Tobias Fischer

Veyron Swift und die Allianz der Verlorenen


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zu den drei Menschen und versuchte zu erkennen, was Veyron zu diesen Schlüssen brachte. Sie fand jedoch nichts, abgesehen von dem kleinen Verband an der rechten Hand. Der war ihr vorher gar nicht aufgefallen. Okay, aber das war ja nur eine Kleinigkeit. Und überhaupt: Woher wollte Veyron wissen, dass der Mann einen Hund besaß? Geschweige denn Vater eines Mädchens war!

      »Ich kann da nichts erkennen«, schnappte sie. »Ich sag’s doch: Ihr Verstand arbeitet nicht mehr richtig.«

      »Schauen Sie sich seine Hände genauer an. Feindgliedrig, keine Schwielen. Er arbeitet demnach nicht hart, kann also unmöglich Bauer, Metzger oder Schmied sein. Dafür hängen an seinem Gürtel eine Menge Beutel und Taschen, darunter eine zusammengerollte Instrumententasche aus Leder. Sehen Sie die silbernen Spitzen seiner Instrumente und Skalpelle und den runden Abdruck einer Lupe? Das deutet doch schon sehr auf eine medizinische Tätigkeit hin. Wir haben also den Dorfarzt vor uns. Seine feine Kleidung zeigt an, wie sehr er von den Bürgern geschätzt wird. Es sind wahrscheinlich Geschenke, die ihm gemacht wurden, denn reich ist er nicht. Das verraten mir seine schlechten, ausgelatschten, dutzendfach geflickten Schuhe. Seinen unterernährten Zustand erkennen Sie dagegen an seinen eingefallenen Wangen, den schlecht verheilten Kratzern auf der Haut und der kaum ausgeprägten Muskulatur. Nun zu seinem Stock: Der ist lediglich ein Symbol seines Amtes, keine Stütze. Schauen Sie nur die Verzierungen an: Die Äskulapschlange ist deutlich am oberen Ende zu sehen. In der Mitte erkennen Sie Bissspuren eines Hundes, sehr fein, aber dennoch zahlreich. Also ist der Hund klein und trägt den Stock beim Spaziergang im Maul, weswegen unser Arzt den Stock also nicht wirklich benötigt. Beachten Sie zudem die von ihm erworbenen Dinge: eine Mädchenpuppe aus Reisig und ein Holzpferd samt Ritterfigur. Spielsachen für einen Jungen und ein Mädchen.

      Unser Arzt hat bei der Händlerin außerdem Frauenmantel, Brennnessel und Fenchel gekauft, typische Kräuter, die für verschiedene Schwangerschaftstees gebraucht werden. Die gekauften Mengen sind jedoch sehr gering, darum wird es wohl kaum für seine Praxis sein, sondern für den Eigenbedarf. Da hier sehr viele Kinder herumlaufen, ist die Population in Ansmacht trotz der widrigen Umstände gesund, und Schwangerschaften sind nichts Seltenes. Für die Behandlung von allen schwangeren Patienten des Dorfs bräuchte er also eine weitaus größere Menge dieser Kräuter. Einzige logische Schlussfolgerung: Seine eigene Frau ist schwanger, und uneigennützig, wie er ist, will er den Praxisvorrat – der genau berechnet ist – dafür nicht verwenden. Sehen Sie? Mein Verstand funktioniert tadellos.«

      »Nein, tut er nicht«, maulte Jane. »Tut er nämlich nie.«

      Veyron brach in Gelächter aus, ein ehrliches, herzliches Lachen. »Ja«, sagte er und grinste Jane dabei an. »Es war die richtige Idee, Sie mit auf dieses Abenteuer zu nehmen.« Dann wurde er wieder ernst. »Bitte haben Sie Vertrauen, Willkins. Ich weiß sehr wohl, wo die Grenzen sind, und ich verspreche Ihnen, was wir hier tun, gereicht dem Dunklen Meister zum Schaden und damit auch der Sache des Bösen. Meine Methoden mögen ungewöhnlich sein, aber unsere Ziele, Willkins, sind identisch.«

      »Ich vertrau Ihnen ja«, bekräftigte Jane. »Aber deshalb muss ich nicht mit allem einverstanden sein.«

      Veyron lächelte vielsagend. »Nein, das müssen Sie nicht und das sollen Sie auch gar nicht. Sie und ich, wir zwei sind vollkommen verschieden. Genau darin liegt unsere Stärke als Team. Wir ergänzen uns, aber nur, wenn wir einander vertrauen.«

      »Da haben Sie recht«, sagte Jane. »Und wie geht’s jetzt weiter?«

      Die Frage blieb unbeantwortet. Bevor Veyron irgendetwas sagen konnte, wurden sie von hinten angerufen.

      Jane sah sich um. Uric und Femoin standen da und wirkten genauso eingeschüchtert wie gestern. Als sie die Kinder erreicht hatten, blickten die sich um, als befürchteten sie, beobachtet zu werden. Jane erkannte darin sofort, dass sie neben ihrem eigenen Verstand dem dunklen Gedankeneinfluss der Seelenkönigin ausgesetzt waren.

      »Die Herrin schickt uns«, verkündete Femoin. »Sie befiehlt, dass Ihr beide sofort auf Eure Zimmer zurückkehrt und Eure Sachen packt. Die Königin wünscht so schnell wie möglich aufzubrechen.«

      »Und sagt Eure Gebieterin auch, wohin?«, ätzte Jane. Sie meinte es nicht bös mit den beiden Sklaven, aber sie war sicher, dass die Seelenkönigin ihre Gedanken las, und das böse Weib sollte Janes Abneigung ruhig zu spüren bekommen.

