Christian Jesch

Renaissance 2.0


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zu bedenken.

      "Das werden wir erst dann herausfinden, wenn wir über den Tag seiner Ankunft hinaus in seinem Kopf wieder Ordnung gebracht haben", gab Kaziir zu bedenken. Auf einmal wurde ihr bewusst, dass sie keine Ahnung hatte, wo Tandra und Neniu waren. Erschrocken schoss es ihr durch den Kopf, dass die zwei Männer weder den einen noch die andere erwähnt hatten.

      "Was ist mit den beiden?", fragte sie aufgeregt und versuchte sich dabei aufzustützen.

      "Bleiben Sie ruhig und vor allem bleiben Sie liegen, sonst verschlimmern sie ihre körperliche Situation nur noch mehr. Und dann kann ich ihnen überhaupt nicht mehr helfen." Behutsam drückte Kasan die Renegatin wieder auf den OP-Tisch runter. "Wir wissen nicht, wo sich die beiden zurzeit aufhalten. Ich kann ihnen nur sagen, dass Sie offensichtlich noch leben, soweit wir das sagen können. Zumindest…", Doktor Kasan stockte einen Augenblick, während er überlegte, wie er das folgende möglichst taktvoll benennen konnte, "...haben wir nichts gefunden, was dem widerspricht."

      "Ich habe gesehen, wie der Junge und die Frau um die nächste Ecke verschwunden sind", bekräftigte Deivo. "Ich kann gerne nachsehen, ob sich danach noch etwas entwickelt hat", bot er dann auch noch Kaziir an.

      "Machen Sie das, Kollege. Ich habe hier die nächsten paar Stunden alle Hände voll zu tun, diese junge Dame notdürftig zusammenzuschustern. Das hier ist ein etwas älteres Modul zur Nervenstimulation, welches ich gefunden habe", fuhr er an Kaziir gewandt fort. "Damit werde ich versuchen die geschädigten Nervenbahnen erneut zusammenzufügen. Allerdings muss ich Sie auch gleich vorwarnen. Wenn das funktioniert, mit meinen bescheidenen Mitteln, dann heißt das nicht, Sie können wieder wie vorher durch die Gegend laufen. Es wird einiges an Zeit kosten, bis Sie sich wieder halbwegs normal fortbewegen können. Tut mir sehr leid. Aber mehr kann ich für Sie leider nicht machen."

      "Das geht schon in Ordnung, Dok. Machen Sie mich erst einmal so weit fit, wie Sie können. Den Rest mache ich dann schon. Allerdings muss ich Sie darauf aufmerksam machen, dass ich auch Sie genauso wenig bezahlen kann wie ein Krankenhaus."

      "Da machen Sie sich mal keine Sorgen. Das hatte ich auch nicht erwartet. Sie haben nur Glück, dass heute mein Ruhetag ist. Ansonsten würde mein Wartezimmer bis oben hin voll mit Patienten sein."

      Kapitel 13

      "Halt! Warte." Tandra griff nach Nenius Hand. Der Junge stoppte und sah sie auffordernd an.

      "Was?", fragte er etwas lauter, als er eigentlich wollte. Dabei schaute Neniu ihr tief in die Augen. Der Teenie ahnte schon, was jetzt kommen würde.

      "Ich kann das nicht. Ich muss sofort zurück."

      "Nein!", bestimmte Neniu. "Das musst du nicht. Das einzige, was du musst, ist überleben. Kaziir wird gut versorgt. Du hast selber gesehen, wie die zwei Ärzte sie ins Haus gebracht haben. Sie lebt. Und das musst du auch."

      Tandra war überrascht, dass der Junge mit solchem Nachdruck reagierte. Vor allem war seine Argumentation überzeugend. Etwas, dass sie nicht erwartet hatte. Neniu schien vollkommen ausgewechselt. Aus dem schüchternen, zurückhaltenden Jugendlichen war unerwartet ein selbstsicherer junger Mann geworden. Erstaunt über seine Worte und sein Verhalten vergaß Tandra für einen Augenblick, was ihr eben noch wichtiger als alles andere war. Sie nickte, ohne es selber zu wollen.

      "Siehst du? Wir werden zu einem späteren Zeitpunkt zu ihr zurückkehren, wenn wir sicher sind. Für den Moment ist es einfach zu gefährlich, dem Attentäter in die Arme zu laufen. Wir haben ihm nichts entgegenzusetzen."

      "Ich habe verstanden", unterbrach sie ihn. "Ich werde nicht umkehren. Ins Wohnheim können wir aber auch nicht. Ich gehe davon aus, dass sie wissen, wo wir leben. Also werden sie dort auf uns warten. Wir müssen uns eine neue Behausung suchen. Zumindest für eine Weile."

      "Hast du eine Idee?", fragte Neniu, jetzt wieder in einem normalen Tonfall. Tandra überlegte einige Sekunden. Der Junge konnte ihr ansehen, dass sie mit irgendetwas in ihrem Inneren haderte. Trotzdem er unbedingt wissen wollte, was sie so hartnäckig schweigen ließ, drängte er sie nicht.

