Andreas Egger

Die Zweite Welt


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ab. Dennoch war es ein schönes Gefühl, ihn wieder zu sehen. Gerade wollte Holger sich aufmachen, um ihnen entgegenzugehen, da drang der Ruf des Zwergs zu ihm. Kehlig und trocken, aber weithin hörbar. „Wir brauchen einen Heiler! Schnell! Wir haben einen schwer Verwundeten bei uns!“

       Holger erschrak, sah nun erst die Bahre, welche von vier Mann getragen wurde. Sofort gab er Anweisung und schickte Leen um Wasser und Egran nach einem Heiler. Beides war zur Stelle, als die Reisenden die Stadtmauern passierten.

       Der alte Heiler sah sich Klai kurz an, welcher reglos auf der Bahre lag. Kein Lebenszeichen war ersichtlich. Sofort trug er den beiden Wachen auf, ihn in sein Haus zu bringen. Ohne ausgekochtem Wasser, seinen Salben und Kräutern war nichts zu machen, erklärte er.

       Schnell waren sie verschwunden. Brand und Zrak gingen mit ihnen. Jeder hatte dafür seine eigenen Gründe. Zraks verwundeter Arm war stark geschwollen und zeugte von Anstrengungen, die er sich nicht hätte auferlegen dürfen. Mit fiebriger Stirn und schwerem Atem folgte er Klai und dem Heiler.

       Der alte Brand hingegen, nun, er hoffte auf das Wunder, an das er seit zwölf Tagen verbissen glauben wollte. Nicht zuletzt auf sein Drängen hin, wurden auch nach den unglaublichen Strapazen der Sümpfe kaum nennenswerte Pausen gemacht. Seine Mahnungen zur Eile würden Klai nun möglicherweise doch das Leben retten. Brand wollte bei ihm bleiben. Er hatte Klai die ganze Strecke über mit Wasser und vereinzelten Stücken vorgekautem Brot am Leben gehalten. Mit unerwarteter, äußerst ungewöhnlicher Zähigkeit, hielt der Jüngling an seinem Leben fest.

       Nachdem Holger Abendstern beobachtet hatte, wie es um die Verwundeten stand und noch einmal einen Blick auf den entkräfteten Haufen geworfen hatte, begab er sich zu Meisterlich. Er drückte ihm die Hand und fragte mit mitfühlender Stimme nach, was denn geschehen war.

       Müde, aber erlöst, blickte der Händler seinem Freund in die Augen und fing an, von den Vorfällen um Naars Auge zu berichten.

       Als das Wort „Ogerspäher“ fiel, schrak Holger auf, hob ungläubig die Augenbrauen und unterbrach die Ausführungen Meisterlichs. „Ogerspäher?!“, stieß er hervor.

       Der Salzmeister sah in die Runde, und verlangte durch seinen Blick nach Aufklärung. Es reagierte niemand. Alle um ihn schienen damit beschäftigt, sich irgendein Körperteil zu massieren oder Wasser zu trinken. Auch Meisterlich hatte keinerlei Intention, seine Geschichte weiterzuerzählen und sagte knapp: „Ich habe Ungewöhnliches zu berichten. Der Rat sollte davon erfahren. Dennoch ist dies nicht der Zeitpunkt für derlei Gespräche. Wie du siehst, bedarf es uns an Stärkung und Ruhe.“

       Verständnisvoll nickte Holger Abendstern, tat dies aber nur um der Etikette willen, denn seine Augen sprühten vor dem Verlangen nach Informationen.

       Leicht drückte er mit seinen großen Händen die Schultern Meisterlichs. „Geht nach Hause, stärkt euch und ruht euch aus. Doch sobald der morgige Tag anbricht, erwarte ich dich und deine Gefolgsleute im Haus des Rates.“

       Meisterlich nickte zustimmend und bedeutete seinen Männern zu folgen. Das Versprechen von warmem Wasser, frischem Braten und weichen Betten in der entkräfteten Stimme.

       Holger ließ ab, verbeugte sich knapp vor den Söldnern und entfernte sich mit bestimmtem Schritt. Er machte sich daran, die sechs weiteren Ratsmitglieder aufzusuchen und für den kommenden Tag einzuladen.

       Der Abend kam, schnell verstrich die Nacht und der Morgen brach mit kühl wehendem Wind und wolkenbehangenem Himmel an. Der erste Schnee würde wohl bald fallen, gerade hier im Norden. Holger zog seine Stiefel an, streifte sich eine kunstvoll gewobene Weste über das feine Hemd und zog darüber einen festen Pelz aus Wolfsfell an. Dieser passte zwar nicht so richtig zum Rest seiner teuren Kleidung, aber er wärmte sehr gut und war außerdem sein Lieblingsmantel. Er liebte es, seine Beine eingehüllt zu haben, wenn der Wind vom Meer her blies. Es war ein gutes Gefühl, wenn sie an der rauen Innenseite des Fells rieben. Nach kurzer Überlegung entschied sich Holger für einen breitkrempigen Hut, welcher frei von Stickereien oder gar Quasten war und vorzüglich zum schlichtem Schwarz seines Mantels passte.

