Larissa Schwarz

Zauberhaft - Victoria


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auch »nach draußen« gezogen. Berlin schien ihm seinerzeit für den Anfang gerade groß genug und irgendwie hatte er sich bis vor ein paar Monaten auch nicht davon lösen können. Er liebte dieses Flair und die Enge, den Puls der Großstadt mit ihren unendlichen Möglichkeiten. Wie sich eben ein Neunzehnjähriger aus der Provinz die Stadt so vorstellte. Im Nachhinein erkannte er natürlich seine Naivität, damals jedoch war er voller Energie und Tatendrang. Nichts konnte ihn aufhalten; mit seinem Einser-Abitur hatte er sich die Universität quasi aussuchen können, eine kleine Wohnung im Studentenwohnheim war schnell gefunden und da er bereits in Bärenthal bei McDonald’s gearbeitet hatte, musste er sich um einen Nebenjob keine großen Sorgen machen. Irgendwie war er immer über die Runden gekommen, dank BAföG und der Unterstützung seiner Eltern, die stets bestrebt gewesen waren, ihren beiden Kindern alles zu ermöglichen. Seine Schwester Anna hatte in Köln Sport und Englisch auf Lehramt studiert, eine Weile gab es wenig Kontakt zwischen den Geschwistern. Als aber Anna vor gut vier Jahren schwanger war, näherten sie sich schnell an, wurden wieder ein Herz und eine Seele.

      Magnus zog dennoch nichts zurück nach Aulbach; in Berlin hatte er seine Freunde, seine Beziehungen und kannte sich aus. Dem Nachtleben war er anfangs zwar nicht abgetan, doch nachdem er das erste Staatsexamen absolviert hatte, sah er sein Ziel klar vor Augen: schnellstmöglich und gradlinig zur Promotion, die notwendigen Etappen meistern, um dann Richter am Bundesgerichtshof in Karlsruhe zu werden. Dazu würde er Berlin irgendwann verlassen müssen, das war ihm damals schon klar gewesen. Aber mit Ilona hatte er die richtige Frau an seiner Seite. Bankerin, bei einer weitverzweigten und flächendeckend verbreiteten Großbank, flexibel überall in Deutschland einsetzbar, gut vernetzt.

      An Silvester hatten sie sich kennengelernt, vor fünf Jahren, am Brandenburger Tor. Dort, wo jedes Jahr die größte Party Deutschlands stattfand. Sie hatte so kläglich gefroren, er sie gewärmt. Seit jener Nacht waren sie unzertrennlich.

      Dachte er. Das böse Erwachen ereilte ihn vor etwas mehr als einem Jahr, als er Ilona in der Mittagspause in der Bank überraschen wollte. Er sah sie turtelnd und küssend mit einem Kollegen vor der Filiale stehen. Völlig unverblümt und unbekümmert. Im Augenwinkel musste sie ihn erspäht haben, sie ließ von ihrem Gegenüber ab, ging auf ihn zu und meinte trocken: »Tja, dann weißt du es jetzt wohl auch.« Magnus wähnte sich im falschen Film, wartete einen Moment, ob jemand die Situation aufklären würde, und sah dann nur noch Ilona und den ihm unbekannten Mann, Hand in Hand in die Filiale gehen.

      Ilona und Magnus. »Ein Traumpaar«, sagte der Freundeskreis. Doch kurz nach der Hochzeit vor zwei Jahren kriselte es schon. Magnus hatte tagsüber eine Stelle am Amtsgericht Tiergarten inne, seine Dissertation schrieb er nebenbei nachts, an den Wochenenden besuchte er Fortbildungen und Seminare. Ilona arbeitete Vollzeit in der Wertpapierberatung, ging häufig zu Kundenveranstaltungen, vertrieb sich die Abende mit Freundinnen. Es war wenig Zeit für sie beide geblieben. Kein Wunder, dass sie sich getröstet hatte. Aber, dass es ausgerechnet an dem Tag herauskommen musste, an dem er seine Doktorwürde verliehen bekam!?

      Eigentlich hatten sie am Nachmittag gemeinsam zur Universität gewollt, das letzte Kapitel Studium abschließen. Magnus war dann allein gefahren, hatte sich im Anschluss auf einer Parkbank gegenüber dem Brandenburger Tor niedergelassen, die Flasche Champagner allein geleert und sich von seinem Freund Tobias nach Hause bringen lassen. Besser gesagt: Dorthin, wo er sein Zuhause vermutete. Die Wohnung in der Kurfürstenstraße, nur einen Katzensprung von seiner Arbeit entfernt, hatten er und Ilona erst kurz vorher gekauft. Als er dort ankam, stand seine Reisetasche schon vor der Tür.

      Tobias hatte ihn für ein paar Tage zu sich geholt, bis Magnus dann in ein möbliertes Apartment gezogen war. Das Kapitel Berlin schloss sich plötzlich auf dieselbe Weise, wie es begonnen hatte: ein bisschen naiv, da er die Affäre schon längst hätte bemerken müssen und mit einem Koffer voller Kleidung, Träume und Pläne. Es musste schließlich irgendwie weitergehen und Karlsruhe war und blieb das erklärte Ziel.

