Tobias Fischer

Veyron Swift und die Allianz der Verlorenen


Скачать книгу

– zum Glück für uns alle«, erwiderte er süffisant. Vom Wohnzimmertisch nahm er ein kleines, schwarzes Buch zur Hand und warf es Gregson zu, der es überrascht auffing.

      »Das Schwarze Manifest«, las er vom Einband. »Was ist das?«

      »Henry Fowlers Motiv, mein guter Inspektor. Es ist das wohl übelste Pamphlet dunkler Philosophie, das ich je gesehen habe. Eine Verherrlichung des Dunklen Meisters, des größten Tyrannen Elderwelts. Soweit ich es herauslesen konnte, verspricht der Glaube an den Dunklen Meister Unsterblichkeit, wenn man bereit ist, in seinem Namen Opfer zu bringen. Menschenopfer natürlich, und zwar nach streng festgelegten Ritualen. Sie werden feststellen, dass sie eins zu eins dem Vorgehen Fowlers entsprechen: Zuerst die Opfer strangulieren, dann den nackten Körper mit dunklen Schriftzeichen bepinseln. Die Übersetzungen werden Ihnen verraten, dass es sich um Fowlers geheime Wünsche handelt, deren Erfüllung er sich vom Dunklen Meister erhoffte. Auch die Drapierung der Opfer wird in diesem Buch festgeschrieben. Nackt und mit dem Gesicht nach oben bei Vollmond und mit dem Gesicht nach unten bei Neumond. Der nächste Vollmond ist morgen. Wir haben Fowler also gerade noch rechtzeitig gestoppt. Glücklicherweise, denn Henry Fowler, Inspektor, war ein hundertprozentiger Gefolgsmann des Dunklen Meisters – und das in unserer Welt. Diese Tatsache sollte uns große Sorgen bereiten«, erklärte Veyron. Er trat zur Wand und drückte eine bestimmte Stelle. Wie von Geisterhand schwang ein ganzes Stück der Mauer nach außen und offenbarte den Blick in den Flur des fünften Stocks. Draußen wirbelten zwei uniformierte Constables herum, die Veyron verdutzt anstarrten. Er winkte ihnen kurz zu.

      »Wo wollen Sie denn jetzt hin?«, fragte Tom erstaunt. Das kann doch alles nicht wirklich wahr sein! Sie mussten sich um die bewusstlose Frau kümmern, und bestimmt gab es noch ein paar Zeugen in der Nachbarschaft aufzuspüren.

      Veyron drehte sich mit einem Ausdruck ehrlicher Überraschung zu ihm um. Für ihn schien dieser Fall abgeschlossen. Die polizeiliche Arbeit interessierte ihn nicht im Geringsten. »Heim in die Wisteria Road, Tom. Hier sind wir fertig. Also, was ist, kommst du mit? Das Taxi wartet bereits.«

      Etwa ratlos drehte sich Tom zu Inspektor Gregson und Jane um. Beide blätterten abwechselnd im Schwarzen Manifest und schüttelten fassungslos die Köpfe.

      Ein Buch für die Anhänger des Dunklen Meisters. Und das mitten in London! Na, wenn da mal kein neuer Ärger auf uns zukommt, dachte Tom finster. Was hatte Veyron eben gesagt? ›Hier sind wir fertig.‹ Das glaube ich noch lange nicht.

      Wie versprochen stand unten auf der Straße schon ein Black Cab, dessen Fahrer sie recht maulfaul begrüßte.

      »Harrow, 111 Wisteria Road«, sagte Veyron beim Einsteigen.

      Der Taxifahrer grunzte ungehalten. »Geht’s noch? Das ist ja am anderen der Stadt«, murrte er.

      Tom hörte ihn noch ein paar unflätige Worte sagen, weil man ihn so früh am Morgen (seiner Meinung nach mitten in der Nacht) von East End bis nach Harrow fahren ließ. Trotzdem ging es gleich darauf in einem sehr gemächlichen Tempo los. Leider blieb es auch in den kommenden Minuten bei der Trödelei, was Tom einigermaßen aufregte. Sein Adrenalinpegel war immer noch recht hoch.

      »Mann, man könnte meinen, wir fahren rückwärts, so schnell sind wir. Warum nehmen wir eigentlich immer ein Taxi?«, beschwerte er sich bei Veyron. »Wenn ich nur endlich meinen Führerschein hätte! Dann könnte ich in Zukunft selber fahren.«

      Veyron schürzte kurz die Lippen. »Das wird dir vorerst auch nicht viel helfen. Wir besitzen gar kein Auto, das du fahren könntest.«

      Das stimmte, doch so leicht wollte Tom noch nicht aufgeben. Gerade fiel ihm etwas ein. »Aber Ihr Bruder hat doch eins! Diesen alten Käfer, den er nie benutzt. Den könnten wir doch zu uns in die Wisteria Road holen.«

      »Schlag dir das gleich wieder aus dem Kopf! Wimilles Wagen wird nicht angefasst«, konterte Veyron sofort. Was seinen Bruder betraf, zeigte sich Veyron unglaublich streng und würgte jedes Gespräch über ihn auf der Stelle ab. Tom hob entschuldigend die Hände. Bisher hatte er Veyrons Bruder noch nie persönlich kennengelernt. Erst seit gut einem Jahr wusste er, dass Wimille Swift überhaupt existierte. Seitdem hatte er versucht, mehr über den Mann herauszufinden. Dass Wimille in Camden wohnte, einen blauen VW-Käfer Baujahr 1968 in der Garage hatte (den er nie benutzte; warum auch immer) und als Software-Entwickler arbeitete, war alles, was ihm in Erfahrung zu bringen gelungen war. Er fragte sich, was zwischen den beiden Brüdern vorgefallen war, dass sich Veyron dermaßen darüber ausschwieg.

