Christian Jesch

Renaissance 2.0


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Hochhaus, dessen Basis etwa einhundert Meter weiter entfernt war. Dort standen einige wenige PKWs, von denen sie einen nahmen. Neniu stieg auf der Beifahrerseite ein, während sich die Frau hinter das Steuer setzte.

      "Ich bin Ezar", stellte sie sich jetzt vor und streckte ihm die Hand entgegen.

      "Mein Name ist Neniu", las er von seinem Handrücken ab. "Glaube ich." Dann schüttelte er ihre Hand.

      "Du kannst dich nicht erinnern, wie du heißt?", fragte Ezar neugierig.

      "Ich kann mich an vieles nicht erinnern." Erneut erklärte Neniu seine Geschichte, der Ezar aufmerksam zuhörte.

      "Wenn du aus dem Lazarett wieder raus bist, werde ich dich zu einer Freundin bringen, die sich um dich kümmern wird. Sie hat einige Jugendliche, die sie betreut. Und einige davon haben Probleme, wie du. Nicht genau das Gleiche. Aber eben Probleme. Möglicherweise kann sie auch dir helfen. Bevor sie hier herkam, war sie im Kinder- und Jugendamt tätig. Ich kann mir gut vorstellen, dass Sie eine Idee haben wird."

      "Das wäre wundervoll. Ich hasse mich dafür, dass ich mir nichts merken kann."

      "Du darfst dich dafür nicht hassen. Es ist nicht deine Schuld. Wer weiß, was dieses Dilemma ausgelöst hat. Du warst es mit Sicherheit nicht."

      "Wie können Sie sich da so sicher sein. Ich erinnere mich ja nicht daran, wie alles angefangen hat."

      "Das ist richtig. Nur, wie willst du absichtlich bei dir eine Amnesie auslösen. Das geht gar nicht. Amnesien werden immer von außen ausgelöst. Dadurch, dass du etwas auf den Kopf bekommen hast. Ein Schock, der dein Gehirn dazu veranlasst, diese und alle anderen Erinnerung zu vergraben, die nicht gut für dich sind. Auch ein Tumor könnte möglich sein. Das lässt sich allerdings in unserem Lazarett feststellen. Aber genau diese Ereignisse erzeugen einen Erinnerungsverlust. Nicht du."

      Ihre Stimme war so weich und zärtlich, dass Neniu gewillt war ihr alles zu glauben. Sie war aber auch so weich und zärtlich, dass sie ihn einschlafen ließ.

      Im Lazarett angekommen wurde er in einen Rollstuhl gesetzt, mit dem man ihn zur ersten Untersuchung fuhr. Ezar erklärte der Ärztin alles, was sie über Neniu, seine Verletzungen und sein geistiges Problem wusste. Die Frau versprach ihr, sich um jede Einzelheit zu kümmern und sie auf dem Laufenden zu halten. Als erstes untersuchte sie die offene, vereiterte Wunde am Rücken. Es bedurfte keiner großen Bedenkzeit zu entscheiden, den Jungen in Narkose zu versetzen. Die Ärztin meinte, man müsste einiges von den Wundrändern entfernen und den Rest ausgiebig sterilisieren. Das würde sehr schmerzhaft werden. Danach wollte sie noch während der Narkose den Oberkörper scannen und wenn nötig Knochenbrüche oder anderes operieren. Zum Schluss nahm sie sich den Kopf vor, auf der Suche nach einem eventuellen Tumor, der seine Erinnerungen beeinträchtigen könnte. Doch derartiges war nicht festzustellen.

      Stunden später kam die Ärztin auf Ezar zu. Mit Erleichterung konnte sie ihr berichten, dass alle Operationen gut verlaufen waren. Der Junge blieb jetzt noch einige Tage zur Beobachtung. Dann konnte er entlassen werden, wenn nicht noch etwas sich ereignen sollte. Ezar war sehr zufrieden mit dieser Entwicklung. Auch wenn sie ihn nicht kannte, tat ihr der Junge Leid. Hoffentlich konnte Tandra ihm helfen. Zumindest konnte sie ihm eine feste Unterkunft bieten.

      Kapitel 5

      Fünf Tage später holte Ezar ihn aus dem Hospital ab. Die Ärzte waren sehr zufrieden mit der Heilung seiner Wunden. Nur was sein Erinnerungsvermögen anging, konnten sie ihm nicht helfen. Zumindest hatten sie keinen Tumor feststellen können, der für das Problem zuständig gewesen wäre. Ezar war darüber erleichtert. Es wäre ihr zwar lieber gewesen, wenn man Neniu durch eine Operation hätte helfen können, doch auf der anderen Seite ist ein Eingriff im Bereich des Gehirns immer mit einem Risiko verbunden, welches weitaus schlimmere Auswirkungen nach sich ziehen konnte. Dafür sah der Junge besser aus. Sein Gesicht war nicht mehr eingefallen. Auch der Rest seines Körpers wirkte gestärkt. Offensichtlich hatte Neniu die Ruhe und das Essen gut getan. Trotz allem war es für den Teenie eine schwere Zeit, da er ständig neu daran erinnert werden musste, wo er sich befand und dass man ihm nur helfen wollte. Ezar gegenüber war er sehr zurückhaltend, als sie ihn abholte. Die Ärztin versuchte Neniu zu erklären, dass sie sich bereits kannten. Doch das waren nur Wort, die ihn nicht überzeugen konnten. Er blieb bei seinem gesunden Misstrauen, welches ihm seiner Meinung nach ein Überleben sicherte.

