Christian Jesch

Renaissance 2.0


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sie die leicht abschüssige Ebene. Weiter hinten war eine Rolltreppe, die sie in die darunterliegende Ebene brachte. Sie ging weiter dem Verkaufspfad folgend, bis Tandra die Wohnzimmerabteilung des Möbelhauses betrat. Dort befand sich unter anderem eine schwere Schrankwand aus einem dunklen Holz. Sie öffnete den mittleren Schrank und schob die Rückwand zur Seite. Dahinter war eine Stahltür mit einem Zahlenschloss. Tandra gab den Code ein und öffnete sie.

      Der Gang, in den sie jetzt trat, war hell erleuchtet. Einige Männer und Frauen liefen hin und her. Keiner beachtete sie. Schließlich hielt sie eine der Personen an, um diese nach Kaziir zu fragen. Die Frau vermutete sie in der Kontrollzentrale und zeigte ihr die ungefähre Richtung an. Tandra wusste, wo das war. Nach nur wenigen Metern erreichte sie den Raum und konnte auch schon die Kommandantin ausmachen. Mehr als ein dutzend Menschen liefen geschäftig in den Raum umher, rein und heraus. Tandra kämpfte sich zu Kaziir durch. Dann tippte sie ihr auf die Schulter.

      "Oh, Tandra. Du bist es. Was machst du hier?" fragte die hochgewachsene Frau freundlich und nahm die Leiterin des Wohnheims in den Arm.

      "Ich brauche deine Hilfe. Zwei meiner Jungen könnten in Schwierigkeiten sein."

      "Was für Schwierigkeiten? Proteqtoren?"

      "Nein. Jedenfalls hoffe ich das. Hast du schon von der Explosion im Parteiendistrikt gehört?"

      "Gehört weniger. Eine meiner Einheiten ist dafür zuständig", lächelte sie. Dann wurde ihr mit einem Schlag bewusst, worauf Tandra hinaus wollte. "Du glaubst doch nicht etwa, deine Jungs sind da irgendwie hineingeraten?"

      "Ich hoffe, Sie sind nicht dort gewesen. Trotzdem, du kennst die Regel. Wenn es Ärger gibt in der Stadt, hat sich jeder sofort hier einzufinden. Es sind auch alle wieder da, nur nicht die beiden."

      "Wer hat die Mission am Parteihaus geleitet? Macht mir sofort eine Verbindung", befahl Kaziir laut in die Kontrollzentrale hinein. Wenige Sekunden später kam ein "Verbindung steht" zurück. Jemand reichte der Kommandantin einen Comtab.

      "Ich will keine Erfolgsmeldung hören. Ich will, dass Sie sich sofort im Bereich der Mission auf die Suche nach zwei vermissten Jungen machen." Es entstand eine kurze Pause. "Ich weiß selber, dass die Gegend jetzt von Proteqtoren wimmelt. Ihr seid doch ausgebildet nicht aufzufallen."

      In diesem Moment meldete sich auch Tandras ComTab. Sofort reichte sie ihn an Kaziir weiter, die die Koordinaten an das Suchteam weiterleitete.

      Thevog schaute dem Teenie zu, wie er die letzten Worte in sein Comtab eingab, als ihm unerwartet etwas klar wurde. Er fragte ihn, ob er sich das Tab kurz ausleihen konnte. Neniu gab es ihm ohne Umschweife. Sein Freund öffnete eine App, die er bislang noch nicht beachtet hatte. Sie bestand nur aus einem einzigen großen, roten Button, auf den Thevog jetzt tippte.

      "Was war das?", fragte Neniu neugierig.

      "Das ist eine Hilfeapp. Wenn du mal Probleme bekommen solltest, kannst du auf diese rote Fläche drücken und deine Koordinaten gehen direkt auf den Comtab von Tandra."

      "Das ist großartig. Ich habe schon die ganze Zeit überlegt, wie wir hier wieder rauskommen. So wie es aussieht, sind die zwei Fenster und die Tür in der Front die einzigen Zugänge. Und da liegt ein Haufen Schutt und Geröll. Nicht zu reden von dem riesigen Stahlgerüst, welches zudem noch quer auf dem Haus hier liegt."

      "Können wir nicht im hinteren Bereich einige Ziegel aus der Wand schlagen und ein Loch machen, durch das wir aus dem Gebäude kommen?"

      "Können wir. Ich weiß aber ehrlich gesagt nicht, ob wir das machen sollten. Nicht, dass das Haus dann vollständig in sich kollabiert. Das Risiko möchte ich nicht eingehen."

      Thevog nickte zustimmend. Ein Loch in die Rückwand zu schlagen könnte gut gehen oder auch nicht. Der Junge atmete tief durch. Es gab also nichts anderes, als abzuwarten, bis Tandra mit Hilfe kam. Dass diese bereits vor Ort war, ahnten sie nicht.

      "Wir sind bei den Koordinaten angekommen. Es ist ein altes Backsteinhaus. Der obere Teil des gesprengten Parteigebäudes liegt quer darüber. Wenn sie da drin sind, wird es nicht einfach. Wir müssen vermeiden, noch mehr Instabilität in das Gebäude zu bringen", berichtete der Renegat seiner Kommandantin. Gleichzeitig befahl er einem anderen nachzusehen, ob das Gebäude einen Keller hat. Dazu sollte er an der rückwärtigen Mauer graben. Nach mehreren tiefen Spatenstichen bestätigte der Renegat eine weitere Mauer unter dem Bau.

