Andreas Egger

Die Zweite Welt


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vorbereitet werden. Die Zeit drängt!“

       Alle stimmten zu, nur Thef blieb ungerührt, und setzte nochmals an: „Ihr denkt wirklich, damit wäre eure Pflicht getan?“ Seine Gesichtszüge zeigten ein ebenso spöttisches Grinsen wie das Wort „Pflicht“, welches er wie in einem Fluch geäußert hatte.

       Garantor stand auf und sprach ruhig, aber bestimmt: „Ich sehe schon, hier macht jeder seine eigenen Pläne ...“ Tiefe Entrüstung war die Folge. Cebrid unterbrach ihn, beteuerte seine Loyalität. Der Zwerg winkte ab, „Nein, nein, seid still!“ Schnell war es wieder ruhig. Garantor führte seine Augen im Kreis und kratzte sich am Bart. „Wir stehen am Scheideweg. Ein jeder muss für sich entscheiden, welche Richtung er einschlagen will. Ich werde von niemandem verlangen, nach Naars Zweifel zu ziehen und ich für meinen Teil, werde das auch nicht tun.“

       Verwunderung machte sich breit. Brube wollte gerade zur Frage ansetzten, was denn dann unternommen werden solle, als plötzlich Mauran Falkenflug aufstand. Ganz langsam. Ruhig. Zu ruhig. Allein dies Tun sorgte für Stille. Seine Augen waren feucht. Die Trauer hatte ihn gezeichnet. Leise, monoton, mit gebrochener Stimme begann er zu sprechen.

       „Der Wege sind viele und ein jeder muss begangen werden. Wo anfangen? ... Das ist die eigentliche Frage. Denn wo der Weg aufhört, weiß ein jeder von euch ... ein jeder ...“ Die letzten Worte presste er hervor. Wieder rannen ihm die Tränen über die Wangen, doch er sprach weiter. „Und keiner wird seinem Weg entrinnen. Auch Ihr nicht Thef, denn wohin wollt Ihr fliehen? ... Wo wärt Ihr sicher? ... Wo würde euer Schicksal Euch nicht einholen?“

       Mauran schüttelte träge den Kopf. Er sah niemanden direkt an und blickte auf einen weit entfernten Punkt, den wohl niemand außer ihm sehen konnte.

       Verwunderung war in dem einen oder anderen Gesicht zu erkennen. Doch keiner wollte Maurans wirre Ausführungen unterbrechen; und sei es nur, aus Respekt vor seiner Person.

       „Ich bin vor mir selbst geflohen, hab mich versteckt und verleugnet“ ... Er grinste als wäre er verrückt. „Meine Familie war reich. Von der Welt selbst mit kostbarem Salz beschenkt. Doch mein Vater tötete sich, im Rausch ... Grundlos wählte er den leichtesten aller Auswege und verließ uns. Ja ... ich selbst bin wie er. Auch ich habe alles hinter mir gelassen, zog fort und ließ alle und alles im Stich. Meine Familie ... alle tot ...“

       Kurz stockte er, holte Luft und zitterte dabei.

       „Und wo stehe ich heute? ... Mitten im Nichts ... oder in allem? ... Wo liegt der Unterschied? Wo der Sinn? Wir können verzweifeln, oder unseren Weg gehen. Können davonlaufen, oder uns dem Leben stellen. Ich für meinen Teil ... Ich laufe nicht mehr davon.“

       Mit jedem Wort wurde er sicherer und die Stimme stärker. „Mein Weg ist der Garantors. Denn eines ist gewiss: sein Weg wird sich mit dem der Oger kreuzen. Wir sind keine Söldner mehr. Wir sind die ersten Krieger im Kampf für das Leben und mein Ende des Weges wird sich erst mit dem Ende der Oger erfüllen ...“

       Bei weitem nicht jeder hatte verstanden, was Mauran überhaupt sagen wollte. Garantor jedoch nickte und sprach: „Ja ... es gibt viele Wege und einige davon werden wir beschreiten. Aber nicht alle gemeinsam.“

       Schwer atmete der Zwerg, drehte sich um und entfernte sich einige Schritt von der Gruppe. Dann blieb er stehen und wandte sich zu ihnen. „Die mit mir kommen wollen, sollen dies tun. Ich verlange es von niemandem und genauso wenig hoffe ich, dass sich jeder für meinen Weg entscheidet ... Wie gesagt, ich werde nicht nach Naars Zweifel gehen.“

       Kaum hatte er das gesagt, standen Cebrid und Brube auf und gingen demonstrativ zu ihm. Während sie sich näherten, sprach Garantor weiter: „Kalad, Veon, Ypek und fast alle anderen haben ihre Familie in Naars Zweifel. Sie sind dort aufgewachsen und lebten dort, bis sie sich mir anschlossen. Ich weiß, dass ihr dorthin wollt ... ich bitte euch sogar darum, denn die Königsstadt muss gewarnt werden. Und je mehr nach Süden ziehen, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit, dass die lebenswichtige Nachricht überbracht wird.“

       Das war alles, was er zu sagen hatte. Er stand betroffen da, die rechte Hand in seinem Bart vergraben und harrte dem, was geschehen mochte. Unerwartet stand Brand auf, entfernte sich ein wenig und stand Garantor gegenüber. Verdutzt schaute der Zwerg in das derbe Gesicht seines langjährigen Freundes. Damit hatte er nicht gerechnet. Niemals. Diese Meinung teilte wohl so mancher, denn unsichere, unverständige Blicke wanderten umher.

