harten Fingerkuppen der Näherin.
»Otto«, bittet sie, »sieh mich doch an ...«
Wieder will die Hand entweichen, und wieder läßt sie sich halten.
»Otto!« bittet Tutti.
»Ich schäme mich so ...«, flüstert er.
»Warum denn, Otto? Hast du Angst vor dem Militär?«
Er schüttelt hastig den Kopf.
»Vor dem Krieg ...?«
Wieder Kopfschütteln.
»Aber warum schämst du dich denn, Otto?«
Er spricht nicht, er macht wieder einen Versuch, seine Hand zu befreien, er sagt: »Ich glaube, ich muß gehen.«
Sie kommt rasch um den Tisch, sie setzt sich auf seinen Schoß. Sie flüstert: »Komm, sag es mir ganz leise, warum du dich schämst ...«
Er hat nur einen einzigen, idiotischen Gedanken im Kopf. »Ich glaube, ich muß nach Haus«, sagt er und will sich von ihr frei machen. »Vater schilt sonst ...«
Sie hat ihre Arme um seinen Hals gelegt. Nur schwach glimmt der Lebensfunke in ihr, aber rein. »Mir kannst du doch sagen, warum du dich schämst, Ottchen«, flüstert sie. »Ich schäme mich ja auch nicht vor dir ...«
»Tutti«, sagt er. »Ach, Tutti ... Ich taug ja nichts. Vater ...«
»Ja, sag ... sag, Otto!«
»Ich habe die Papiere nicht ...«
»Welche Papiere?«
»Die Papiere! Ich habe solche Angst – Vater erlaubt es nie!«
Lange, lange Stille. Sie liegt so ruhig an seiner Brust, klein, schwach, zerbrechlich ... Als schliefe sie. Aber sie schläft nicht, sie hat die Augen weit geöffnet, diese Augen mit dem sanften und doch glühenden Taubenblick ... Sie versucht, seinen Augen zu begegnen, seinen scheuen, blassen Augen ...
Plötzlich steht er auf. Er hält sie im Arm, er trägt sie wie ein Kind. Mit ihr auf dem Arm geht er im Zimmer herum, sie vergessend, sich vergessend, alles ...
Er murmelt mit sich, er spricht leise. »Ja, du«, sagt er etwa, »du denkst, du bist was. Aber daß der Rappe lahmt, das habe ich gesehen und nicht du ... Und daß der Piepgras dich beschummelt, das weiß nur ich, nicht du ... Aber das ist es nicht. Du willst überall sein, nicht nur in Haus und Stall, auch in Erich willst du sein und in Heinz und in Mutter. Was jeder Kutscher denkt, das willst du wissen, und es darf nur das sein, was du denkst. Als Junge habe ich mir mal eine kleine Wassermühle gebaut und sie unter der Leitung laufen lassen, und du hast mir die Wassermühle zertreten und gesagt, das ist Dreck, das braucht zuviel teures Wasser – das habe ich nie vergessen ...
Du und deine Kinder ... Aber deine Kinder wollen dich alle nicht, und ich will dich am wenigsten! Mich, denkst du, hast du am festesten, aber mich hast du gar nicht, nichts von mir. Bloß, daß ich tue, was du willst, damit ich dein Geschrei nicht mehr hören muß ...«
»Otto! Otto! Was redest du?« ruft sie in seinem Arm.
»Ja, du bist auch da. Ich weiß, du bist da, meine Gute, meine Einzige, mein ganzes Glück. Die Einzige, die mich nie getreten hat! Aber ich habe dich nie allein gehabt, auch hier ist er immer gewesen, noch drinnen, wenn wir beieinanderlagen, noch drinnen ...«
»Otto! Otto!!«
»Aber wenn es jetzt wirklich Krieg gibt, und ich mit muß, so will ich beten, daß mir ein Arm oder ein Bein abgeschossen wird, daß ich nicht mehr in seinem verfluchten Stall arbeiten muß, unter seinen Augen, daß ich irgendwoanders hingehen kann, wo ich ihn nicht sehe, ihn vergesse ...«
»Otto, er ist doch dein Vater!«
»Mein Vater ...? Er ist bloß der eiserne Gustav, wie die Leute sagen, und er ist noch stolz darauf! Aber man soll nicht stolz darauf sein, daß man eisern ist, denn dann ist man kein Mensch und kein Vater! Ich will nicht mehr nur sein Sohn sein, ich will ein eigener Mensch sein! Ganz wie die anderen alle!«
Einen Augenblick stand er aufgerichtet, schon verfiel er. »Aber es wird nichts, es wird nie etwas ... Ich habe gedacht, wenn Krieg wird, werde ich den Mut haben, zu Vater zu gehen. Aber auch jetzt wird es nicht.«
»Otto, mach dir doch um die Trauung keine Gedanken! Ich habe es doch nicht meinetwegen gesagt! Wir sind immer glücklich gewesen, das weißt du doch!«
»Glücklich, glücklich ...«
»Ach, Otto, es hat doch Zeit, wir lassen uns trauen, wenn du wiederkommst ...«
» Wenn ich wiederkomme ...!«
7
Es ist Morgen, sieben Uhr morgens. Morgen eines Wochentages, Arbeitstages.
