Christian Jesch

Renaissance 2.0


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in der Hoffnung, den Grund für den unerwarteten Halt zu erkennen. Dies war zwar mühsam, aber es funktionierte. Bis er am Rand ankam. Dort versperrte ihm ein Mann mit schweren Stiefeln und einer ebenso schweren, dunklen Kluft den Weg. In der Hand hielt er eine Waffe, die mit einem Riemen über seine Schulter und um den Hals hing. Der Mann schaute ihn mit seinen Augen durchdringend an. Seine linke Hand ruhte auf Nenius Brustkasten, der immer noch schmerzte. Was sollte er jetzt machen, fragte er sich. Er befürchtete, dass der Mann gleich auf ihn einschlagen könnte, wenn er sich nicht zurückzog. Doch das konnte er nicht. Die Lücken, die er in die Menge gerissen hatte, um durchzukommen, hatten sich wieder geschlossen. Jetzt schaute der Mann nicht mehr grimmig, sondern nachdenklich.

      "Wie heißt du?", fragte er plötzlich. Der Junge sah den kräftigen Proteqtor mit aufgerissenen Augen an. Langsam kroch die Panik über seine Angst den Rücken hoch. Er wollte hier weg. Er musste hier weg.

      "Wie ist dein Name?", fragte der Mann erneut.

      "Nen.. Nen.. Neniu", stotterte der Junge, während er auf seinen Handrücken blickte.

      Der Proteqtor bemerkte den Blick und griff nach der Hand. Dann las er den Satz, den Veizs ihm aufgeschrieben hatte.

      "Ist das dein richtiger Name."

      "Ich weiß es nicht", stammelte Neniu

      "Was heißt, du weißt es nicht?" Der Mann konnte sich nicht entscheiden, ob er verwundert sein oder sich veralbert fühlen sollte.

      "Ich kann mich an nichts erinnern."

      Schüsse hallten zwischen den Hochhäusern wider, wo sie sich langsam verloren. Einige Menschen schrien entsetzt auf. Dann bewegte sich das Heer der Fußgänger wieder, als wäre nichts gewesen. Der Proteqtor schaute kurz auf, dann wendete er sich wieder Neniu zu.

      "Komm mit." Er schob den Jungen mit einer Hand an sich vorbei. Zusammen gingen sie zu einem der zurückgebauten Hauseingängen. Dort zog der Proteqtor ein Minitablet aus der Tasche, auf dem er herumtippte, nach oben und unten scrollte, bis er endlich gefunden hatte, was er suchte. Abwechselnd sah er von seinem Gerät auf Neniu und dann wieder auf das Display. Allem Anschein nach war er sich nicht ganz sicher.

      "Wie alt bist du?", wollte er jetzt wissen. Der Teenie fühlte sich immer mehr unwohl. Er konnte nicht im geringsten erahnen, was der Mann von ihm wollte, warum er ihn aus der Masse gezogen hatte.

      "Ich weiß es doch nicht", brachte er gebrochen vor. Ihm war übel und er zitterte. Tränen standen ihm in den Augen. Neniu glaubte, er könne jede Sekunde tot umfallen. Der Mann mit dem Mundschutz vor dem Gesicht hatte sein Gerät wieder weggesteckt. Jetzt betrachtete er den Jungen neugierig.

      "Woran kannst du dich noch erinnern?"

      "An einen Streit zwischen ein paar Jugendlichen. Da bin ich weggegangen. Einfach weg. Ich wollte in die Innenstadt."

      "Und was wolltest du da?"

      "Nichts. Ich wollte nur, weiß nicht." Der letzte Satz machte wenig Sinn, aber Neniu hatte wirklich keine Ahnung, warum er in das Zentrum wollte. Es gab einfach keine Erklärung dafür. Nur ein Gefühl. "Was haben Sie da mit Ihrem Gerät gemacht?", wollte er jetzt wissen. Wenn da etwas über ihn stand, musste Neniu das in Erfahrung bringen.

      "Ich habe mir eine Personenbeschreibung angesehen, die auf dich passen könnte. Aber sie ist nicht eindeutig. Ich nehme dich besser mit. Eventuell finden wir im Büro mehr über dich heraus."

      "Bin ich verhaftet?", wollte er ängstlich wissen. Der Proteqtor antwortete lange Zeit nicht. Er grübelte nach, wie er weiter verfahren sollte. Dann aber schüttelte er den Kopf und schob Neniu in Richtung eines Einsatzfahrzeuges, welches einige Meter weiter parkte. Die schwere, stählerne Hecktür wurde geöffnet. Der Mann im Inneren sah seinen Kollegen befremdet an.

      "Was willst du mit dem Jungen?"

