haben. Das geht nicht. Als du vor vier, fünf Wochen zu mir kamst, ratlos, hilflos, da dachte ich, ich könnte dir helfen. Du würdest einer der Unseren werden, ein Mitarbeiter am großen Werk der Befreiung der Arbeiterschaft ...«
»Sie waren sehr gut zu mir, Herr Doktor«, sagte Erich stockend.
»Du hattest Schlimmes getan, Erich, und du wolltest noch Schlimmeres tun, das Schlimmste, was ein Mensch tun kann: dich wissentlich, willentlich in den Dreck legen und verkommen. Ich kannte dich aus den Debattierversammlungen, ich kannte deinen schnellen, scharfen Geist, etwas Kritisches, das dich mit deinem behaglichen Daheim unzufrieden sein ließ. Du schienst mir ein Umstürzler, ein Rebell – und wir brauchen Rebellen.«
Erich machte eine hastige Bewegung, besann sich und schwieg.
»Du willst sagen«, sprach der Abgeordnete, »daß du noch immer ein Rebell bist. Aber du bist es nicht, denn du willst in einen Krieg ziehen, der die bestehende schlechte Ordnung verteidigt. Denn du willst doch mit, nicht wahr? Kriegsfreiwilliger – ja?«
Erich nickte trotzig. »Ich muß«, sagte er. »Ich fühle, das Volk will diesen Krieg, nicht ich allein!«
»So?« fragte der Abgeordnete spöttisch. »Wollen wir jetzt schon einen Krieg? Ich dachte, wir verteidigen uns. Nun, wir Sozialdemokraten jedenfalls wollen ihn nicht, wir werden gegen Regierung und Kriegskredite stimmen. So werden die Arbeiter in aller Welt tun – und es wird aus sein mit euerm Krieg!«
Er schnippte mit den Fingern.
»Es wird nicht aus sein mit dem Krieg – und ihr werdet auch für den Krieg stimmen!« rief Erich. »Sie haben ja das Volk noch gar nicht gesehen, Sie sitzen auf den Büros, auf Fraktionsversammlungen, aber das Volk, das Volk ...«
»Natürlich«, sagte der Mann, »nun erzähle mir noch, daß ich das Volk nicht kenne. – Aber, Erich, wir wollen uns doch nicht im Streit trennen. Du wirst jetzt nach Haus gehen, Erich. Hier«, er schloß den Schreibtisch auf, »sind die vierhundertachtzig Mark, die du mitgebracht hattest – gib sie deiner Schwester zurück. – Es ist gleichgültig«, rief er ungeduldig, »ob das Geld deiner Schwester rechtmäßig gehört oder nicht, du sollst unbelastet von uns heimkehren – dorthin. Und hier hast du achtzig Mark für deinen Vater – du kannst sie unbesorgt nehmen, es ist ungefähr das, was ich als dein Gehalt gedacht hatte, du hast sie redlich verdient.« Leiser: »Ich habe mich immer gefreut, wenn ich dich hier sah ...«
»Sie sind sehr gut zu mir, Herr Doktor«, sagte Erich wieder.
»Nein, ich bin nicht gut zu dir. Ich dürfte dich nicht gehen lassen – in dieses Abenteuer. Aber ich habe keine Zeit, um dich zu kämpfen. Jetzt muß dieser Krieg verhindert werden, das ist mein Kampf.«
Sie standen einen Augenblick schweigend.
»Vielleicht auf Wiedersehen, Erich!« sagte der Doktor dann freundlich.
»Auf Wiedersehen, Herr Doktor«, antwortete Erich leise.
5
Zum erstenmal seit langen Wochen hatte die Familie Hackendahl wieder einmal vollzählig um den Abendbrottisch gesessen, und der alte Vater hatte so wenig eisern in die Runde geschaut, wie es ihm nur möglich war. Alles war wirklich vergeben und vergessen, keinerlei unangenehme Fragen waren gestellt worden. Was der Friede veruneinigt hatte, der nahende Krieg hatte es zusammengeführt.
Sophie war auch heimgekommen, vom Krankenhaus war sie auf einen Sprung herübergelaufen, zu erfahren, welche Veränderungen der Krieg der Familie Hackendahl bringen würde.