      Die weitere Fahrt verlief weitgehend still. Veyron begnügte sich damit, aus dem Fenster zu blicken, das Gesicht angespannt, die Blicke hin und her huschend, was seine rasenden Gedanken verriet. Tom versuchte dagegen, ein wenig von seiner Aufregung runterzukommen.

      »Hoffentlich gibt die Spurensicherung das Schwarze Manifest schnell frei. Ich muss unbedingt herausfinden, wer solche Bücher herstellt und in unserer Welt verbreitet«, meinte Veyron nach einer ganzen Weile.

      Tom ruckte hoch. Eben wäre er fast eingeschlafen, doch die Erwähnung dieses furchtbaren Buchs blies jeden Anflug von Müdigkeit sofort weg.

      »Vielleicht hat dieser Fowler es selbst hergestellt. Könnte doch sein«, erwiderte er, worauf Veyron sofort den Kopf schüttelte.

      »Sehr unwahrscheinlich. Henry Fowler ist mäßig fantasiebegabter Mensch mit einem unzureichenden Organisationstalent. Nein, ihm wurde dieses Buch zugespielt. Die Frage ist nur, von wem. Erinnerst du dich noch an den Tommerberry-Fall vor rund drei Jahren?«, konterte er.

      Tom erinnerte sich noch gut daran. Es war ein kleiner – für Veyron enttäuschender – Fall gewesen, nur wenige Monate nach ihrem ersten großen Abenteuer in Elderwelt. Ein Buchhändler hatte mehrere Bücher verschwinden lassen und dann seinen eigenen Tod fingiert, um einen Raubmord vorzutäuschen. Alles nur, damit Tommerberrys Frau die Versicherungssumme kassieren und die beiden sich nach Jamaica absetzen konnten. Veyron war ihnen auf die Schliche gekommen und hatte die Wahrheit aufgedeckt.

      »Klar«, sagte Tom. »Sie hatten den Mann ursprünglich verdächtigt, Zauberbücher voll Schwarzer Magie zu vertreiben. Am Ende kam nichts Interessantes dabei heraus. Mal von diesem sehr speziellen Betäubungsmittel abgesehen, das Tommerberry benutzte, um den eigenen Tod vorzutäuschen. Aber fragen Sie mich nicht nach Details, die hab ich alle schon vergessen.«

      Veyron gestattete sich ein kurzes Lächeln, als er die kleine Zusammenfassung des Falls zu hören bekam. »Ich hatte den Fall nach dieser herben Enttäuschung zu den Akten gelegt«, stimmte er Tom zu. »Aber ich frage mich inzwischen, ob dies nicht ein wenig voreilig war. Tommerberry hat gezielt Bücher mit einem schwarzen Einband verschwinden lassen, ganz ähnlich dem des Schwarzen Manifests. Falls es wirklich mehrere Ausgaben dieses besonderen Buchs waren, woher hat er sie bezogen? Wer versorgt einen Buchhändler im Herzen Londons mit dunklem Machwerk aus dem Schattenreich Elderwelts? Tom, ich denke, wir sollten morgen früh dem Gefängnis einen kleinen Besuch abstatten. Mein Gefühl sagt mir, dass uns Tommerberry noch immer etwas zu erzählen hat, von dem wir bislang nichts wussten.«

      Tom wetzte unruhig auf der Sitzbank hin und her. Der Gedanke, dass es noch mehr Exemplare dieses teuflischen Buchs geben könnte, die weitere Menschen zu mordenden Monstern wie Henry Fowler machen könnten, bereitete ihm regelrecht Angst. Eben wollte er Veyron vorschlagen, am besten sofort mit Gregson zu telefonieren, als er seinen Patenonkel konzentriert nach vorne starren sah.

      »Schau nur! Was ist das?«, rief er neugierig. »Blaulicht vor 111 Wisteria Road? Das müssen wir uns ansehen!«

      Tom machte große Augen. Im scheinbaren Frieden des frühen Morgens lagen die alten Backsteinhäuser der Wisteria Road vor ihm, doch direkt vor ihrem Haus stand ein Polizeiauto, die Warnblinker und das Blaulicht auf dem Dach eingeschaltet. Zu sehen war allerdings niemand, keine Spur von den dazugehörigen Polizisten. Selbst von den Nachbarn ließ sich keiner blicken, weder auf der Straße noch hinter den Fenstern ihrer Häuser.

      Veyron befahl dem Taxifahrer, links ranzufahren und anzuhalten. Die restlichen Meter wolle er zu Fuß gehen. Der Mann hatte nichts dagegen und tat, wie ihm geheißen. Veyron bezahlte ihn, und schon schlüpfte er nach draußen, gefolgt von Tom.