Aber auf dem Hackendahlschen Fuhrhof stehen alle Droschken unbespannt nebeneinander, Gepäckdroschken und offene Droschken, Droschken erster und zweiter Klasse. Sie stehen nebeneinander, als ruhten sie aus, als gebe es keine Arbeit mehr für sie ...
Die Kutscher laufen umher in Sonntagsanzügen, sie ziehen die Pferde aus dem Stall. Vater Hackendahl steht an der Hofpumpe, er mustert jeden Gaul, sieht nach, ob er gut genug geputzt ist, läßt die Hufe schmieren, einen Trensenzügel verschnallen ... Die Pferde sind aufgeregt wie die Menschen, es macht sie unruhig, daß sie ihr gewohntes Geschirr nicht tragen. Sie werfen den Kopf, sie sehen nach den leeren Droschken hinüber, sie wiehern ...
»Hoffmann!« ruft Hackendahl dröhnend. »Kämm deiner Liese die Mähne noch mal durch! Zieh ihr'n Scheitel, mein Junge, dann sieht sie gleich schmucker aus!«
»Jawoll, Herr Hackendahl, det sich ein Franzose in sie verliebt!«
»Oder bei de Russen kricht se Läuse! Die jehen dann immer den Scheitel ruff un runter un singen: ›Ach, Niki, ach, Niki, wie biste doch so süß!‹«
»Ruhe!« befiehlt Hackendahl mit Donnerstimme in das brausende Gelächter hinein. Aber auch er ist aufgeregt und vergnügt, es ist ein großer Tag für ihn. »Maul halten! – Rabause, sind jetzt alle draußen?«
»Jawoll, Herr Hackendahl, zweiunddreißig Pferde. Elf Stuten, zwanzig Wallache und dann der Klopphengst ...«
»Den Klopphengst werden sie jedenfalls nicht nehmen ...«, sagt Hackendahl nachdenklich.
»Sie werden die mehrsten nich nehmen, Herr Chef«, meint Rabause tröstend. »Unsere Pferde sind zu leicht fürs Militär.«
»Ein Stücker zwanzig möchte ich auch behalten. Was denkt ihr, mit was ihr hier Droschke fahren wollt? Droschke muß auch im Kriege sein.«
»Und wo werden Sie die Kutscher hernehmen, Herr Chef? Elf Mann sind bloß noch da, die anderen sind schon alle bei den Preußen.«
»Als Kutscher nehmen wir junge Leute!«
»Junge Leute wird's bald auch nich mehr geben, Herr Chef, die Jungen stellen sich doch alle freiwillig ...«
»Na, dann muß Muttern eben auf den Bock«, ruft Hackendahl lachend. »Dann müssen die Frauen fahren, wenn die Männer weg sind ...«
»Herr Chef, Herr Chef, Sie machen ja Witze!« ruft Rabause auflachend. »Wenn ick mir das so vorstelle, Ihre Frau mit Ihrem Lackpott auf dem Bock – und dann die Leine in der Hand – nee, das möchte ich wirklich noch erleben ...«
»Dann los!« befiehlt Hackendahl mit Stentorstimme. »Abmarsch! – Komm, Bubi!« ruft er zum Fenster hinauf. »Wenn du noch mit willst, wird's Zeit!«
Heinz verschwindet aus dem Fenster, die Mutter winkt von oben, halb weinend, halb stolz. Es ist ein nie gesehener Anblick: Alle Pferde der Tag- und Nachtschicht verlassen gemeinsam den Fuhrhof, einhundertachtundzwanzig Hufeisen klappern auf dem Steinpflaster, die Schwänze wehen, die Köpfe werden geworfen ... Jawohl, es ist ein stolzer Anblick, es ist das letztemal,