Christian Jesch

Renaissance 2.0


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viel Zeit vergangen war, seit der Detonation. Sein Rücken und seine Schulter schmerzten noch stark von dem Aufprall an der Wand. Er hatte irrsinnige Kopfschmerzen. Möglicherweise war er mit dem Schädel an die gegenüberliegende Mauer geprallt. Vorsichtig betastete er seinen Hinterkopf, ob er eine blutende Stelle finden konnte. Scheinbar war da aber nichts. Er versuchte sich hinzusetzen, was ihm nach einigen Versuchen gelang. Der Hohlraum, in dem er sich befand, war stockdunkel. Furcht kroch sein Rückgrat langsam hoch. Plötzlich fiel ihm wieder ein, dass er ja nicht alleine in der Stadt war. Laut rief er nach Thevog. Keine Antwort. Er rief ein weiteres Mal. Da bemerkte Neniu, dass er noch nicht einmal seine eigene Stimme hörte. Er war taub. Er drehte sich langsam und bedächtig um, bis er auf den Knien war. Dann begann er seine Umgebung abzutasten. Der Boden war Beton, wie nicht anders zu erwarten von einem Bürgersteig. Rechts neben sich spürte er raue Rechtecke, die übereinander gestapelt waren. Die Mauer, gegen die die Explosion sie geworfen hatte? Explosion. Das Wort hallte in seinem Kopf wider. Da war doch noch etwas gewesen mit einer Explosion. Eine Explosion und ein Aufprall. Auf einmal war der Gedanke so schnell wieder verschwunden, wie er gekommen war.

      Linker Hand war ein Haufen Geröll zu ertasten. Und was war das über ihm? Das Material war vollständig glatt. Wie Glas. Neniu tastete sich weiter nach vorne, immer mit den Händen auf dem Boden. In der Hoffnung den Fuß, Arm oder ein anderes Körperteil von Thevog zu berühren. Stunden schienen zu vergehen. Der Klos in seinem Hals wurde immer größer. Endlich war da Stoff, den seine Finger verspürten. Das musste Thevog sein. Neniu rutschte noch etwas näher heran, ergriff das Bein und zog vorsichtig daran. Der Körper ließ sich leicht ziehen. Das bedeutete wohl, sein Freund war nicht unter den Trümmern eingeklemmt. Diese Vorstellung erleichterte ihn. Schließlich hatte er den Jungen ganz nah zu sich herangezogen. Er fühlte am Handgelenk und am Hals nach einem Puls und fand ihn auch. Doch irgendetwas stimmte nicht. Seine Atmung. Er fluchte lautstark vor sich hin, dass er nichts sehen konnte in dieser Dunkelheit. Als wäre dies ein Auslöser gewesen, auf den die vorhin von ihm ertastete glatte Decke gewartet hätte, splitterte das Glas unter dem auf ihm lastenden Gewicht und ließ einen winzigen Strahl Licht in die Höhle. Neniu zog den leblosen Körper hinter sich her, hin zu der neu entstandenen Lichtquelle. Plötzlich gab der Stahlträger, der jetzt sichtbar war, einige Zentimeter nach. Er vermutete, dass nach der Sprengung der obere Teil des Gebäudes, wie er es heute schon oft gesehen hatte, umgeknickt und auf das Haus auf der anderen Straßenseite gefallen war. Wie lange sich das Bausteinhaus dem Stahlbeton noch widersetzen konnte, mochte er nicht zu sagen. Neniu musste einen sicheren Platz für sie zwei finden. Nur wo sollte das sein? Er dachte darüber nach, in das Innere des Hauses zu gehen und zu versuchen, auf der anderen Seite wieder herauszukommen. Der Lichtstrahl fiel auf etwas, das wie ein Fenster aussah. Dadurch konnten sie in das Haus. Er fragte sich erst gar nicht, ob das etwas bringen würde. So oder so sah es schlecht für die beiden Jungen aus. Thevog war steif wie ein Brett, als er ihn durch den Fensterrahmen zog. Neniu konnte keines seiner Gliedmaßen bewegen. Der Junge war völlig verkrampft. Langsam glaubte er zu verstehen, warum die Atmung, die er vorhin bei ihm gespürt hatte, so ungewöhnlich war. Nicht nur seine Körperteile krampften. Nein auch seine inneren Organe taten dies. Er musste unter allen Umständen dafür sorgen, dass Thevog atmete.

      Kapitel 7

      "Hat jemand von euch Neniu oder Thevog gesehen?", fragte Tandra die Kinder im Hauptwohnbereich. Alle schüttelten den Kopf oder antworteten mit Nein. Die schlanke, rothaarige Frau mit dem grazil, energischen Gang bewegte sich weiter in Richtung der Eingangshalle, wo sie dieselbe Frage erneut stellte. Diesmal erklärte ein Jugendlicher, dass er die beiden am Morgen auf der Treppe vor dem Gebäude gesehen habe. Tandra wollte wissen, wo die zwei Jungen danach hingegangen seien. Das konnte er jedoch nicht sagen.

      "Warum?", wollte einer der anderen Jungen wissen.

      "Ist was passiert?", fragte jetzt ein Dritter.

      "Im Parteidistrikt ist eine Bombe explodiert. Ich will nicht, dass jemandem etwas passiert. Daher wäre es beruhigend, wenn ich wüsste, wo die beiden sind."

