Christian Jesch

Renaissance 2.0


Скачать книгу

dem Aufstehen an ihn erinnerte. Doch auch dafür entwickelte Thevog eine Lösung.

      "Hier, Neniu", sagte der schüchterne Junge mit einem breiten Grinsen im Gesicht. Dabei übergab er ihm einen flachen Gegenstand, der in etwa so groß wie seine Handfläche war. Neniu schaute ihn fragend an. "Das ist ein Comtab", erklärte Thevog. "Ich habe Tandra gebeten, wenn möglich ein solches für dich zu besorgen. Du kannst damit Bilder machen und kalendarische Einträge. Du kannst sogar Tagebuch schreiben. Damit schaffst du dir deinen eigenen Erinnerungsspeicher."

      Es dauerte eine gewisse Zeit, bis Neniu verstanden hatte, was ihm Thevog mit diesem Gerät ermöglichte. Mit dem Comtab wurde sein Erinnerungsproblem sekundär. Er konnte von jetzt an seinen ganzen Tagesablauf immer und immer wieder nachlesen. Möglicherweise würde ihm das sogar helfen, die Vergangenheit in seinem Kopf zu speichern. Eine innere Wärme machte sich bei ihm breit und ließ sein Gesicht erstrahlen. Schließlich, als er vollständig verstanden hatte, welche Möglichkeiten ihm diese Technik bot, stand er auf und nahm Thevog in den Arm.

      "Ich danke dir vielmals, mein Freund. Das wird eine große Hilfe für mich sein. Komm, lass uns zu…", er stockte einen Moment. "Wie heißt sie nochmal?", fragte er unsicher.

      "Meinst du Tandra?", erwiderte Thevog.

      "Genau. Tandra. Ich will mich bei ihr bedanken."

      Gemeinsam machten sie sich auf die Suche nach der Leiterin des Wohnheims. Es dauerte einige Zeit, bis sie die junge Frau in einer der zahlreichen Abteilungen des Möbelhauses gefunden hatten. Sie kümmerte sich gerade um ein krankes, junges Mädchen, welches kräftig hustete.

      "Was ist mit ihr?", wollte Thevog wissen.

      "Sie ist letzte Nacht von Draußen zu uns gekommen."

      "War sie denn schon im Hospital?", unterbrach Neniu sie voller Tatendrang.

      "Noch nicht. Einer der Ärzte aus deinem Lazarett wird später nach ihr sehen. Bis dahin muss ich mich um sie kümmern."

      "Kann der Arzt nicht jetzt kommen?", fragte Neniu ungeduldig.

      "Nein. Es gab Verletzte bei den Renegaten, die zuerst versorgt werden müssen."

      "Renegaten?", dem Teenie kam das Wort bekannt vor, doch er wusste nicht mehr, was es bedeutete. Thevog klärte ihn in kurzen Sätzen erneut auf.

      "Richtig. Da war etwas passiert, weswegen die Menschen auf die Regierung wütend sind", sagte er nachdenklich.

      "Daran kannst du dich entsinnen, Neniu. Das ist ja großartig", freute sich Tandra.

      "Ich habe aber den Grund dafür nicht mehr im Gedächtnis."

      "Das macht nichts. Dass dir überhaupt eingefallen ist, dass da etwas in der Vergangenheit war, ist schon ein großer Schritt. Das lässt mich hoffen." Mit einem freudigen Lächeln wendete sie sich wieder dem kranken Kind zu.

      "Ich wollte dir noch für das Comtab danken. Ich habe bereits eine Vorstellung, wie ich es für meine Zwecke einsetzen werde."

      "Ich hoffe wirklich, es hilft dir als eine Art Ersatzgehirn", antwortete Tandra, ohne sich dabei umzudrehen.

      'Das wird es', dachte Neniu. Gemeinsam mit Thevog ging er nach Draußen. Auf den Stufen vor dem Möbelhaus sitzend erklärte sein schüchterner Freund ihm, was er für Neniu alles auf dem Tab eingerichtet hatte. Unter anderem gab es eine App, in der man ein Foto und die Personalien einer Person eingeben konnte. Als der Teenie das Programm öffnete, war dort bereits ein Eintrag zu finden. Es war das Bild von Thevog und einige wenige Daten zu seiner Person. Als Status stand dort: Freund.

      Wie an den meisten Tagen machten sich die Zwei auf in die Stadt. Bislang hatte Thevog ihm alle möglichen Dinge, Gebäude und andere Sachen gezeigt und erklärt, nur damit Neniu sie wenige Stunden später erneut vergessen hatte. Dieses Mal war es anders. Der Junge machte zu allem, was sein Begleiter und er sahen, Bilder sowie Bemerkungen zu den Objekten. Sein Freund erläuterte ihm auch, dass jedes Bild einen sogenannten Geotag bekam, mit dem er den Standort in der ebenfalls installierten Kartenapp wiederfinden konnte. Neniu war immer wieder von Neuem davon fasziniert, wie hier moderne, polierte und auch schlanke Gebäude sowie Hochhäuser neben eingestürzten Skeletten alter Stahlbetonbauten empor ragten. Vereinzelt sah er sogar noch Ziegelbauten. Doch die waren alle irgendwie verlassen oder auch nicht. Thevog erklärte ihm, dass die Steinhäuser, wie er sie nannte, häufig von einzelnen Straßenkindern als Unterschlupf genutzt wurden.