      Die ersten Wochen nach dem Rauswurf hatte er weiter wie bisher gearbeitet, um nicht negativ aufzufallen. Seine Eltern hatten ihn kurz besucht, eigentlich um ihm zu gratulieren, waren schockiert über die Trennung, aber hielten sich im Großen und Ganzen heraus. Tobias, sein ehemaliger Kommilitone, bester Freund und liebster Anwalt hatte ihn in Sachen Trennung beraten und mit einem Mal verspürte Magnus das Gefühl, dass er Berlin verlassen könnte.

      Heimwärts wäre schön, dachte er damals. Dort, wo alles klein, weitläufig, langsam und beschaulich war.

      Im Intranet suchte er wochenlang nach Stellenanzeigen, bis ihm zum wiederholten Mal der Direktorenposten in Eschberg ins Auge sprang.

      Eigentlich war er noch etwas zu unerfahren für den Job, aber die Stelle war schon länger unbesetzt, also wagte Magnus erst einen Anruf, dann das Bewerbungsschreiben.

      Wodurch er letztlich überzeugt hatte, konnte er nicht mit Sicherheit ausmachen, aber mit einem Mal ging es Schlag auf Schlag: Zusage, Wohnungssuche, Versetzung, Kisten packen, Auto beladen und losfahren. Innerhalb von drei Wochen hatte sich die fixe Idee zur Realität gewandelt.

      Ilona hatte kein Wort mit ihm gesprochen, seit sie ihm den Koffer vor die Tür gestellt hatte, es lief alles über ihre Anwälte.

      Magnus waren diese Paare, von denen er zu Beginn seiner Karriere schon einige geschieden hatte, immer suspekt gewesen. Erst war es die große Liebe, jenseits aller Vorstellungskraft und erhaben über jeden Zweifel. Dann erstarrten alle Moleküle unter der Kälte, die diese Menschen ausstrahlten und nur noch der Richterspruch vermochte ihnen wieder Leben einzuhauchen.

      Ein Schauer lief ihm über den Rücken. Auch er würde bald vor dem Richtertisch stehen, die Scheidung war längst eingereicht, beim Trennungsjahr hatte Tobias großzügig zurückdatiert und auch Ilonas Anwalt hatte keine Einwände erhoben. Ein seltsames Gefühl, aber er spürte bereits den Anflug der Freiheit, die darauf folgen würde und atmete tief durch.

      Victoria Berg hörte kaum noch, wie sich die Tür des Café Daily hinter ihr schloss, als ihr Handy läutete. Sie klemmte die Aktentasche unter den Arm, hantierte umständlich mit dem Autoschlüssel, und schob das Handy zwischen Ohr und Schulter. »Ja, bitte!?«

      Ihr Assistent David Meißner war ganz aufgeregt: »Victoria, ist alles gut? Ich hab schon dreimal versucht, dich zu erreichen ...«

      »Ja, alles fein. Und Herzchen: Einmal anrufen reicht. Ich sehe es doch auf dem Display. Wir sind nicht mehr in 1980, die Telefone sind nicht mehr grün und haben keine Wählscheibe mehr. Normalerweise. Was gibt es denn so dringendes?«

      »Wir müssen deine gesamte Wochenplanung für die 30. und 31. Kalenderwoche umstellen, dein Trip nach Dubai wirft alles durcheinander.«

      »Ja, dann stell die Termine halt um und mail es mir oder trag es ein. Und bei den Klienten, bei denen ich mich selber melden muss, schickst du mir bitte ein Memo. Was ist so schlimm daran?«

      »Du weißt doch, wie sehr mich so was aus der Ruhe bringt ...«

      »David, ich schätze deine Arbeit sehr, aber zerbrich dir bitte nicht meinen Kopf. Ja? Du weißt doch, dass Hakim einer unserer VIP-Kunden ist.« Sie lachte innerlich. Dubai verband für sie das Angenehme mit dem Nützlichen und David wusste das. Dass er aber immer noch so schnell unruhig wurde, wenn Victoria kurzfristig ihre Prioritäten änderte, missfiel ihr langsam. Eigentlich sollte David sie entlasten und für Ruhe und Ordnung sorgen. Wenn sie gleich in die Firma käme, würde sie ihn darauf ansprechen. Aber bis es so weit sein sollte, stand sie wieder im Stau. Wie nahezu jeden Tag. Eine gute Stunde hin, an schlechten Tagen anderthalb Stunden zurück. Die Bahn war keine Alternative, zu unflexibel. Victoria sah auf das Schild mit der Geschwindigkeitsbegrenzung. 120 km/h. Können, vor Lachen, grummelte sie und ließ den Kopf auf das Lenkrad sinken. Wozu habe ich ein Auto mit 662 PS, wenn ich eigentlich mehr stehe als fahre? Und was, um alles in der Welt, hat den alten Herrn damals dazu bewogen, die Firma nach Düsseldorf zu verlegen? Victoria kannte die Antwort. Es machte sich gut auf der Visitenkarte, man war schnell am Flughafen, schnell bei den Klienten und nah bei der Konkurrenz. Wobei sie das Wort »Konkurrenz« nicht mochte. »Mitbewerber« gefiel ihr besser. Sie wusste, dass an die Effizienz und Effektivität von ECG so schnell niemand heranreichte und es war nicht zuletzt ihr