       „Ich bin müde Garantor“, begann Brand, „Viel zu müde. Ich habe zu viele Tote gesehen, zu viel Leid.“ Sein Blick sank auf den Boden, als er weitersprach: „Ich stand an deiner Seite Garantor. Ich war bei dir, als du Flügelführer in Kramn Rotbards Truppe wurdest. Ich war bei dir, als wir aufgerieben wurden von diesen hinterhältigen Räubern und nur fünf von uns überlebten. Meine Hand lag auf deiner Schulter, als Schwarzarm starb und dich bat, den Auftrag zu vollenden ... und so vieles folgte ...“

       Garantor unterbrach ihn und wurde beinahe überwältigt von seinen Gefühlen. Er suchte mit seinem Blick die Augen des alten Waldläufers. „Rechtfertige dich nicht Brand, lass es.“

       So viel Gefühl war im Blick des Zwergs. So viel Freundschaft und Anerkennung. Niemals würde er eine Entscheidung anzweifeln, die von Brand getroffen wurde. Im Gegenteil. Er war froh. Wusste er doch, dass es keinen besseren als ihn gab, um die wichtigen Worte in die Königsstadt zu tragen. Es schmerzte ihn lediglich, diesen Mann nicht mehr unter den seinen zu wissen.

       Dankbar erwiderte der Waldläufer den Blick. Ein leichtes Lächeln lag auf seinen rauen Lippen. „Du weißt, meine Familie lebt in Naars Zweifel ... Ich danke dir.“

       Auch diese letzten Worte drückten viel mehr aus, als den Dank für Verständnis, den Dank für den freundlichen Blick seines Anführers. Es war der Dank für ein halbes Leben. Der Dank für Respekt und Freundschaft. Der Dank für einen Abschied, der kaum ein Wiedersehen beinhalten konnte. Der Dank dafür, dass kein Wort nötig war, um all dies gesagt zu haben. Die Gruppen teilten sich. Aus den Söldnern, die unter Garantor dem Zwerg ihr Geld verdienten, wurden Streiter für das Gute. Für das Land. Getrennt in zwei Gruppen, würden sie ihr Heil und jenes der Lebenden suchen.

       „Was werdet ihr unternehmen?“, fragte Brand, als sich die beiden neu formierten Einheiten gegenüberstanden, beide zum Abschied bereit.

       Der Zwerg kratzte sich am Bart und antwortete knapp: „Beobachten, fürs erste …“ Brand nickte und stimmte ein letztes Mal mit Garantor überein. Nun nicht mehr als Freund und Gefolgsmann, sondern als gleichgestellter Führer im Kampf gegen das unausweichliche Unheil.

       Ohne ein weiteres Wort sah sich der alte Bogenschütze um, und sah in die Gesichter jener Männer, die mit ihm nach Süden ziehen würden. Er verzog kurz die Mundwinkel und schritt stumm den Hügel hinab.

      Brands Weg

      Kapitel 6

       Der Weg war bekannt, das Ziel klar. Es hatte keinen Sinn, sich Illusionen zu machen und Brand tat dies auch nicht. Es würde zum Kampf kommen, so oder anders. Aber wie genau? Das war der Punkt, um den sich seine Gedanken drehten. Würden sie vor einer Brückenwache stehen, wenn sie Naars Auge erreicht hatten? Oder würden sie in den Sümpfen auf Widerstand stoßen? Waren die Oger wirklich so intelligent? Würden sie den Weg nach Naars Zweifel bewusst abschneiden, um zu verhindern, dass Informationen nach Süden getragen wurden? Man konnte es nicht abschätzen. Sollte die Brücke jedoch bewacht werden, wussten sie wenigstens woran sie waren.

       Dies war der eine Teil seiner Gedanken. Der andere betraf seine kleine Armee. Es war alles ungewohnt. Er, Brand, sollte führen. Ohne Garantor fehlte ihm etwas und er versuchte einzuschätzen, welche Vor- und Nachteile verschiedene Strategien bergen mochten. Wenn er sich selbst dazuzählte, verfügte er über vier Bogenschützen. Beachtlich. Dazu noch zwölf Krieger. Diese jedoch konnte er nicht führen. Das bereitete ihm Sorgen. Seine Aufmerksamkeit galt seinem Bogen und den Bögen seiner Männer. Er fürchtete, er würde nicht die Zeit haben, die Schwerter zu befehligen. Wem also sollte er die Befehlsgewalt erteilen? Die großen Strategen und Kämpfer waren mit dem Zwerg gegangen. Der Meister des schnellen Kampfes, Mauran Falkenflug, wobei „schnell“ in doppeltem Sinne zutraf: auf Geist und Körper. Er wäre ein guter Anführer