      »Natürlich zum Konferenzort, was für eine Frage«, mischte sich Veyron ein. Er nahm Jane am Arm und führte sie von den beiden Sklaven fort. Wenigstens sparte er sich, sie für ihre ›Dummheit‹ – woher hätte sie es wissen sollen? – vor den beiden zu tadeln, aber sie spürte es am sanften Druck, den er auf ihren Oberarm ausübte.

      Bald hatten sie ihre Räume erreicht. Viel zusammenpacken musste Jane nicht. Sie brauchte lediglich ihren Rucksack zu schultern und das Feuerzeug wieder einzustecken. Eine große Erleichterung überkam sie, als sie einen letzten Blick in das karge Zimmer warf. Niemals wieder würde sie hierher zurückkehren, das nahm sie sich felsenfest vor. Hoffentlich würden sie bald auch aus dem Einflussbereich der Seelenkönigin herauskommen.

      Wenig später traf sie Veyron wieder unten im Burghof, wo die beiden Sklaven schon auf sie warteten und sie nach einer kurzen Verbeugung zu der langen, von nacktem Fels gesäumten Treppe führten, die in den zweiten, tiefer gelegenen, mit einer hohen, dicken Mauer eingefriedeten Hof mündete. Er war breit und gepflastert, und von ihm aus gelangte man durch ein Tor zum Dorf hinaus. Erst, als sie sich auf der Treppe umwandte, konnte Jane besser erkennen, wie man die Burg der Seelenkönigin auf den Gipfel des hoch aufregenden Felsen gesetzt hatte. Der vermeintliche Schutzwall rund um die Burg war nichts anderes als die Verschalung des Felsens und zugleich Stützwerk für die obere Plattform und die Wohngebäude.

      Ein lautes Schnauben lenkte Janes Aufmerksamkeit auf den Tiefhof – und ließ sie regelrecht erstarren. Zwei Kutschengespanne warteten im Schatten der hohen Mauern auf sie. Das erste saß auf acht riesigen, stählernen Rädern, war groß wie ein Haus. Die Kutsche bestand sogar aus zwei Stockwerken mitsamt Dach und Schornstein. Von oben bis unten nachtschwarz angestrichen wurde dieses rollende Haus von vier gewaltigen Geschöpfen gezogen. Jane erinnerten sie an gigantische, vorgeschichtliche Nashörner, jedes mit einer Schulterhöhe von mehr als drei Metern. Anstelle eines einzelnen langen Horns wuchsen diesen Ungeheuern gleich drei auf ihren massigen, plumpen Schädeln, jedes so lang und schmal wie ein Schwert. Die gewaltigen Körper der kurzbeinigen Kreaturen waren von einem dicken, braunen Zottelfell bedeckt. Wie die Wollnashörner der Eiszeit, dachte Jane. Vielleicht waren das ihre Nachfahren? Elderwelt war ja voll mit den seltsamsten Kreaturen.

      Das zweite Gespann nahm sich dagegen fast zwergenhaft klein aus: Eine schwarze Postkutsche, gezogen von einem alten, grauen Fenriswolf. Jane kannte diese Bestien nur zu gut. Mit immerhin zwei Metern Schulterhöhe und fünf Metern Länge waren auch die Fenriswölfe wahre Ungeheuer. Diese Monstren hatten Zähne, auf die jeder Wolf neidisch wäre. Die kleinen, runden Ohren, ähnlich denen von Bären, und der dicke, kurze Schwanz waren charakteristische Merkmale, ebenso die zu Krallen verlängerten Zehenhufe. Veyron hielt die Fenriswölfe für die letzten Vertreter der ausgestorbenen Raubtiergattung der Mesonychiden, aber für Jane waren es schlichtweg Scheusale, und wenn sie sich richtig erinnerte, dienten sie gemeinhin als Reittiere der Schrate. Es gefiel ihr gar nicht, dass die Seelenkönigin ebenfalls eines dieser Ungeheuer domestiziert hatte. Das verriet ihr nur, auf welcher Seite diese Hexe in Wahrheit stand.

      Voller Skepsis folgte Jane Veyron zum kleineren der beiden Gefährte und stieg ein. Einen Kutscher gab es nicht; der Fenriswolf wurde von der Seelenkönigin offensichtlich telepathisch gesteuert, ebenso ihre vier Wollnashörner. Das Innere der schwarzen Postkutsche erwies sich als eng und unbequem. Getrennt von einem Tisch saßen sich Jane und Veyron gegenüber, hinter den Rückenlehnen ihrer Sitzbänke befanden sich kleine Schlafkojen. Na gut, besser als gar kein Bett. In ihrem fahrenden Haus hatte die Seelenkönigin dagegen bestimmt ein eigenes Schlafzimmer. Missmutig setzte sich Jane auf das schwarze Leder der Bank. »Wo geht’s denn überhaupt hin? Wissen Sie das zufällig?«, fragte sie Veyron.

      »Nach Teyrnas Annoth, ins Reich der Moorelben, Jane Willkins«, antwortete stattdessen die Seelenkönigin. Sie stand in der Tür der Postkutsche. »Wir fahren nach Süden, immer nach Süden. Nördlich