      "Diese eingestürzten Bauten…", der Teenie zögerte.

      "Alle im Krieg zerstört. Die andren, intakten Hochhäuser wurden in den letzten dreizehn Jahren hochgezogen, nachdem die Kampfhandlungen beendet waren", erklärte der schüchterne Junge.

      "Und warum wurden die zerstörten Bauten nicht abgerissen?"

      "Zu teuer. Die Firmen haben zwar Geld investiert, aber nicht mehr, als unbedingt notwendig. Einige der Hochhäuser sind auch nicht wirklich neu gebaut worden. Es sind alte, statisch stabile Gebäude, die gesichert und verschönert wurden." Thevog schien sich hier in einem Element zu befinden, das ihm Freude bereitete. Normalerweise sprach er nicht einmal halb soviel.

      Am aller interessantesten fand Neniu die großen Hologramme, die über den Straßen und der Stadt schwebten. Mal war es nur ein überdimensionales Gesicht, dann ein ganzer Körper, Autos, käufliche Produkte, Bilder von fernen Stränden. Letzteres empfand Neniu als reinen Hohn. Wer sollte es sich schon leisten können, an einen solchen Strand zu reisen. Doch Thevog erinnerte ihn an die Superreichen, die sich alles leisten konnten.

      "Hier in Nuhåven versucht jeder irgendwie über die Runden zu kommen. Die einen, so wie wir, schaffen es nur so eben. Andere haben bei den Firmen Arbeit gefunden und können sich ein besseres Leben leisten. Wenn du allerdings in das Zentrum der Stadt gehst, wo wir natürlich nie hineinkommen, kannst du sehen, was wirklicher Reichtum bedeutet."

      "Warum können wir dort nicht hingehen?", wollte Neniu verständnislos wissen.

      "Ganz einfach. Die Reichen bezahlen die ProTeq dafür, dass sie den Bereich abschotten. Sie wollen dort kein Elend sehen oder gar die Gefahr eingehen, jemand könnte bei ihnen einbrechen oder sie auf der Straße überfallen."

      Neniu schrieb alles, was Thevog ihm erzählte in Stichworten mit. Er wollte versuchen Allgemeinwissen zu sammeln, um diese für ihn unbekannte Welt zu verstehen. Während er seinem Freund zuhörte, fragte er sich immer wieder, wie es zu dieser Spaltung zwischen Arm und Reich gekommen war. In ihm wuchs das Verlangen, etwas dagegen zu unternehmen.

      Schließlich waren da noch die Zeppeline, die über der Stadt kreisten und ununterbrochen von der Regierung, der Hauptstadt, dem Kampf gegen die Widerständler und noch vieles mehr mit lauter Stimme schilderten. Gerade berichtete einer dieser Blimps, so wurden sie genannt, berichtigte ihn Thevog, dass die Asylaken und andere aus dem Ausland angesiedelte ab sofort nur noch als geduldet gelten, womit sie kein Anrecht auf Sozialleistungen vom Staat haben. In der Menge wurden Stimmen laut, wie etwa 'Richtig so' oder 'Wurde ja auch langsam mal Zeit'. Andere wiederum riefen, 'Damit die scheiß Reichen aus der Regierung noch mehr Geld bekommen.' Thevog wurde das etwas zu kritisch und er zog seinen Freund in eine ruhigere Nebenstraße.

      "Lass uns besser hier verschwinden.", erklärte Thevog. "Wenn die Bevölkerung solche Äußerungen in der Öffentlichkeit macht, bedeutet das nie etwas Gutes. Meist ist das der Anfang. Dann bilden sich Gruppen, die lautstark gegen die Regierung diskutieren. Es werden Pläne ausgerufen, die Senatorin zu stürzen und noch einiges mehr. Wahrscheinlich wimmelt es gleich in der Straße nur so vor Proteqtoren, wenn nicht schon jetzt einige in Zivil sich unter den Menschen befinden." Neniu nickte verstehend mit dem Kopf.

      In der schmalen Gasse war außer ihnen kein anderer Mensch. Neniu wollte wissen, wo sie sich befinden. Dies sei ein Bereich, in dem die Regierung und ihre Partei einige Büros unterhielten, erläuterte ihm sein Freund. Deswegen sind auch nur wenige Leute in den Straßen unterwegs. Neniu macht ein Bild von einem der Gebäude, um sich den Distrikt mit seinem Comtab einzuprägen, als dieses durch eine gewaltige Explosion im unteren Bereich auseinander barst. Die Druckwelle schleuderte die Zwei über die schmale Straße auf die andere Seite. Mit voller Wucht prallten