– Was macht der Mann denn hier so allein im Busch? Das sieht doch ganz aus, als hätte er sich versteckt.«
Bubi knüpfte an seinem Schuhband, dabei schielte er.
»Vater, jetzt hat er was Weißes in die Tasche gesteckt, sieht ganz wie Papier aus. Ob er den Zug aufgeschrieben hat ...?«
»Was hat er den Zug aufzuschreiben?« knurrte Hackendahl.
»Die Soldaten, die Pferde, die Kanonen? Ob es ein Spion ist, Vater?!«
»Ruhig, Bubi, nicht so laut! Er sieht wieder her! Warum guckt er immer zu uns? Wir gehen ihn doch gar nichts an ...«
»Er hat ein schlechtes Gewissen, Vater – das ist ein Spion!«
»Man muß kaltblütig überlegen. Was hat er hier an der einsamen Stelle zu suchen? Wenn wir nicht ganz zufällig gekommen wären ...«
»Vater! Vater!! Jetzt pfeift er ... Ob noch mehr hier sind?«
»Möglich ist alles!«
»Vater, komm, wir gehen hin zu ihm, wir fragen ihn, was er hier sucht. Wenn er uns dann nicht ansehen kann, nehmen wir ihn fest.«
»Wir können ihn doch nicht festnehmen! Dann läuft er uns bloß weg.«
»Ich kann schneller laufen.«
»Aber du kannst ihn nicht allein festhalten – und ich komme nicht nach, wegen meines Herzens.«
»Siehst du? Doch dein Herz!«
»Ruhig jetzt! – Er hat gemerkt, daß wir ihn beobachten. Er haut ab. Gehen wir hinterher!«
»Los, Vater!«
»Langsam doch, Bubi, nur nicht den Kopf verlieren! Es muß ganz so aussehen, als gingen wir spazieren, er darf keinen Verdacht schöpfen ...«
»Er geht zur Chaussee rüber.«
»Natürlich, er will sich unter den Leuten verkrümeln ...«
»Den kriegen wir doch noch, Vater ...«
»Hast du gesehen, er hat sich wieder nach uns umgedreht! Er hat schon Angst!«
Vater und Sohn waren gleichermaßen im Feuer, Jugend wie Alter brannten lichterloh. Sie gingen dem verdächtigen Manne nach, sie taten so unverdächtig, daß sie dem Harmlosesten aufgefallen wären. Sie zeigten sich mit ausgestrecktem Arm eine Lerche im Himmelsblau und ließen den Kerl nicht einen Moment aus dem Auge. Wenn er langsamer ging, blieben sie stehen. Bubi pflückte eine Blume, Vater summte: »Gloria, Viktoria.« Dann gingen sie weiter, und der Mann, der sich nach ihnen umgedreht hatte, lief schneller ...
»Er reißt aus, Vater!«
»So schnell kann ich auch noch laufen!«
Aber Hackendahl keuchte schon. Es war nicht nur das Herz, es war nicht nur die Hitze – es war die Aufregung: ein Spion! Die Chaussee war ganz nah, die Chaussee war voller Leute ...
»Wir können einem Radfahrer Bescheid sagen«, tröstete Hackendahl. »Ein Radfahrer holt ihn immer ein ...«
Der Mann hatte die Chaussee fast laufend erreicht. Aber nun floh er nicht weiter, er hielt ein paar Männer an, er sprach aufgeregt mit ihnen ...
»Ob das seine Spießgesellen sind?« fragte Bubi.
»Wir werden gleich sehen ...«, stöhnte Hackendahl atemlos, blaurot.
Die Männer, der Verfolgte in ihrer Mitte, sahen den beiden stumm entgegen.
»Das sind sie!« rief der Mann aus dem Busch, unnötig laut.
Hackendahl trat auf die Straße, eng scharten die Männer sich um ihn und den Sohn, ihre Gesichter sahen drohend aus.