       Der Salzmeister hatte keine Eile. Ganz im Gegenteil. Seine Frau hatte das Haus vor ihm verlassen, um einer ihrer unangenehmen, fetten Schwestern einen Besuch abzustatten. Jene lebte am westlichen Ende der Stadt. So war sie früh aufgebrochen, um den Tag zu nutzen. Kein Gemeckere, keine Vorwürfe. Trotz der bevorstehenden Ratsversammlung würde dies ein schöner Tag werden. Holger lächelte für sich, als er die Treppen vom Schlafgemach herunterstieg und in die Küche ging. Sie hatte Frühstück gemacht. Damit hatte er nicht gerechnet. Er wusste nicht was ihn mehr freute. Das unerwartete Mahl oder die Tatsache, dass er es alleine und in Ruhe einnehmen konnte. Mit breitem Grinsen setzte er sich zu Tisch und schmierte sich eines der beiden Fladenbrote, die bedeckt mit einer dicken Schicht Butter einfach köstlich schmeckten. Nach dem Essen trank er ein großes Glas Milch in einem Zug aus und begab sich, gestärkt für den Tag, auf den Weg zum Haus des Rates.

       Noch waren die Straßen menschenleer. Ruhig und gleichmäßig schritt Holger aus. Ein verwahrloster Köter trottete ihm hinterher, wohl in der Hoffnung, einen Knochen zu ergattern. Er stieß ihn zur Seite. Für derlei Betteleien hatte er keinen Sinn. Ein streunendes Tier war unerwünscht in seiner Stadt.

       Das Haus des Rates befand sich nordöstlich von seinem Wohnhaus, inmitten des Gründerviertels. Wie der Namen schon verriet, befanden sich hier die großen und prunkvollen Villen der ersten Menschen, die hier siedelten und bald Reichtum und Wohlstand erlangten. Die Häuser waren in einem Halbkreis angeordnet, welcher zur Küste hin offen dalag. Hier wohnten die großen Familien der Stadt. Die Familie der Salzfinder, der Meerfreunds, der Falkenflugs und noch etliche weitere hochgestellte Bürger.

       Im Zentrum des Halbmondes ruhte das Ratshaus. Es war umgeben von einer gepflegten Wiese, welche nun kaum noch grün war. Im Sommer war dies ein herrlicher Platz, voller Ruhe und einfacher Schönheit. An mehreren Stellen standen breite Holzbänke, die einluden zu verweilen, und die Stille zu genießen.

       Es war der schönste Ort Salzheims, dachte Holger Abendstern beinahe jedes Mal, wenn er dem geradlinigen Weg hin zu seinem Amtssitz folgte. Das Ratshaus selbst strahlte Kraft und Sicherheit aus. Zu großen Teilen aus fein gehauenem weißen Marmor gefertigt, war es eingerahmt von prächtigen Säulen aus sorgsam geschliffenem und verziertem Obsidian. Ein majestätisches Bauwerk, machtvoll gestaltet durch den Kontrast der Farben der Welt, schwarz und weiß. Dies war das offensichtliche Zeichen dafür, dass hier Recht gesprochen wurde.

       Am schweren Flügeltor angekommen, zog Holger einen großen vergoldeten Schlüssel aus seiner Jackentasche und öffnete mit sicherer Hand das Schloss.

       Sogleich schwang die Pforte auf. Ein leerer Raum lag vor ihm. Dieser erstreckte sich in der vollen Breite des Ratshauses vor ihm. Der Boden bestand aus kalt wirkenden viereckigen Schieferplatten. Sie waren gefertigt aus je zwei Schritt langen und breiten Stücken, in allen Grautönen. Sie lagen dumpf und schwer da. Zum Teil rau, zum Teil glatt, mal dunkler mal heller. Niemals einheitlich gehalten, waren sie das Symbol des Konflikts des Menschen, der hin- und hergerissen war zwischen Gut und Böse. Niemals ganz glatt, niemals vollständig in einem der Grautöne, wiesen sie niemals eine durchgehende Gleichmäßigkeit auf.

       Der Sitzungssaal des Rates lag dem Haupttor gegenüber. Eine helle Tür aus Fichtenholz gab, da unverschlossen, durch das Drücken der Klinke und einem leichten Ruck, den Weg zum geräumigen Saal frei.

       Im Saal selbst befand sich nichts außer zwei großen Fenstern und einem ovalen Tisch aus fester Eiche, welcher insgesamt ausreichend Platz für zwanzig Mann bot. Auf der hinteren Seite des Tisches standen sieben Stühle, wobei sich nur einer den anderen gegenüber unterschied. Dies war der Stuhl des Salzmeisters, Holgers Stuhl. Er war um einiges höher und ein wenig breiter, mittig platziert. Auf der vorderen Seite standen die Stühle für jene, die vor dem Rat erschienen. Sei es um rechtens willen, oder - wie in diesem Fall - um ein, für Salzheim vermeintlich wichtiges Geschehen vorzutragen. Holger Abendstern nahm Platz, und tat dies nicht ohne Befriedigung. Es war sein Lebenstraum, diesen Stuhl auszufüllen. Er hatte schon als junger Mann danach getrachtet und befand sich nun seit knapp vierzig Mondwechseln in dieser ehrbaren Position.

       Die Mitglieder des Rates erschienen als erste. Freundlich und mit festem Händedruck begrüßte