      "Wir werden den Keller von Außen ausgraben und dann möglichst weit unten ein Loch erstellen. Das dürfte die Stabilität des Hauses nicht sonderlich gefährden. Ich melde mich wieder, wenn wir soweit sind reinzugehen. Ende. Also gut, Leute. Fangen wir an zu graben. Jeder zehn Minuten und so schnell er kann. Dann der Nächste. Ich will in einer halben Stunde unten durch sein", rief er nach dem Gespräch mit Kaziir seinen Männern zu. Der Erste machte sich an die Arbeit. Die Übrigen sicherten das Gelände und behielten die Proteqtoren auf der anderen Seite des Hauses im Auge. Schnell war ein anderthalb Meter breiter Schacht gegraben. Schwieriger wurde es, die einzelnen Steine aus der Mauer zu entfernen, da sie keinen Lärm verursachen durften. Nach mehr als einer Stunde konnten sie endlich in das Innere. In der Zwischenzeit waren auch Kaziir und Tandra am Ort des Geschehens angekommen. Sie hatten das Fahrzeug außer Sichtweite geparkt und waren wie ganz normale Zivilisten zu dem Haus geschlendert. Einer der Renegaten war bereits durch das Loch geschlüpft und suchte jetzt nach dem Aufgang ins Erdgeschoss. Die Kellertür war durch den Aufprall des Stahlgerippes zerborsten. Dafür lag ein Haufen Stahlbeton vor dem Durchgang. Der Mann versuchte einen Weg freizumachen, was ihm nach einigen Anstrengungen dann auch gelang. Der Renegat quetschte sich durch die Öffnung. Aus einem Hinterzimmer hörte er Stimmen. Bevor er sich dort hinbewegte, schaute er noch in die Gegenrichtung, wo die Proteqtoren mit den Aufräumarbeiten und der Spurensicherung beschäftigt waren. Vor dem Haus lag allerdings genügend Material, um ihnen den Blick in das Innere zu verwehren. Geduckt lief der Mann zu dem Zimmer und gab den beiden Jungen zu verstehen, still zu sein. Dann führte er sie zu dem Durchgang in den Keller und aus dem Haus raus.

      Als Tandra die beiden Jungen sah, war sie mehr als nur erleichtert. Sie nahm die beiden in die Arme, während die Renegaten ein Seil mit einem Anker durch ein oberirdisches Loch schoben. Sie lockerten noch einige weitere Steine, dann stiegen die Renegaten in ihr Fahrzeug. Nachdem Tandra, Kaziir und die Jungen um die Ecke waren, gaben sie kräftig Gas. Das Seil spannte sich und der Anker riss weitere Steine aus der Mauer. Das Stahlgerüst und der Beton ächzten. Erst schien nichts weiter zu passieren, doch dann gaben die Mauern nach. Der Stahlgigant schlug in einer großen Staubwolke auf dem Boden auf. Doch das sahen die Renegaten schon gar nicht mehr. Einer von ihnen zog vom Rücksitz aus den Anker in den Wagen, noch bevor sie die Hauptstraße erreichten.

      Tandra und Kaziir brachten die Jungen in ein nahegelegenes Lazarett, wo man sie untersuchte. Die Ärzte stellten jedoch keine schweren Verletzungen fest. Lediglich Neniu würde wahrscheinlich noch einige Tage taub sein. Falls sich daran nichts ändern sollte, forderte der Arzt Tandra auf, solle sie noch einmal mit Neniu zu ihm kommen.

      "Und was dich angeht, Kaziir. Tu mir doch bitte einen Gefallen. Wenn ihr Renegaten etwas plant, dann sagt mir doch Bescheid. Du weißt, dass ich keine Gefahr bin für eure Operationen, Schwester." Kaziir lächelte sie müde an.

      Kapitel 8

      "Herein", rief die donnernde, tiefe Stimme. Der Mann war sichtlich genervt. Die letzten anderthalb Stunden hatte der muskulöse Kerl mit der Bundessenatorin Mår-quell telefoniert. Er musste ihr Rede und Antwort stehen, wie es zu dem Zwischenfall im Parteienviertel kommen konnte. Dabei konnte der Mann selbst noch nichts Genaues sagen. Die Untersuchung des Tatortes war noch lange nicht abgeschlossen und das Bisschen, was man bislang gefunden hatte, gab keine Hinweise auf die Täter. Natürlich hatte er eine Vermutung. Und er war sich sicher, dass sie sich als richtig herausstellen würde. Trotzdem konnte der Mann nicht einfach irgendwelche Behauptungen in die Welt setzen. Wenn er falsch lag, würde er dem Gegner nur weitere Unterstützung der Bevölkerung verleihen.

      "Centum, wir haben etwas Interessantes auf den Luftaufnahmen der Drohnen entdeckt", fing der junge Mann an, ohne sich die Mühe zu machen, die Tür hinter sich zu schließen. Er startete das Tablet, welches er mitgebracht