      "Guten Morgen, Tandra", rief Ezar durch den großen Raum, als sie die schlanke Figur der Rothaarigen am anderen Ende wahr nahm. Die junge Frau drehte sich überrascht um. Offensichtlich hatte sie diesen Besuch nicht erwartet.

      "Ezar", rief sie überschwänglich und eilte zu der Renegatenärztin herüber. "Dich habe ich ja schon lange nicht mehr gesehen. Was machst du hier?"

      "Ich habe eine Bitte an dich", dabei deutete sie auf Neniu, der unsicher neben ihr stand und sich die neue Umgebung betrachtete. Man konnte sehen, dass ihm nicht ganz wohl bei der Sache war. Unzählige Jugendliche und Kinder liefen hier durcheinander, saßen gemeinsam an Tischen, aßen und tranken. Keiner von ihnen beachtete den leicht zusammengekrümmten Teenie an Ezars Seite. Als wäre er nicht da. Neniu schaute hoch und bemerkte, dass die Frau mit dem Namen Tandra ihn musterte. Er starrte abwartend zurück. Nicht sicher, was im nächsten Moment kommen würde.

      "Du brauchst nicht schüchtern sein", sprach Tandra ihn jetzt direkt an. "Ich verstehe, dass dies alles hier neu für dich ist. Aber du wirst dich schon sehr bald daran gewöhnen. Für deine Erinnerungslücken werden wir uns etwas einfallen lassen, damit du hier besser klar kommst." Während sie sprach, lächelte sie ihn zuversichtlich an. Ein falsches oder ein echtes Lächeln, dachte sich Neniu. Die Tage im Krankenhaus hatten dem Teenie gutgetan. Er hatte an Zuversicht und auch an Selbstvertrauen gewonnen. Auch wenn ihn immer wieder die Erinnerungen verließen, Neniu wusste, dass er sich auch wehren konnte, wenn es sein musste. Er fühlte sich kräftiger als zuvor und das gab ihm Mut.

      "Was genau ist das hier?", fragte er Tandra mit fester Stimme.

      "Das ist eine Art Wohnheim, welches ich seit einiger Zeit leite. Früher war dies ein Möbelhaus. Aus irgendeinem Grund wurde es dann verlassen. Aber die Möbel blieben hier. Somit hat jeder, der hier lebt ein Bett, einen Schrank und diverse andere Dinge, die man braucht."

      "Wie viele leben in diesem Wohnheim?"

      "Ehrlich gesagt habe ich den Überblick ein wenig verloren. Es kommen immer wieder welche dazu. Andere wiederum müssen gehen."

      "Müssen gehen", wiederholte Neniu fragend.

      "Ja. Es gibt hier eine ganz besondere Regel, wenn man hier leben will. Errege niemals die Aufmerksamkeit der Proteqtoren. Ich will keinen Ärger mit denen. Da verliert man immer. Wenn ich daher jemanden erwische, der sich sein Geld mit Drogen, Einbrüchen oder anderen Straftaten verdient, übergebe ich denjenigen den Proteqtoren. Dafür lassen Sie mich und das Wohnheim in Ruhe."

      "Kommt das oft vor?"

      "Nicht mehr. Anfangs dachten einige von ihnen, Sie könnten mich austricksen. Mittlerweile hat es sich herumgesprochen, dass dem nicht so ist. Bei dir brauche ich mir solche Gedanken nicht machen. Da bin ich mir ziemlich sicher." Erneut lächelte sie Neniu an. Erneut lief ihm ein Schauer über den Rücken. Ihm wurde deutlich, dass Ezar ihn hier lassen würde. Der Junge beschloss das Beste aus der Situation zu machen und jederzeit wachsam zu sein. Bei der kleinsten Andeutung würde er reagieren. Wenn Neniu das Wort Paranoia gekannt hätte, wäre ihm sein Zustand bekannt gewesen. Tandra schlug ihm vor, sich erst einmal im Wohnheim umzusehen, während sie sich noch mit Ezar unterhalten wollte.

      Ziellos bewegte er sich in den Räumlichkeiten umher, wobei er von den meisten Bewohnern mit einem freundlichen 'Hallo' begrüßt wurde. Dieser Umstand brachte ihn in eine Zwickmühle. Wollten ihn die Bewohner in Sicherheit wiegen oder waren die Begrüßungen wirklich freundlich und ehrlich gemeint? Neniu konnte sich nicht entscheiden. Ein weiteres Dilemma bahnte sich bei ihm an. Er hatte nun nicht nur das Problem, sich nicht erinnern zu können. Er hatte auch die Schwierigkeit, ob er den Menschen trauen konnte. Während er weiter durch die Räume streifte, wurde dem Teenie immer mehr eins klar. Er wurde langsam verrückt. Vielleicht war er das schon seit seiner Ankunft. Plötzlich