Christian Jesch

Renaissance 2.0


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vagen Umriss erkennen konnte. Auf einmal wanderte der Lichtkegel an ihm runter und wurde kleiner, als der Unbekannte auf ihn zukam.

      "Was ist denn mit dir passiert?", fragte die Stimme jetzt erstaunt und vielleicht auch ein wenig besorgt. "Du siehst ja aus, als hätten sie dich in die Presse gestopft." Es entstand eine Pause. "Du musst neu hier sein. Ich hab dich noch nie zuvor in der Gegend gesehen. Und ich kenne fast jeden. Wie heißt du?"

      Er war sich nicht sicher, was der plötzliche Wandel zu bedeuten hatte. Misstrauisch beäugte er den Fremden, der mittlerweile die Taschenlampe wie eine Deckenleuchte aufgehängt hatte. Er war eindeutig größer als der Teenie und auch nicht so schmächtig. Dafür aber genauso dreckig. Sein Gesicht wurde von einem leichten Bartwuchs verziert. Die Kleidung war nicht so heruntergekommen, wie man vielleicht glauben sollte. Eigentlich sah er harmlos aus, aber der Junge traute ihm trotzdem nicht.

      "Entschuldige bitte, dass ich vorhin so harsch war. Um hier auf der Straße überleben zu können, muss man laut und auch aggressiv sein. Sonst machen dich die anderen fertig. Ich bin übrigens Veizs. Und wie ist dein Name?"

      Der Junge dachte noch einige Momente über das Gesagte nach, bevor er sich traute etwas zu erwidern. Doch was sollte er erzählen? Er wusste ja nichts.

      "Ist schon gut", ermunterte ihn Veizs. "Wir können morgen darüber reden."

      "Nein, das ist schon in Ordnung. Nur …", er zögerte. "Ich weiß nicht, wer ich bin."

      "Was meinst du damit, du weißt nicht, wer du bist?" Veizs war vor Erstaunen fast die Kinnlade heruntergefallen.

      "Ich habe wohl keine Erinnerung. Alles ist so leer."

      "Woran kannst du dich denn noch erinnern?", wollte der Jugendliche neugierig wissen. Etwas Ähnliches hatte er noch nie erlebt.

      "Dass du mich angeschrien hast."

      "Und davor? Erinnerst du dich noch daran, wie du in meinen Unterschlupf gekommen bist?" Es entstand eine lange Pause, in der der Junge suchend umherschaute.

      "Nein."

      Jetzt klappte Veizs die Kinnlade runter. Mit weit geöffnetem Mund stand er da und überlegte. Da er zu keinem Ergebnis kam, schüttelte er den Kopf und betrachtete sich dann die Wunden, die der Junge offensichtlich unter seiner Kleidung hatte.

      "Du meine Güte", stieß er laut aus. "Bist du von einem Bus überfahren worden?" Er stockte. "Du weißt, was ein Bus ist, oder?"

      "Ja, das weiß ich. Und ja, vielleicht. Jedenfalls fühle ich mich so. Da hast du recht."

      "Einige der Wunden sehen übel aus. Schlaf dich erst einmal aus. Wir seh'n uns das am Morgen noch einmal genauer an."

      Bei dem Gedanken an Schlaf mischte sich Freude mit Unsicherheit. Der Junge benahm sich zwar nett und höflich, nachdem er ihn so angeschrien hatte. Trotzdem sagte ihm sein Bauchgefühl, er solle sich nicht zu sehr auf diesen Veizs einlassen. Er war ein Straßenjunge. Und auch, wenn er nicht wusste, wo er war, Straßenkinder waren überall nur an einer Sache interessiert. Überleben. Was also sollte er jetzt machen?

      "Neniu", sagte Veizs plötzlich aus dem Nichts heraus und unterbrach somit die Gedanken des Teenie.

      "Was meinst du?", fragte der verwirrt zurück.

      "Dein Name. Wir nennen dich von jetzt ab Neniu. Das heißt soviel wie Unbekannter."

      "Wenn du meinst. Das habe ich sowieso wieder vergessen, wenn ich nachher aufwachen sollte."

      "Gib mir deine Hand", forderte Veizs ihn auf. Der Junge war sich nicht ganz sicher, ob er das wirklich machen sollte. Doch da griff der Jugendliche schon nach ihr und schrieb etwas mit Kugelschreiber auf den Handrücken: Mein Name ist Neniu.

      "Das Lesen hast du doch hoffentlich nicht auch vergessen?", erkundigte er sich jetzt.

      "Nein, auch das kann ich noch. Es sind nur die Dinge, die ich erlebe. Nach kurzer Zeit sind sie weg."

      "Das muss verdammt schwer für dich sein. Wie kommst du damit klar?"

      "Wie soll ich schon damit klar kommen? Überhaupt nicht. Du siehst, ich bin über und über mit blutenden Wunden, blauen Striemen und noch einigen anderen Dingen übersät und habe nicht die geringste Ahnung, wie es dazu gekommen ist. Ich erinnere mich noch nicht mal daran, ob ich schon immer hier gelebt habe. Und, wenn ja, habe ich dann schon immer auf der Straße gelebt. Was ist passiert, dass ich kein Zuhause habe?"

