Christian Jesch

Renaissance 2.0


Скачать книгу

ihrer Schwester von dem Vorhaben erzählt, Neniu zu einem Therapeuten zu bringen. Kaziir hatte sofort gewusst, an wen sie dabei dachte und sich bereit erklärt mitzukommen. Tandra hatte den Jungen deswegen so früh geweckt, weil sie durch die halbe Stadt in einen anderen Außenbezirk mussten. Dies würde einiges an Zeit in Anspruch nehmen. Und so war es dann auch.

      Gegen Mittag trafen die drei endlich bei Doktor Deivo ein. Nachdem sie ihm die Situation ausführlich erklärt hatten, schwieg dieser zunächst für einige Minuten, bevor er sich dann an Kaziir und Tandra wandte.

      "Das wird keine besonders einfache Aufgabe. Und ich glaube auch nicht, dass wir das in einer Sitzung schaffen. Aber das war auch noch nie der Fall. Normalerweise haben meine Patienten nur eine Sperre, bis zu der sie sich zurückerinnern können. Sie wissen dann nur nicht, was davor geschehen ist. Bei ihm…", er schaute nachdenklich auf den Jungen, der unbeteiligt in einer Ecke saß, "...scheint diese Barriere zu wandern. Ich habe es bislang noch nie erlebt, das jemand nur ein bestimmtes Zeitfenster an Erinnerungen hat und kontinuierlich alles, was davor passiert ist, wieder vergisst." Deivo legte den Zeigefinger über seine Lippen, schaute in eine ferne Leere und grübelte über alle Möglichkeiten nach. Neniu hatte keine äußerlichen Schäden davongetragen, die einen derartigen Gedächtnisverlust begründen könnten. Das hatte er bei seiner Untersuchung des Jungen am Anfang bereits festgestellt. Und das hatte er nach der Schilderung der zwei jungen Frauen auch nicht erwartet.

      "Möglicherweise…", fing der Doktor überraschend wieder an, zu sprechen, "...liegt die Barriere aber auch zwischen seinem Kurzeit- und dem Langzeitgedächtnis. Das wäre überaus logisch. Offensichtlich können die wenigen Stunden der Kurzzeiterinnerungen nicht in die Langzeiterinnerungen übergehen. Oder aber, sie können übergehen, doch er kann nicht darauf zugreifen." Erneut verfiel der Mann mittleren Alters in Schweigen. Bedächtig ging er zu seinem Schreibtisch, von dem er ein Tablet aufnahm. Damit blätterte er einige Zeit in diversen Veröffentlichungen über das Problem. Vereinzelt machte er sich auf seiner Schreibtischunterlage Notizen, verglich diese mit anderen Veröffentlichungen, strich einige davon wider durch, während er andere ergänzte. Nach längerer Zeit legte er das Tablet erneut zur Seite. Er betrachtete die beiden Frauen, dann den Jungen.

      "Also, gut." Deivo drehte sich zu dem Teenie in der Ecke um, bevor er weitersprach. "Ich denke, junger Mann, wir werden eine Rückführung machen, zusammen mit einigen Medikamenten, die dir dabei helfen werden, zumindest für den Augenblick die Sperre in deinem Hirn zu überwinden. Vielleicht können wir sogar einen verbesserten Zustand erreichen. Das kann ich aber noch nicht sagen. Wärst du damit einverstanden?" Neniu schaute den Mann einige Momente an. Seine ruhige und freundliche Art war ihm sympathisch. Vertrauens erweckend sogar. Etwas gab ihm das Gefühl in Sicherheit zu sein. Sein Blick wanderte zu Tandra, die leicht nickte. Kaziir lächelte ihm aufmunternd zu. Dann schaute Neniu den Doktor erneut an.

      "Ich werde es machen. Ich muss allerdings zugeben, dass ich sehr nervös bin."

      "Das sind die meisten Patienten…"

      "Nein", unterbrach Neniu den Arzt sanft. "Weil ich Sie nicht kenne. Deswegen bin ich nervös." Doktor Deivo stockte einen Augenblick. Der Junge war gegenüber Unbekannten misstrauischer, als es andere Patienten war, die er behandelt hatte. Das könnte die Behandlung erschweren. Möglicherweise sogar komplett verhindern.

      "Welche Befürchtungen hast du denn mir gegenüber?", fragte Deivo daher neugierig.

      "Ich weiß nicht, ob Sie gut oder schlecht für mich sind."

      "Du glaubst also, ich könnte in der Hypnose etwas mit dir anstellen, dass dir dann zu Nachteil gereichen würde. Ist es das, was du meinst?"

      "Unter anderem."

      "In einer Hypnose kann man einem Menschen nichts 'einpflanzen'…", bei diesem Wort machte der Doktor mit beiden Zeige- und Mittelfingern zwei unsichtbare Anführungsstriche in die Luft, "...was er nicht will. Die Moral eines Menschen steht über seinem Verstand. Sofern du im tiefsten Inneren etwas nicht willst, kann ich daran nichts ändern."