      "Ich habe eine Beschreibung, die auf ihn passen könnte. Allerdings ist sie nur vage. Ich will der Sache im Büro auf den Grund gehen."

      "Aha …", war das einzige, was der andere sagte. Dabei machte er ein komisches Gesicht, als glaube er das Gesagte nicht so recht.

      Der Mann, der ihn auf der Straße mitgenommen hatte, fasste dem Jungen um die Hüften, um ihm beim Einsteigen zu helfen. Da schrie Neniu auf, als hätte ihn eine heiße Lanze durchstoßen. Der Proteqtor ließ den Teenie sofort wieder los und betrachtete den roten Fleck, der sich jetzt langsam auf der Kleidung vergrößerte.

      "Hast du ihn verprügelt?", wollte der Proteqtor im Wagen von seinem Kollegen wissen. Der schaute ihn entsetzt an.

      "Natürlich nicht. Er hat sich ja noch nicht einmal gewehrt, als ich ihn bei Seite geholt habe."

      "Du weißt, wie zimperlich die Regierung reagiert, wenn wir Kinder misshandeln."

      Neniu blieb fast das Herz stehen. Sein Schmerz und seine Blutung waren jetzt nebensächlich. Der Mann hatte davon gesprochen, Kinder zu misshandeln. Tausend Gedanken schossen durch seinen Kopf. Alle auf einmal und gleichzeitig. Wenn er in diesen Wagen stieg, war er so gut wie tot. Das war seine feste Überzeugung.

      "Halt die Schnauze, du Idiot. Dich haben sie deswegen ein Jahr lang suspendiert. Nicht mich. Setz dich ans Steuer und fahr los. Ich glaube wir bringen ihn besser in ein Krankenhaus."

      "Und wer soll seine Rechnung bezahlen?"

      "Fahr!"

      "Ist ja schon gut, du Arsch."

      Kapitel 4

      Der Wagen stoppte mit einem sanften Ruck. Stimmen wurden laut und kurze Zeit später öffnete sich die stählerne Tür am Heck. Neniu dachte, sie wären an ihrem Ziel angekommen. Doch dem war nicht so. Hinter dem Fahrzeug standen drei bewaffnete Männer, die in das Innere zielten. Der Proteqtor sah sie mit leichtem Erstaunen an.

      "Na, ihr traut euch ja was", sagte er nur, während er aufstand.

      "Endstation, bitte aussteigen", erwiderte einer der Bewaffneten. Das war allerdings unnötig gewesen, da Nenius Begleiter sich schon auf den Weg nach Draußen gemacht hatte. Die Männer machten zunächst Platz, verfolgten den Proteqtor aber immer noch mit ihren Waffen. Schließlich, als er an ihnen vorbei war, stiegen sie rückwärts ein und schlossen die Tür. Es dauerte nicht lange, bis sich der Wagen wieder in Bewegung setzte.

      "Das war mal ein Spaziergang", sagte einer der Männer.

      "Was hast du Anderes erwartet."

      "Mit ein bisschen mehr Gegenwehr hatte ich schon gerechnet", erwiderte der Erste.

      "Mach doch mal einer das Licht an", meinte jetzt die dritte Stimme. Aus dem Dunkel ertönte ein wehleidiges Ha ha ha und man könnt förmlich spüren, wie die anderen beiden Männer die Augen verdrehten.

      "Geht doch nicht, du Ochse. Der EMP hat doch die komplette Batterie lahm gelegt."

      "Hast ja recht. Hab ich vergessen." Eine Taschenlampe leuchtete auf. Der Besitzer regelte das Licht herunter und suchte dann nach einer Möglichkeit sie am Dach aufzuhängen.

      "Schon besser", meinte einer der Männer. Sein Gesicht wurde von einem eleganten Vollbart umrahmt.

      "Was haben wir eigentlich vor mit dem Fahrzeug?"

      "Kann ich dir nicht sagen. Wir bringen es zum Areal 13. Die haben den Wagen angefordert."

      "Areal 13? Das ist doch das ProTeq Spezialkommando. Richtig?", wollte einer der Männer wissen. Seine Gesichtszüge nahmen etwas Verträumtes an. "Da würde ich auch gerne mitmischen. Das sind die reinsten Maulwürfe."

      "Es ist schon unglaublich, dass die noch keinen Mann oder Frau verloren haben. Ich habe großen Respekt vor denen."

      "Den muss man auch haben", stimmte einer der Männer zu.

      Es vergingen weitere lange Minuten, in denen keiner ein Wort sagte. Der Lichtkegel der Taschenlampe taumelte leicht über den Fahrzeugboden. Von der Außenwelt war kaum etwas in diesem gepanzerten Fahrzeug zu hören. Plötzlich wurde der Wagen heftig durchgeschüttelt, die Männer durcheinander gewirbelt