      "Sollen wir sie suchen?", boten sich einige ältere Jugendliche an.

      "Nein. Das ist zu gefährlich. Ihr wisst doch, die Proteqtoren drehen bei solchen Zwischenfällen immer komplett durch. Ich will nicht, dass ihr ihnen in die Arme lauft. Ich hoffe nur, den Zweien geht es gut", murmelte Tandra, bevor sie sich wieder an ihre Arbeit machte.

      Neniu betrachtete den vollkommen starren Körper des kleinen Jungen. Angestrengt versuchte er eine Lösung zu finden, wie er Thevog von seinem Krampf befreien konnte. Am meisten Sorgen bereitete ihm die spasmische Atmung. Mit Massagen der Arme und Beine versuchte der Teenie die Krämpfe zu lockern. Bald wurde ihm allerdings deutlich, dass der Krampf wohl eher psychische Natur war. Mit sorgloser Stimme probierte Neniu seinen Freund auf andere Gedanken zu bringen. Er nahm Thevogs Hand in seine beiden Hände, während er weiter und weiter sprach. Von Draußen drangen aufgeregte Stimmen ins Innere. Später wurden laute Befehle gerufen. Schließlich hörte er schwere Maschinen, die in die zu schmale Straße fuhren.

      Er konnte nicht sagen, wie lange er so dort mit dem Rücken an die Mauer gelehnt gesessen hatte, als Thevog sich unerwartet regte. Sofort war Neniu bei ihm. Wie es schien, lösten sich die Krämpfe langsam. Auch seine Atmung normalisierte sich. Am Ende versuchte sich der Junge sogar aufzusetzen. Neniu war sehr erleichtert über diese Wendung. Innerlich hatte er nicht daran geglaubt. Nachdem er Thevog erklärt hatte, was passiert war, entschuldigte sich dieser bei seinem Freund.

      "Warum entschuldigst du dich bei mir? Ich denke nicht, dass dies Absicht war."

      "Natürlich war das keine Absicht. Hättest du die Vorgeschichte gekannt, wärst du wahrscheinlich nicht so überrascht und geschockt gewesen."

      "Welche Vorgeschichte?"

      "Ich habe doch erwähnt, wie mein Vater, eigentlich mein Stiefvater, früher in der Airo Farm gearbeitet hat." Der Junge machte eine kurze Pause. "Stimmt. Daran kannst du dich mit Sicherheit nicht mehr erinnern. Eines Tages ließ die Regierung dort ganz bestimmte Pflanzen anbauen. Zunächst machten sich meine Eltern keine Gedanken um den Wechsel. Dann fand mein Vater allerdings heraus, wozu die Pflanzen verwendet wurden. Aus ihnen wurde ein Gift gewonnen, welches dann im Krieg eingesetzt wurde. Daraufhin steckte mein Vater die Farm in Brand. Bei dem Versuch ihn davon abzuhalten, stürzte die Farm über uns ein. Mein Vater war sofort tot. Meine Mutter verstarb einige Tage später im Krankenhaus an ihren Verbrennungen. Ich war der einzige Überlebende, wurde jedoch erst fast eine Woche nach dem Brand gerettet."

      Neniu schwieg sehr lange, bis er das Gesagte verarbeitet hatte. Diese Erfahrung erklärte so einige Dinge im Verhalten von Thevog. Warum er nicht über seine Vergangenheit sprach, beziehungsweise, warum er überhaupt eher selten redete. Neniu wusste nicht recht, was er sagen sollte. Mit einem Mal legte sein Freund ihm die Hand auf den Unterarm. Er sah ihn ernst an.

      "Tu mir bitte den Gefallen und behalte das Ganze für dich. Ich habe es bislang noch niemandem erzählt. Dafür war ich einfach noch nicht bereit. Bei dir ist das irgendwie etwas anderes. Ich kann es nicht erklären."

      "Was passierte mit dir nach der Rettung?"

      "Ich habe keine Ahnung. Nach dem Feuer und allem setzen meine Erinnerungen aus. Ich habe keine Erinnerung daran, ob ich danach in ein Heim oder zu neuen Eltern gekommen bin. Mein Gedächtnis setzt dann hier in Nuhåven wieder ein, wo ich eines Tages alles wieder bewusst wahr genommen habe."

      Erneut entstanden einige Minuten des Schweigens, bevor Thevog ihn ein weiteres Mal darum bat, über die Geschichte nicht zu reden. Der Teenie versprach Stillschweigen zu wahren. Ihm war sehr deutlich, dass es an dem Jungen lag, wann er wem von dieser Geschichte erzählen wollte. Doch er würde sie nicht vergessen – dank seines neuem, ausgelagerten Gedächtnis, in das er alles notiert hatte.

      "Habt ihr immer noch nichts Neues von Neniu und Thevog gehört?", fragte Tandra abermals jeden, den sie traf. Die Nervosität stand ihr ins Gesicht geschrieben. Noch nie hatte sie ein Kind verloren. Und jetzt gleich zwei auf einmal? Nein. Letztendlich entschloss sie sich Kaziir aufzusuchen. Sie begab sich durch das gesamte Möbelhaus zum Süd-West-Flügel, der schon vor vielen Jahren aus ungeklärten Gründen abgesackt war. Jetzt war die erste Etage dieses Flügels auf Höhe