»Meine Herren!« sagte Hackendahl. »Das ist ein ...«
»Hören Se mal«, sagte ein junger blaßgesichtiger Mann, »wat haben Se denn da eben an der Bahn jemacht?«
»Der Mann da«, rief Hackendahl und wies mit dem Finger, »hat sich in einem Busch versteckt und Notizen über einen Militärzug gemacht!«
»Ich?!« schrie der andere. »So eine Unverschämtheit! Jetzt kehrt der den Spieß um! Ich habe genau gehört, wie Ihr Rotzjunge die Wagen gezählt hat – Sie Spion, Sie!«
»Sie sind ein Spion!« schrie Hackendahl und wurde noch röter. »Mein Junge hat genau gesehen, wie Sie was Weißes in die Tasche gesteckt haben!«
»Und Sie ...?!« schrie der andere. »Wer hat so getan, als pflückte er Blumen? Sehen Sie wie Blumenpflücken aus? Sie sind ja schon ganz rot vor schlechtem Gewissen!«
Verwirrt hatten die Männer die sich steigernden Beschuldigungen angehört. Unschlüssig sahen sie von einem zum anderen, tauschten fragende Blicke.
»Vielleicht sind alles beides Spione?« fragte einer. »Und wissen bloß nichts voneinander?«
»Warum haben Sie sich denn im Busch versteckt?« fragte ein ernster, bärtiger Mann den Blassen. »Das klingt doch sehr verdächtig.«
»Ich habe ein natürliches Bedürfnis befriedigt«, erklärte der Blasse.
»Was Weißes hat er in die Tasche gesteckt!« rief Hackendahl.
»Klopapier!« rief der andere. »Ich trage immer Klopapier bei mir – für alle Fälle!«
Und er wies es vor.
»Und warum hat Ihr Junge die Wagen gezählt?« fragte der ernste Bärtige wieder. »Das klingt doch sehr verdächtig.«
»Aber nur so!« rief Hackendahl zornig. »Jungen machen das immer so!«
»Das ist keine Begründung«, entschied der andere. »Kommen Sie mal mit – in der Frankfurter Allee werden wir schon einen Schutzmann treffen!«
»Aber ich kann mich ausweisen!« rief Hackendahl. »Ich habe Papiere!« Er schlug auf seine Tasche. »Ich war zur Pferdemusterung. Ich bin der Lohnfuhrunternehmer Hackendahl ...«
»Zeigen Sie mal her!« Der Bärtige sah die Papiere durch. »Das ist freilich in Ordnung – entschuldigen Sie bitte, Herr Hackendahl.«
»Bitte, bitte! Aber der Kerl ...«
»Bitte sehr, ich kann mich auch ausweisen! Ich gehe zur Musterung. Ich bin der Lehrer Krüger.«
Einige lächelten. Andere brummten ernst.
»Entschuldigen Sie auch, Herr Lehrer Krüger. Sie waren also alle beide keine Spione. Geben Sie sich die Hand ...«
»Herr Hackendahl, es tut mir sehr leid ...«
»Herr Krüger, Sie haben nur Ihre Pflicht getan ...«
»Gehen wir doch gemeinsam zurück ...«
Sie taten es, alle waren zufrieden, ein wenig gehoben. Nur Heinz zottelte unzufrieden nebenher; daß es nun doch kein Spion gewesen war, wurmte ihn sehr ...
9
Als Hackendahl mit Bubi nach Haus kam, wartete ein Zettel auf ihn. Es waren nur ein paar Worte: »Wir rücken heute um zwei aus. Vom Anhalter Bahnhof. Otto.«
Die Mutter war in ungewohnter Bewegung, sie deckte selber den Tisch, was sie seit vielen Jahren nicht mehr getan hatte, nur, damit alle schnell fertig wurden. Eva wirtschaftete in der Küche.
Gerade, als sich alle zu Tisch setzten, kam Erich. Er war den ganzen Vormittag von einer Kaserne in die andere gelaufen, hatte stundenlang warten müssen und war überall zurückgewiesen. »Wir können keine Leute mehr brauchen. Alle Stunden melden sich Tausende. Vielleicht in acht Wochen oder in einem Vierteljahr.«
»Gut, dann wartest du eben so lange und machst unterdessen dein Notabitur.«
Das wollte Erich nicht, er mochte nicht wieder auf