Larissa Schwarz

Zauberhaft - Victoria


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Engwald hatte die Engwald Consulting Group vor mehr als 30 Jahren gegründet, aus dem Drei-Mann-Unternehmen war über die Jahre ein verzweigtes Netzwerk an Firmen geworden, 600 Mitarbeiter insgesamt und inzwischen eine Aktiengesellschaft in Privatbesitz, 49 % er, 51 % seine Tochter. Nach einem gelungenen Coup mit einer weitreichenden Firmenfusion vor 25 Jahren, hatte sich Wilhelm Engwald auf das größere Parkett gewagt, zunächst kreditfinanziert die Firma vergrößert, immer wieder reinvestiert und nach weiteren fünf Jahren die 10-Millionenmarke beim Umsatz geknackt.

      Victoria schmunzelte. Die Firmengeschichte konnte fast jeder Angestellte herunterbeten, aber nicht als Schikane, sondern aus purem Selbstverständnis. ECG hatte Googliness, lang bevor es Google gab.

      In ein paar hundert Metern Entfernung konnte Victoria die ehemalige Fabrikhalle schon erkennen. Vor dem strahlend blauen Himmel leuchtete das alte Backsteingebäude in der inzwischen hoch stehenden Sonne. Die Restaurierung und Modernisierung hatte Unsummen verschlungen, dafür war der Standort aber ideal.

      Am Rande der Innenstadt, beste infrastrukturelle Anbindung, schnellste Internetverbindung, ausreichend Parkplätze, der Medienhafen und eine Grünanlage zur Erholung in der Mittagspause. Nicht zu vergessen das damit einhergehende Prestige. Victoria selbst machte sich wenig daraus, aber für gewisse Kundenschichten war es vorteilhaft, dieses repräsentable Firmendomizil vorzuweisen.

      Den schwarzen Shelby GT 500 stellte sie auf ihrem Parkplatz mit dem kleinen silbernen Schild ab: CEO.

      Drei Jahre hatte ihr Vater noch an diesem Standort auf seinen Ruhestand hingearbeitet, die Früchte der Modernisierung gekostet und war jeden Morgen entweder allein oder gemeinsam mit ihr von Eschberg dorthin gependelt. Bis er eines Abends in ihr Büro kam und ihr eine unscheinbare DIN-A-4 Seite überreichte. Wertpapierübertrag. 10.000 Stück ECG- AG-Aktien. Von Wilhelm Engwald an Victoria Berg.

      »Morgen möchte ich bitte ausschlafen«, hatte er gesagt, ihre Tür geschlossen und sie der Sprachlosigkeit überlassen.

      Der Gedanke an jenen Moment ergriff Victoria in dieser Sekunde sehr, sie hielt vor dem Eingang kurz inne. Ihr Vater hatte damals angedeutet, nicht mehr lange berufstätig sein zu wollen, sein Leben als Privatier zu genießen, solange er die Chance dazu hatte. Er sah Victoria als bestens vorbereitet an, die Firma zu führen und legte sein Lebenswerk in ihre Hände, ohne mit der Wimper zu zucken. Selbstredend war nach diesem Abend eine Menge an Formalien zu erledigen, aber mit der Überschreibung der Anteile waren die Eigentumsverhältnisse umgekehrt worden und Victoria besaß nun die Majorität, was sie laut Firmenstatuten automatisch zur Vorstandsvorsitzenden machte. Nachdem das Ganze rechtlich und vertraglich abgesichert war, läutete Wilhelm Engwald die neue Ära auch offiziell ein und hatte sich daraufhin nicht mehr ins Tagesgeschäft eingemischt. Seine Liebe galt der Falknerei, die er seit Ewigkeiten betrieb und der er seine Lebensenergie widmen wollte. In Eschberg hatte er dazu sowohl den Platz als auch die Möglichkeiten, deswegen war er nie umgezogen, auch wenn es ihm einiges an Zeit, Nerven und Kilometern erspart hätte. Seit ihn Victorias Mutter direkt nach der Geburt verlassen hatte, waren seine drei Säulen im Leben die Familie, die Firma und die Falken. Wobei die Familie aus ihm und Victoria bestand. Er war immer offen damit umgegangen, dass sie quasi ein »Unfall« gewesen war, der schönste und intelligenteste seines Lebens, aber ein Unfall.

      Ihre Mutter hatte schon während der Schwangerschaft unmissverständlich geäußert, dass sie keine Familie sein wollte, eine gemeinsame Sorgerechtserklärung abgegeben und mit dem Tag der Entbindung das Leben der beiden für immer verlassen. Und so gab er seiner Tochter ihren Namen: Victoria. Weil sie mit ihrem ersten Atemzug alle Zweifel in ihm besiegt hatte, ob er auch allein ein guter Vater sein könnte und als Omen, dass sie aus noch so vielen Kämpfen, die das Leben ihr bieten würde, als Siegerin hervorgehen mochte. Nur an ihrem Nachnamen konnte er nichts ändern, also hieß sie immer anders als er, was mit zunehmender Größe und Bekanntheit der Firma aber nicht nachteilig war. Victoria konnte inkognito bleiben, behütet und unbehelligt aufwachsen, in Ruhe studieren und anfänglich sogar in den Semesterferien bei ECG arbeiten, ohne erkannt zu werden. Das änderte sich im Laufe der Zeit selbstredend, als Wilhelm sie an die Aufgabe heranführte, die er ihr für später zugedacht hatte.

