Christian Jesch

Renaissance 2.0


Скачать книгу

ne/>

      Renaissance 2.0

      Nuhåven

      Cetian

      Ich widme dieses Buch meiner Mutter, die leider die Vollendung meines Romans nicht mehr miterleben konnte. Die aber immer an meiner Seite war, wenn ich sie gebraucht habe. Danke, Mutter.

      Kapitel 1

      'Staatliche Heilanstalt für Kinder und Jugendliche' stand auf dem Schild rechts neben dem Stahltor. Dicke, meterhohe Betonmauern führten rechts und links davon weg, scheinbar ohne Ende.

      Ein riesiger Monitor zeigte erwachsene Frauen und Männer, die geehrt wurden. Dazu hörte man bei jeder einzelnen Person 'Die Mutter von ...' oder 'Der Vater von ...'. Danach Filmszenen von der Festnahme einzelner Kinder und Jugendlicher. Straßenkinder. Jugendliche Widerstandskämpfer, im Film Renegaten genannt.

      Vor dem Monitor eine große Anzahl Kinder und Jugendlicher. Wächter mit Elektroschockern, die darauf achten, dass alle sich den Film ansahen.

      Dann eine neue Szene. Ein Soldat, der über ein totes Feld lief. Dazu die Worte: 'Der Vater von Jikav. Ein Feigling und Deserteur, der das Mutterland unserer geliebten sozialdemokratischen Bundessenatorin Mår-quell verraten hat. Tot, elendig verreckt an den Folgen des Krieges. Die Gerechtigkeit hat gesiegt.'

      Eine weitere Szene. Eine Frau umringt von Regierungsbeamten und Proteqtoren. Dazu die Worte: 'Die Mutter von Jikav. Ebenfalls eine Verräterin an unserer geliebten sozialdemokratischen Bundessenatorin Mår-quell. Sie wollte verhindern, dass es dem Volk besser geht. Tot, auf der Flucht erschossen. Die Gerechtigkeit hat erneut gesiegt'.

      Die nächste Szene: Ein Junge wird abgeführt. Er wehrt sich heftig. Er greift nach einem schweren Gegenstand und prügelt auf den Mann ein, der ihn abführen will. Der Junge trifft den Mann immer und immer wieder, bis dieser reglos am Boden liegt.

      Der Monitor erlischt und der Junge aus dem Film wird nach vorne geholt.

      Der Monitor leuchtet wieder auf. Eine Frau mit einer Kurzhaarfrisur mit Pony erscheint. Sie sieht alt aus. Von ihren Mundwinkeln ziehen sich zwei tiefe Falten bis hinunter zum Kinn, wie bei einer Marionette.

      'Dieser Junge ist schlimmer als ihr alle zusammen. Seine Eltern sind schlimmer als all eure Eltern zusammen. Er ist der Untergang unserer wundervollen sozialdemokratischen Zivilisation.'

      Der Junge stößt einen lauten und hohen Schrei aus. Seine ganze Wut und Enttäuschung, seine gesamte Energie steckt in diesem einen einzigen Laut. Und er nimmt kein Ende, bis sein Gesicht rot anläuft. Die Anwesenden halten sich die Ohren zu, taumeln umher, versuchen diesem Geräusch zu entkommen, während die Bundessenatorin im Film immer weiter spricht. Dann, noch bevor all die Kinder, Jugendlichen und ihre Wächter kraftlos und blutend zusammenbrechen, explodiert die Mauer zur Außenwelt mit einem ohrenbetäubenden Knall.

      Mit weit aufgerissenen Augen und keuchendem Atem schreckte er hoch. Sein Kopf zuckte nach rechts und links, hoch, seitwärts, runter. Alles zur selben Zeit. Panisch tastete er um sich. Schweiß stand ihm auf der Stirn. Seine Hände erkundeten die Umgebung. Er spürte glatte Wände, einen rauen, verdreckten Boden. Dann tastete er seinen Oberkörper ab. Ein heftiger Ruck erschütterte sein Gleichgewicht und warf ihn wieder zu Boden. Orientierungslos und panisch blickte er sich um. Seine Augen konnten die Dunkelheit nicht durchdringen. Lediglich ein einziger Lichtstrahl, der durch eine Luke weiter vorne im Dach eindrang, erhellte seine Umgebung. Der Teenie lag auf dem Rücken, der durch den Aufprall etwas schmerzte. Nicht schlimm, aber ärgerlich. Der Ruck hätte wirklich nicht sein müssen. Vorsichtig stemmte der Jugendliche sich verwirrt hoch. Zunächst auf die Ellenbogen, dann auf die Handflächen. Sitzend erkundete der Junge mit den Händen seine direkte Umgebung ein weiteres Mal. Rechts und links neben sich fühlte er erneut die glatten Wände, die sich bei näherer Betrachtung scheinbar als Kisten aus Plastik entpuppten. Der Teenie versuchte diese neue Erkenntnis zu verarbeiten und eine Lösung dafür zu entwickeln, wo er sich befand und was der Ruck zu bedeuten hatte. Die bis dahin wenigen gesammelten Informationen brachten ihn jedoch nicht weiter. Langsam stand der Junge auf. Sich immer noch an den Kisten entlangtastend ging er vorsichtig einige Schritte den Gang entlang, in dem er sich befand. Immer wieder fragte er sich, was dies sein könnte. Plötzlich waren da auf einer Seite keine Kisten mehr. Er stand jetzt unter der Luke. Allem Anschein nach war es Nacht, denn er konnte über sich nur ein dunkles Blau ausmachen. Keine Sterne. Nichts. Gefühlt war da aber noch etwas anderes. Etwas, das dann doch Licht spendete. Genügend Licht, dass der Junge Schemen eines Tors oder etwas das dem ähnlich war, sehen konnte. Während er vollkommen ratlos da stand hörte er auf einmal Stimmen.

