Christian Jesch

Renaissance 2.0


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hoffte sie das, dachte Tandra, nachdem sie die Durchsage beendet hatte. Sie kannte die Berichte von Kaziir über diese Tiere gut genug. Erfolgsorientiert und gefühllos. Dazu noch machtbesessen und völlige Selbstüberschätzung. Sie hoffte nur, dass keiner ihrer Schützlinge zu Schaden kam.

      Auf einmal fiel ihr ein, sie musste noch Kaziir warnen. Schnell verließ sie das Büro und rannte rüber in den Süd-West-Flügel. Kaziir war nicht wirklich überrascht darüber, dass die ProTeq eine Spur verfolgten. Das lag jedoch nicht daran, dass Kaziir der Fehler mit dem Fahrzeug bereits bekannt war. Es lag einfach nur daran, Kaziir war nie überrascht, was die Proteqtoren anging.

      "Es tut mir leid. Wir hätten besser einen größeren Umweg fahren sollen, damit der Verdacht nicht hierher gelenkt wird."

      "Ich weiß. Aber ich wollte auch so schnell wie möglich medizinische Hilfe für die Beiden. Also bin ich auch schuldig. Ich habe meinen Kindern Anweisungen gegeben, sich mit den Proteqtoren gut zu stellen. Hoffentlich reicht das und sie verschwinden wieder schnell."

      "Das hoffe ich auch. Beeil dich jetzt besser. Die ProTeq kann jeden Augenblick bei dir einschlagen. Wir fahren hier alles runter, damit man uns nicht anpeilen kann. Sag mir nachher Bescheid, wenn sie wieder weg sind."

      "Mach ich, Schwester. Und nochmal danke für die Rettung."

      "Geh schon. Deine Kinder warten auf dich."

      Tandra erreichte den Eingang zum Wohnheim gerade noch rechtzeitig. Durch die Fenster konnte sie bereits die ersten Proteqtoren sehen, wie sie in der Gegend herumschnüffelten. Allem Anschein nach war dies nur der Vortrupp, denn sie kamen nicht in das Möbelhaus, sondern interessierten sich mehr für die Umgebung. Die Männer schoben jeden einzelnen Busch auseinander, um dahinter zu sehen. Langsam wurde der Leiterin bewusst, was die Leute dort taten. Sie hofften, den Wagen zu finden, der jedoch im Untergeschoss des Süd-West-Flügels stand. Vielleicht würden sie auch gar nicht hereinkommen und Fragen stellen, wenn dieser Trupp hier nichts fand. Doch Tandra wusste, dies war ein Wunschtraum. Natürlich würden sie kommen. Und natürlich würden sie wie die Vandaloj durch das Wohnheim stampfen. Die Kinder trotz ihrer Zusammenarbeit hart ran nehmen. Jeden einzelnen Stein, jedes Bett, jeden Schrank umdrehen und durchsuchen. Innerlich zitterte sie. Nach Außen hin gab sie sich gelassen.

      Sie erinnerte sich an ihre Kindheitstage. An diesen einen Tag. Plötzlich flog die Haustür auf. Drei Männer stürmten in die Wohnung und stießen alles um, was ihnen im Weg war. Tandra wurde dabei auch überrannt. Das kleine Mädchen, welches sie damals noch war, flog durch den halben Raum, bis sie mit der Ecke eines Tisches zusammenprallte. Diese Ecke bohrte sich tief zwischen ihre Schulterblätter. Damals hatte Tandra das Gefühl, es würde ein Loch bis hinein in ihre Lunge entstehen. Gedankenverloren tastete sie nach der Narbe. Panisch schrie das kleine Mädchen auf, begann hektisch zu atmen, bevor sie dann laut um Hilfe schrie. Einer der Männer brüllte sie an, die Schnauze zu halten. Dann deutete er an, sie schlagen zu wollen. Tandra zuckte ängstlich zusammen. Tränen liefen ihr in Bächen die Wangen herunter. Überall war Geschrei, Lärm und Poltern. Das Mädchen versuchte wegzukriechen. Plötzlich riss einer der Eindringlinge sie an den Haaren hoch, schaute ihr ins Gesicht und schleuderte sie dann in einen Sessel. Von dort aus konnte Tandra sehen, wie die Nachbarn vorsichtig um den Türrahmen in das Innere blickten. Als sie Tandra erkannten, wurde die Verzweiflung in ihren Gesichtern nur noch größer. Die Nachbarn wollten ihr helfen. Doch sie wussten genau, was passieren würde, wenn sie die Wohnung betraten. Irgendwann in diesem Chaos fiel ein Schuss. Dies war das Zeichen für die Nachbarn, sich so schnell es ging zurückzuziehen. Erneut wurden die Männer laut. Diesmal schrien sie sich gegenseitig an. Dann stürmten sie unerwartet wieder aus der Wohnung. Zurück blieb ein geschundenes Kind, eine angeschossene Mutter und ein Stiefvater, der von dem Tag an nur noch unbetroffen vor sich hin vegetierte. Die Aufregung, so erfuhr sie später, hatte einen Hirnschlag ausgelöst. Das waren die Proteqtoren, die Tandra in Erinnerung hatte. Und die, von denen Kaziir immer wieder erzählte, waren nicht anders. Nichts hatte sich geändert.