      Veizs nickte zustimmend. Er konnte Nenius Situation zwar nicht vollkommen nachempfinden, wie er sich fühlte, aber er konnte es sich grob vorstellen. Und das reichte ihm schon. Für ihn war es wirklich schwer genug auf der Straße zu überleben. Er war kein harter Kämpfer oder so, der sich überall durchsetzen konnte. Dafür konnte er sich wenigstens jeden Tag daran erinnern, wem er aus dem Weg gehen sollte. Veizs überlegte angestrengt, wie er Neniu helfen konnte. Er hatte einige Freunde, die wiederum Freunde kannten, die Freunde kannten. Möglicherweise konnte einer von ihnen dem Jungen helfen. Nur wen oder was brauchte Neniu? Einen Arzt. Das war deutlich. Und den brauchte er nicht nur wegen seiner Wunden am Körper, sondern auch wegen seiner Wunden an der Seele und im Kopf.

      Während er so überlegte war Neniu eingeschlafen. Veizs verließ den Unterschlupf, um an der frischen Luft weiter nachzudenken. Auf der Straße lag eine halb gerauchte Zigarette, die noch glimmte. Er nahm sie gedankenverloren auf und rauchte sie zu Ende. Dabei dachte er an seine Familie, die von den Proteqtoren vollständig ausgelöscht wurde. Und das nur, weil sie über die Asylpolitik der Mår-quell diskutiert hatten. Sie hatten lediglich die Frage in den Raum gestellt, wer nach dem kostspieligen Krieg die Gelder dafür aufbringen sollte, die Assylanen zu versorgen. Und was mit all den anderen Menschen ist, die schon vor der Flutwelle an Flüchtigen nicht mehr überleben konnten. Und dann war da noch seine jüngere Schwester, die einige dieser Asylaken mehr als nur bedrängt hatten. Und wer war gegen die vorgegangen? Niemand. Damals hatte er sich geschworen, den Tod seiner Familie zu rächen. Doch sein Ziel, bei den Renegaten aufgenommen zu werden, war nicht in Erfüllung gegangen. Sie hatten zwar sein Potenzial erkannt. Sie hatten aber auch seine Wut gesehen, die einfach fehl am Platz war. Damals war er frustriert und aufgebracht davon gegangen. Er hatte sogar damit gedroht den Standort, an dem man mit ihm das Interview geführt hatte, an die Proteqtoren zu verraten. Doch das hatte er nie getan. Denn bereits kurze Zeit, nachdem er sich beruhigt hatte, musste sich Veizs eingestehen, er hätte nicht anders gehandelt. Das war jetzt über drei Jahre her. Vielleicht sollte er sich noch einmal bei ihnen vorstellen. Der Schmerz über den Verlust seiner Familie war jetzt auch älter als drei Jahre und zerfleischte ihn nicht mehr so, wie damals.

      Wie zur Bestätigung seiner Gedanken über die Renegaten, hörte er irgendwo in der Stadt eine Explosion. Er lächelte zufrieden. Nicht weil er an seinen Vater, die Mutter und die beiden Schwestern dachte, sondern, weil jemand versuchte, die Regierung zu entmachten. Diese Regierung mit Mår-quell an der Spitze hatte nicht nur ihm weh getan, sie würde noch viel mehr Menschen leiden lassen. Ohne dabei jemals selber Leid zu erfahren. Irgendwann würde jemand kommen, der den Angriff auf die Hauptstadt leitet und koordiniert. Ein Angriff, dem die Regierenden und die Reichen nichts entgegenzusetzen hatten.

      Kapitel 3

      Veizs wachte auf, weil er draußen Lärm vernommen hatte. Zunächst machte er sich keinen weiteren Gedanken, da dies an der Tagesordnung war. Ganz besonders die Jugendlichen gingen immer wieder aufeinander los. Meistens ging es darum, dass jemand in ein fremdes Territorium eingedrungen war, um zu überleben. Das war auch kein Problem, solange man nicht den Jugendlichen aus dieser Gegend auffiel. Wenn das jedoch geschah, konnte es gefährlich werden. Jeder Mensch auf der Straße kämpfte hart für sein Überleben. Da war Konkurrenz ein schweres Verbrechen. Nicht selten hatte eines der Straßenkinder dies mit dem Leben bezahlt. Die Proteqtoren kümmerten sich nicht um ein solches Verhalten. Noch weniger kümmerten sie sich darum, wenn einer dabei getötet wurde. Sie arbeiteten nur in ihrem eigenen Interesse und im Interesse der Reichen und Regierenden, die dann wiederum ihnen Vorteile gewährten. Wenn sie allerdings eingriffen, weil zum Beispiel ehrbare Passanten in eine solche Situation hineingezogen wurden, dann agierten sie mit übertriebener, brutaler Gewalt gegen die Ratten, wie