»Also Otto rückt schon morgen früh ein«, berichtete Vater Hackendahl zufrieden, »und Erich werden sie wohl auch gleich dabehalten, wenn er sich freiwillig stellt. Und Sophie, du denkst also auch bald an die Front zu kommen, wenn du auch erst Lehrschwester bist?«
»Und ich«, rief Bubi. »Du sagst nein, Vater, aber ich sage, sie nehmen mich doch. Jetzt wird jeder Mann gebraucht.«
Alle lachten, und Hackendahl meinte: »Es wäre schlimm um uns bestellt, wenn wir schon Kinder wie dich brauchten! Das haben wir Gott sei Dank noch nicht nötig. – Aber, hört mal, denkt ihr denn gar nicht an mich?!«
»An dich, Vater? Wieso?«
»Na, ich werde mich doch natürlich auch freiwillig melden.«
»Aber, Vater, du bist doch ein alter Mann!«
»Ich alt? Ich bin erst sechsundfünfzig! Was ihr könnt, kann ich noch allemal!«
»Aber dein Geschäft, Vater – die Droschken!«
»Was geht mich das Geschäft an? Jetzt geht das Vaterland vor. Nein, Kinder, das ist ausgemacht, ich gehe mit.«
»Immer hat Vater gesagt«, jammerte die Mutter, »er kann sich nicht einen Tag freinehmen, das Geschäft geht nicht ohne ihn. Und jetzt plötzlich kann er ganz einfach in den Krieg!«
»Wirst du dich eben um das Geschäft kümmern, Mutter!«
Wieder lachten sie.
»Ich meine das im Ernst. Wer, denkt ihr denn, soll jetzt all die Arbeit von den Männern machen, die ins Feld ziehen? Doch nur ihr Frauen! Das wird schon gehen, Mutter. Eva hilft dir. – Was ist mit dir, Eva, du sitzt so blaß da und redest keinen Ton ...?«
»Ach, nichts, Vater. Es ist wohl nur die Hitze und das Gedränge beim Schloß gewesen ...«
»Vater«, fing Heinz wieder an. »Ob ich wohl noch mitkomme? Wie lange, denkst du denn, kann der Krieg dauern ...?«
Wieder lachte der Vater. »Du Grünschnabel! Sechs Wochen, höchstens bis Weihnachten – dann bist du immer noch dreizehn! Nein, Weihnachten feiern wir schon wieder zu Hause. Bei den modernen Kampfmitteln ...«
So ging die Unterhaltung. Aber Vater Hackendahl merkte gar nicht, daß es eigentlich nur er war, der sprach, daß die anderen alle recht seltsam schwiegen.
Mit gesenktem Kopf saß Erich am Tisch, jawohl, nun war er wieder zu Hause, es war alles vergeben und vergessen. Das Geld war zurückgezahlt worden, morgen würde er zum Direktor gehen und sich wegen Zeugnis und Abschlußprüfung erkundigen – und dann zu den Soldaten! Wie eh und je saß er in der Familie, sie trugen ihm nichts nach – aber schon jetzt, nach einer kurzen Stunde, lag es wie ein Druck auf ihm, es würgte ihn im Halse. Diese altgewohnten, diese bis zum Überdruß gesehenen Gesichter, das ewige Jammern der Mutter, die Art, wie der Vater das Messer benutzte, der ständige Pferdestallgeruch um Otto – ach, es war eine Kette, die sich an sein Bein legte!
Als er beim Anwalt gewesen war, hatte er einfach nicht verstehen können, daß er, Erich, ein gemeiner Hausdieb gewesen war, feige Geld gestohlen hatte, um damit zu Alkohol und Weibern zu laufen ... Nun saß er wieder hier, und schon verstand er es. Man tat hier ja alles, nur um aus dieser Umgebung herauszukommen, aus diesem Mief und Muff jämmerlichster Kleinbürgerlichkeit! War das derselbe Krieg, von dem Vater jetzt so platt und dumm daherredete (»Wir werden sie schon dreschen, die Rothosen!«), und der Krieg, von dem er zum Anwalt gesprochen hatte? Nein, es war ein ganz anderer Krieg! Dies hier, dies Heim, diese Menschen waren nicht zu verteidigen, so etwas mußte man einreißen, das war nicht Deutschland!
Eva, die Stumme, die Blasse, Eva aber, die sonst immer mit dem Munde vorweg war, saß vor ihrem Teller, sie stocherte mit der Gabel, das Essen quoll ihr im Munde. Von ferne hörte sie