      "Und das ist mein Problem. Ich weiß ja noch nicht einmal, was ich in meinem 'tiefsten Inneren'…", er machte die Anführungszeichen nach, "...für Gefühle habe. Stellen Sie sich vor, ich wäre ein gesuchter Massenmörder. Was würden Sie dann mit ihrer Therapie freisetzen?"

      "Ah, jetzt verstehe ich deine Bedenken. Ich gebe zu, dass du hier eine Möglichkeit ansprichst, die zur Tatsache werden kann. Vielleicht beruhigt es dich etwas, wenn ich dir vorschlage, dich zu sichern."

      "Vielleicht sollten Sie das", bekräftigte Neniu den Arzt.

      "Gut. Dann werden wir das machen. Auch wenn ich nicht glaube, dass es notwendig ist. "

      Der junge Teenie legte sich auf eine von Doktor Deivo angewiesene, bequeme Liege, auf der er dann gesichert wurde. Danach verschwand der Arzt für eine kurze Zeit in einem Nebenraum, aus dem er mit zwei Spritzen zurückkehrte.

      "Die eine Spritze hier wird dich körperlich vollkommen entspannen. Die andere macht das Gleiche mit deinem Geist. Du wirst dann nur noch auf meine Stimme hören und dich an die Dinge erinnern, die zu meinen Fragen gehören. Alles andere, worüber du im Moment nachdenkst, grübelst und so weiter, tritt in den Hintergrund."

      Nachdem Deivo die beiden Spritzen gesetzt und Neniu langsam in die Tiefenhypnose gebracht hatte, wendete er sich noch einmal an Tandra und Kaziir. Er wollte von den beiden wissen, warum der Junge so panisch daran fest hielt, er könnte böse sein. Darauf hin berichtete Tandra von seinen Begegnungen mit den Proteqtoren und der damit verbundenen Unsicherheit über seine Vergangenheit.

      "Das wird spannend", war die einzige Bemerkung, die der Arzt dazu machte. Dann begab er sich zu der Liege und fing mit der Therapie an.

      "Zunächst einmal fangen wir mit etwas ganz einfachen an. Du erzählst mir jetzt von den letzten Stunden, an die du dich erinnerst. Lass dir dabei viel Zeit und versuche nicht, irgendetwas zu erzwingen. Möchtest du mir etwas erzählen, an das du dich nicht genau erinnern kannst, mach einfach weiter und überspringe das, was du mir berichten willst."

      Neniu begann damit dem Arzt zu schildern, wie er am Morgen geweckt wurde und danach mit den beiden Frauen durch die Stadt gelaufen war. Dabei beschrieb er besonders detailliert eine Personengruppe, welche die Menschen davon überzeugten, dass es so etwas wie einen Gott nicht gäbe. Er erinnerte sich an die Sätze 'Götter sind nur für diejenigen, die die Welt und die Gesetze der Natur nicht verstehen. Sie sind für diejenigen, die jemanden suchen, dem sie die Schuld für ihr eigenes Versagen geben können'. Der Junge hatte lange diesen Personen fasziniert zugehört und sich immer wieder gefragt, was ein Gott ist. Kaziir hatte ihm dann erklärt, die Menschen würden sich in ihrem Elend seit einiger Zeit einem obskuren neuen Ding, das sie Religion nannten, anschließen. Dabei wurde ihnen gesagte, dass dieser Gott an ihrer Misere schuld wäre und dass sie nur zu ihm beten müssten, um alles zum Guten zu wenden, statt sich gegen die zu wehren, die für ihr Elend wirklich verantwortlich sind. Dabei schilderte der Junge unter dem Einfluss der Hypnose sehr genau, wie die Menschen reagierten und zumeist nachdenklich weggingen.

      Dann erzählte er noch von einigen, wie er sagte, gesichtslosen Kuttenträgern, die mit einem monotonen Singsang durch die Straßen wanderten. Der Junge hatte versucht, die Worte zu verstehen. Was ihm jedoch nicht gelang. Stattdessen, sagte Neniu, wurde er schläfrig und hatte das Bedürfnis diesen Wesen zu folgen. Tandra nannte sie Sturmsinger.

      Schließlich verstummte der Teenie. Das war das Zeichen für Deivo weiter zu gehen. Er forderte Neniu auf zu sagen, was sich am Tag vor dem Aufstehen ereignet hatte. Erneut berichtete der Junge detailliert über seinen Wunsch sich der ProTeq zu stellen und über die Durchsuchung des Wohnheims durch die Proteqtoren. Als er abermals schwieg, bat ihn der Doktor noch einen Tag weiter zurückzugehen. Der Teenie schilderte die Explosion, den Einsturz, das Haus, die Rettung. Alles sehr genau und präzise. Tandra und Kaziir waren erstaunt über das, was er alles noch wusste. Nach und nach führte ihn der Arzt bis zu dem Tage, an dem Neniu mit dem Waggon in Nuhåven angekommen war. Endlich erfuhr Tandra, woher der Junge all seine Verletzungen hatte. Erst jetzt wurde ihr bewusst, was er schon alles durchgemacht hatte. Sie kämpfte stark mit ihren Gefühlen und wäre am liebsten herausgegangen. Als Doktor Deivo jedoch versuchte über diesen