      "Bevor ich das Wohnheim übernommen habe, lebte ich mit einer Gruppe Malsata in einem heruntergekommenen Firmenhochhaus, nahe der Innenstadt. Damals war es sicher dort. Ich habe keine Ahnung, wie das heute ist. Oder ob die Malsata mich noch kennen. Sofern sie noch dort leben." Erneut verfiel sie in Schweigen. Neniu betrachtete die junge Frau mit Interesse. Er sah sie jetzt mit anderen Augen. Nach einigen Minuten wendete sich der Teenie dann an sie.

      "Sollen wir uns gemeinsam auf die Suche machen?", fragte er fast schon zärtlich

      "Nein", erwiderte sie, aufgeschreckt aus ihren Gedanken.

      "Warum…?", weiter kam er nicht.

      "Wenn wir dort unterkommen wollen, muss ich zunächst allein dort hin. Die Leute dort waren schon damals sehr eigen. Fremde wollten sie nicht in ihrer Gruppe haben."

      "Und wie bist du dann zu ihnen gelangt?", unterbrach Neniu sie.

      "Ich kann mich nicht mehr erinnern. Irgendetwas muss wohl passiert sein, dass sie mich akzeptiert haben. Sie waren alle sehr misstrauisch. Und ich später auch. Daran kann ich mich deutlich erinnern. Aber wie ich zu ihnen kam. Keine Ahnung."

      "Dann solltest du vielleicht erst einmal alleine dort hingehen. Ich kann ja mitkommen und in einigem Abstand warten, bis alles geklärt ist."

      Tandra dachte einige Zeit über seine Worte nach. Wenn sie ihn mitnahm, musste er einige Blocks weit entfernt auf sie warten. Die junge Frau erinnerte sich noch lebhaft daran, wie sie selbst als Späherin für die Gruppe stundenlang auf einem Posten war und die Umgebung sondierte. Kamen Fremde in ihre Nähe, wurden sie gemeldet, überprüft und nur bei einer eindeutig positiven Beurteilung durchgelassen. Andernfalls verschwanden diese auf ungeklärte Weise. Sie überlegte sehr lange, bis sie endlich Neniu zustimmte. Gemeinsam machten sich die beiden auf den Weg Richtung nördlicher Innenstadt. Nach mehreren Stunden hielt Tandra dann an und gab ihm die Anweisung an diesem Ort auf sie zu warten.

      Neniu schaute sich konzentriert um. Hier im modernen Zentrum der Stadt wimmelte es nur so von Betonbauten mit auffälliger Verglasung. Die Menschen drängten sich aneinander vorbei. Auf der Straße verlief der Verkehr ein wenig reibungsloser. Tandra brauchte etwas länger, bis sie die Straße zwischen den Autos überquert hatte. Ein letztes Mal schaute sie sich nach dem Jungen um, bevor sie dann von der Masse verschluckt wurde. Jetzt war er auf sich allein gestellt.

      Tandra wusste zwar noch, wie das Gebäude ausgesehen hatte, wo es jedoch genau lag, konnte sie nicht mehr sagen. Immer wieder glaubte sie Dinge, Häuser und Plätze wiederzuerkennen. Trotzdem irrte sie mehr durch die Straßen, als dass sie wirklich eine Ahnung hatte, wo es lang ging. Schließlich erreichte sie einen größeren Platz, auf dem sie einige baufällige und unbewohnte Hochhäuser entdeckte. Einige Objekte sagten ihr, dass sie diesen Anblick kannte. Dann bemerkte Tandra das Symbol einer der Firmen, die hier einmal ansässig waren, über einem der Eingänge. Dies war genau das Symbol, welches sie sich damals zu eigen gemacht hatten. Fest entschlossen schritt sie darauf zu. Immer wachsam die Umgebung beobachtend. Doch nichts passierte. Keine Späher. Niemand, der sie ansprach oder aufhielt. Ihre Schritte wurden langsamer, dann verharrte sie. Unsicher sah sich Tandra um. Nichts war so, wie damals. Wie das, woran sie sich erinnerte. Dafür gab es nur eine Begründung. Die Gruppe hatte die Zuflucht verlassen.

      Die junge Frau überlegte kurz, ob sie zurückgehen und Neniu sofort nachholen sollte. Sie entschloss sich dagegen. Es konnten möglicherweise andere das Gebäude für sich beanspruchen. Dann wäre es nicht so gut, ungefragt einfach einzudringen. Vorsichtig näherte sie sich dem Eingang und betrat das Hochhaus. In der vierten Ebene war damals ihre Heimat gewesen. Langsam stieg sie die Treppen hinauf. Alles war voller Staub und Dreck. Nicht so wie früher, als die Gruppe ihren Wohnort noch sauber gehalten hatte. Im vierten Stock angekommen, erkannte sie sofort alles wieder. Es war eine Ebene mit einem großen, offenen Raum, der nur durch einige kurze Betonwände unterteilt war. Sogar die alten Schreibtische und Computer waren noch vorhanden. Neugierig versuchte sie einen von ihnen einzuschalten. Natürlich reagierte der PC nicht. Vermutlich war das Gebäude bereits vor langer Zeit vom Netz genommen. Wie lange war es her,