      Kapitel 9

      Tandra stand noch immer am Fenster und beobachtete die Leute, die die Gegend durchsuchten. Daher bemerkte sie nicht, wie eine Gruppe von neun Männern und Frauen die Vorhalle betraten. Einer von ihnen brüllt die wenigen Jugendlichen an, sie sollen sofort herkommen. Die Leiterin des Wohnheims näherte sich dem Trupp von der Seite. Sogar die Frauen wirkten grobschlächtig und unerbittlich. In Tandra kam erneut die Wut hoch. Am liebsten wäre sie auf diesen Abschaum losgegangen, um ihn zur Strecke zu bringen. Doch dann übernahm die Vernunft wieder ihr Handeln.

      "Was kann ich für Sie tun?", fragte sie mit freundlicher Stimme, als wären ihr die Männer und ihr Anliegen unbekannt.

      "Wer sind Sie?", fragte der Mann harsch.

      "Ich bin die Leiterin dieses Wohnheims. Und Sie?"

      "Wer wohnt hier?", antwortete der Hüne ohne auf Tandras Frage einzugehen.

      "Etwa einhundert Kinder und Jugendliche. Warum möchten Sie das wissen?" Die Leiterin blieb immer noch höflich, was ihr bei der Arroganz, die der Proteqtor an den Tag legte, alles andere als leicht fiel.

      "Verschließen Sie alle Zu- und Ausgänge. Kein Einziger von denen verschwindet. Ist das klar?"

      Tandra verschränkte die Arme vor der Brust. Dabei schaute sie dem ungehobelten Klotz in die Augen, bewegte sich aber sonst nicht. Ebenso wenig sagte sie etwas oder gab die Anordnung von ihm weiter. Die Szene dauerte einige Sekunden an. Dann wurde es dem arroganten Kerl zu viel.

      "Welchen Teil meiner Anweisungen haben Sie nicht verstanden?", wollte er drohend wissen.

      "Zunächst einmal würde ich gerne wissen, mit welchem Recht Sie hier reinstürmen, herumbrüllen und Anweisungen geben. Und wenn wir schon mal dabei sind, könnten Sie mir auch gleich sagen, was der Grund dafür ist."

      "Junge Frau, Ihnen ist wohl nicht klar, wer wir sind…"

      "Deswegen habe ich Sie ja auch gebeten sich zu erklären", unterbrach Tandra den Mann, der jetzt nach Luft schnappte, weil er ein solches Verhalten nicht gewohnt war.

      "Also gut." Sein Brustkorb schwoll an, als er versuchte ruhig durchzuatmen. "Ich bin Decem Ashan. Leiter der Abteilung für Verhöre der ProTeq in Nuhåven. Wir sind hier, um etwas über ein Fahrzeug in Erfahrung zu bringen, das mit dem Anschlag gestern zu tun hat. Würden Sie jetzt also gefälligst alle Ein- und Ausgänge verschließen, damit wir die hier Anwesenden verhören können?"

      "Ich verstehe das als eine Bitte...", konterte Tandra, "...der ich gerne nachkommen werde. Kinder!", rief sie in die Vorhalle. "Verschließt alle Ein- und Ausgänge und bringt mir dann die Schlüssel." Der Decem sah sie genervt an. Wahrscheinlich hatte er erwartet, dass die Leiterin der Wohnanlage selbst diese Aufgabe erfüllen würde. Daher gab er den Befehl an seine Truppe, den Kindern zu folgen und darauf zu achten, das sich keines davon machte.

      Noch war alles recht ruhig verlaufen. Die junge Frau zitterte trotzdem am ganzen Leib aufgrund der vorgespielten Ignoranz gegenüber dem Kommandanten der neunköpfigen Gruppe. Ihr war von Anfang an bewusst, dass ein solches Verhalten auch schiefgehen konnte. Genaugenommen war sie sogar darüber verwundert, mit welcher Gelassenheit der grobe Kerl ihre Reaktionen aufgenommen hatte. Ihr war aber auch deutlich, diese Gelassenheit konnte sich von der einen auf die nächste Sekunde ändern. Dies traf nicht nur auf den einen Mann, sondern auf die gesamte Gruppe, die sich jetzt langsam wieder in der Halle einfand, zu.

      "Also gut. Kommen wir zum eigentlichen Grund unserer Anwesenheit. Jeder von uns übernimmt zehn der Jugendlichen und befragt diese. Am Ende will ich Ergebnisse sehen. Bewegung. Ihr da…", dabei zeigte er auf einige Kinder und Jugendliche zu denen auch Neniu und Thevog gehörten. "Ihr kommt mit mir. Und Sie auch." Damit meinte er die Leiterin.

      Gemeinsam zogen sie sich in einen der hinteren Winkel zurück, wo es etwas ruhiger war. Ashan trennte Tandra von den Übrigen und begann sie zu verhören. Dabei achtete er auch jede noch so kleine Regung von der jungen Frau. Das Zucken im Augenwinkel, ein Tippen mit dem Finger, ein ausweichender Blick, das Spielen mit den langen, roten Haaren und vieles mehr. Er kannte so ziemlich alle verräterische Bewegungsabläufe, Regungen und Zuckungen. Doch in den