      Wer die beiden sah, erkannte sofort die Ähnlichkeit, in der Physiognomie, im Habitus, in der Rhetorik. Ein Vater-Tochter-Gespann wie im Bilderbuch.

      Victoria war inzwischen in ihrem Büro angelangt, das Handy erneut zwischen Schulter und Ohr eingeklemmt, die Aktentasche und den Kaffeebecher jonglierend und ihren Vater am anderen Ende der Leitung beruhigend.

      »Ja Papa, ich halse mir nicht zu viel auf. Alles gut. Und liebe Grüße von Joachim, er kommt in der nächsten Woche bei dir vorbei und sieht sich die neue Voliere an.«

      »Gut. Sehen wir uns heute Abend?«

      »Ich schreib dir gleich noch. Bin gerade zur Tür rein und sehe das Chaos auf meinem Schreibtisch, ich weiß noch nicht, wann ich Feierabend machen kann.«

      »Okay. Bis nachher.«

      Victoria legte die Tasche und das Handy auf den Glastisch, nahm einen großen Schluck Kaffee und ließ sich in den weißen Ledersessel fallen. Die Klimaanlage war eindeutig eine sinnvolle Investition gewesen. Auch wenn die dicken Backsteinmauern das Gebäude prinzipiell gut klimatisierten, die vielen Glasscheiben machten es fast zu einem Aquarium und im Hochsommer hielt man es dort sonst nicht aus.

      Ihre Gedanken kreisten um die Vorkommnisse am Morgen im Café Daily, weniger jedoch um das Meeting mit Zeilinger und seinen Angestellten, als um den missgelaunten Gast, der sie für eine Kellnerin gehalten hatte. Unwillkürlich musste sie lachen; sie hatte tatsächlich früher in den Schulferien bei Zeilinger gearbeitet, damals aber nicht in Heels und einem Businesskostüm von Frederik Stein, sondern in Chucks und Jeans. Ihr Vater hatte sie von klein auf wissen lassen, welchen Wert Geld hatte; auch wenn sie in nahezu überbordendem Wohlstand aufwuchs, sorgte er dafür, dass sie sich die Erfüllung des ein oder anderen Wunsches erarbeiten musste. Geschadet hatte es ihr nicht. Noch heute konnte sie sich wie ein Kind über Kleinigkeiten freuen, ärgerte sich aber auch gern über hohe Benzinpreise und die unverschämten sieben Euro für ein Desperados im Old Daddy.

      Irgendetwas passte nicht zusammen in dieser Situation; ein Anzugträger, ohne die übliche Businesstasche oder zumindest Tablet unter dem Arm, eine gepflegte Erscheinung, aber anscheinend durchnächtigt, auf den ersten Blick eigentlich sympathisch, aber dieser raue Tonfall!? Im Nachhinein ärgerte sie sich, dass sie die Situation nicht aufgeklärt hatte. Normalerweise hätte sie sich zu ihm an den Tisch gesetzt und ihm die Leviten gelesen. Bei ECG brachte man sich seit jeher jederzeit Respekt entgegen und seit ein paar Monaten waren alle per Du, von der Putzfrau bis zum Vorstand. Verbale Entgleisungen oder Unhöflichkeiten wurden streng geahndet, theoretisch. Praktisch kam es quasi nie dazu, da man überall das offene Wort pflegte und die Hierarchie zwar steil, aber sowohl nach oben als auch nach unten durchlässig war. Nicht umsonst rangierte ECG auf der Liste der beliebtesten Arbeitgeber Deutschlands sehr weit oben und führte unter den Dienstleistungsunternehmen das Feld sogar an. Für einen Moment erlaubte sie sich, ein bisschen stolz darauf zu sein, trank ihren letzten Schluck Kaffee aus und öffnete die Gesprächsnotizen aus dem Meeting bei Zeilinger.

      David Meißner vergötterte seine Chefin. Für Victoria würde er alles tun und tat es auch, zumindest arbeitstechnisch. Nachdem sie ihn bei einem kurzen One-on-one in ihrem Büro gebeten hatte, etwas mehr Ruhe walten zu lassen, hatte er den »Zwangstermin« bei der hauseigenen Physiotherapeutin gern über sich ergehen lassen und startete nach dem Lunch mit neuer Energie in den Nachmittag.

      Die Tickets für Dubai waren gebucht, der Fahrer ebenfalls, ein Großteil der Termine konnte problemlos verschoben werden und auch die wenigen Kunden, die er noch nicht erreicht hatte würden keinen Anstoß daran nehmen, wenn die Meetings erst in den darauffolgenden Wochen stattfänden. Er gönnte Victoria die Zeit in den VAE, in der sie zwar arbeiten würde, aber der Scheich verstand es, sie auch zu bremsen und ihr ein wenig Erholung zu verschaffen. Alle sechs Monate flog sie zu ihrem »Lieblingskunden«, in den Monaten dazwischen besuchte er sie und die Firma in unregelmäßigen Abständen.

      Es wurde viel spekuliert, was das »wahre« Verhältnis der beiden betraf; klar war offiziell