      "Wir sind da. Waggon 29/8522-54. Holen wir erst einmal die Ladeliste von hinten und vergleichen sie. Dann gehen wir rein."

      Panik stieg in ihm hoch. Ein weiteres Mal zuckte sein Kopf in alle Richtungen. Die Stimmen kamen immer näher. Verzweifelt suchte er ein Versteck. Der Teenie zog einen Turm aus Kisten vor, schlüpfte dahinter und zog diese dann so dicht wie möglich wieder an seinen Körper heran. Dann wartete er. Die Stimmen gingen weiter. Erleichtert atmete er auf. Nach wenigen Sekunden wurde das Tor unerwartet mit einem lauten Rattern aufgerissen. Paralysiert hielt er den Atem an. Durch einen kleinen Schlitz konnte der Junge beobachten, wie zwei Männer das Innere betraten.

      "Also gut", sagte die Stimme, die auch schon vorher gesprochen hatte. "Du gehst nach links. Ich nach rechts. Hier sind deine Papiere. Du brauchst nicht jede einzelne Kiste zu kontrollieren. Mach einfach Stichproben. Das reicht schon. Sonst dauert das die ganze Nacht, bis wir hier alles durchgegangen sind und ich will heute früh nach Hause."

      "Hmm", war das Einzige, was der andere von sich gab. Dazu nickte er mit dem Kopf, dann trottete er missmutig nach links, den Gang hinunter.

      Angst und Nervosität machten sich bei dem Jugendlichen breit. Hektisch überlegte der Teenager, wie er dieser Situation entkommen konnte. Die Männer bewegten sich von ihm weg. Der Jugendliche wartete noch, dann schob er den Turm langsam von sich weg. Millimeter um Millimeter. Nur kein Geräusch machen, dachte er sich. Als der Zwischenraum breit genug war, hielt er inne, lauschte und quetschte sich schließlich hinter den Kisten hervor. Mit einem letzten Blick in das Innere sprang der Junge durch das Tor.

      Er landete im Gras. Verwundert griff er nach den Halmen und ließ sie durch seine Finger gleiten. Gras und Erde? Der Teenie war verwirrt. Warum sollte ein Zug mitten im Nirgendwo halten. Die Verwirrung hielt nicht lange an. Sein Herzschlag lag weit über dem Normalen. Schlagartig wurde ihm bewusst, dass er verschwinden musste. Schnell bewegte er sich von dem Ort weg und suchte nach Deckung. Etwas weiter war ein vertrockneter Busch, hinter den der Jugendliche sich kauerte. Dann betrachtete er den Güterwaggon, aus dem er gesprungen war. Dieser schimmerte leicht bläulich. Auf seiner Seite standen in großen, fetten Buchstaben die Worte ORGANIKA AGRICULTURAE. Allerdings hatte der Waggon seine besten Tage schon längst hinter sich. Das bestätigten diverse Rostflecken und Beulen, sowie die abblätternde Farbe der Schrift.

      Er war also mit einem Zug hierhergekommen, dachte der Junge. Er konnte sich nicht daran erinnern, wie er in diesen Waggon gekommen war. Sein Blick wanderte umher. An einigen anderen Stellen standen noch andere Züge wie der Seine. Einige wurden entladen, andere rangierten auf den vielen Gleisen, die der Teenie in der Dunkelheit gerade noch zu erkennen glaubte. Jetzt fiel ihm auch die Bogenlampe neben dem Waggon auf, die das bisschen Licht durch die Dachluke gebracht hatte und für das bläuliche Schimmern zuständig war. Er machte sich im Schutz des Busches so klein wie möglich. Mit seinen ... Seine Gedanken setzten kurz aus. Wie viel Jahre? Er überlegte, wie alt er war. Doch er hatte keine Ahnung. Er strengte sich immer mehr an, wollte es unbedingt herausfinden. Es nützte nichts. Dann versuchte er sich an seinen Namen zu erinnern. Auch das konnte er nicht. Schlagartig waren da wieder Stimmen, die näher kamen und ihn aus seiner Verzweiflung rissen. Er durfte hier nicht entdeckt werden. Der Junge sprang auf und versuchte von den Stimmen zu entkommen.

      "Hast du das gesehen?", fragte der eine Mann.

      "Was meinst du?"

      "War da nicht eben ein Schatten?", wollte sich der erste Mann vergewissern.

      "Und wenn schon. Wen interessiert das schon?", antwortete der andere Mann gelangweilt.

      Der Junge wollte