Christian Jesch

Renaissance 2.0


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beiseite und sprang auf die Maschine, wobei er den Helm vom Sattel stieß. Noch bevor die Frau etwas sagen konnte, hatte er den Motor gestartet und den Ständer hochgeklappt. Mit Vollgas raste der Junge in den Verkehr, was beinahe schiefgegangen wäre. Neniu konnte dem Zusammenprall nur deswegen ausweichen, weil er geistesgegenwärtig wieder auf den Bürgersteig zurückkehrte, wo er einige Passanten verschreckte, bevor er dann endlich auf die Straße wechseln konnte. Der Verkehr war mäßig und langsam. Das Motorrad schoss auf dem Mittelstreifen an allem vorbei, was nicht schnell genug war. Die entgegenkommenden Fahrzeuge zogen automatisch nach rechts, wenn sie ihn ankommen sahen. Das Projektil, was ihn seitlich am Hinterkopf traf, prallte nach links ab und hinterließ umgehend starke Kopfschmerzen und das Gefühl, nicht mehr richtig sehen zu können.

      Neniu hatte nicht die geringste Ahnung, wo diese Straße hinführte. Das war jedoch auch seine geringste Sorge. Auch die Frage, warum er überhaupt ein Motorrad fahren konnte, drängte sich nur für den Bruchteil einer Sekunde in seinen brummenden Schädel auf. Viel wichtiger war es im Augenblick, nicht das Bewusstsein zu verlieren und sich auf den Asphalt zu konzentrieren. Nach und nach wurden die anderen Fahrzeuge immer weniger. Der Junge sah alles nur noch durch einen Schleier, der sich immer enger zusammenzog. Er verringerte die Geschwindigkeit, um sich an den Kopf zu fassen. An der Stelle, die vor Schmerzen pochte, spürte er Feuchtigkeit und eine kleine, kahle Stelle. Sein Zustand ließ sich mit einem großen Gong vergleichen, der vor Sekunden mit voller Wucht geschlagen wurde und jetzt immer noch in seinem Kopf nachhallte. Die Gedankengänge von ihm wurden immer verwirrter. Ein- bis zweimal stieß er mit dem Reifen gegen den Bordstein.

      Er hatte das Motorrad hinter einen großen, beweglichen Container geschoben, der es von der Straße aus unsichtbar machen sollte, sich dann auf ein paar Müllsäcke gelegt und versuchte zu ruhen. Neniu wusste nicht, wie lange er an diesem Ort verbracht hatte. Doch als er aufwachte, waren die Tageslampen der Biosphäre bereits abgeschaltet. Der Lärm einer Gruppe Jugendlicher hatte ihn geweckt. Sie kamen offensichtlich die Straße herunter, aus derselben Richtung, wie er einige Zeit zuvor. Sie schienen näher an ihn heranzukommen. Noch immer schmerzte sein Kopf wie Hölle. Und auch seine Sicht hatte sich nur geringfügig verbessert. Überhaupt hatte er das Gefühl, es würde ihm schlechter als vorher gehen. Eine Auseinandersetzung mit jugendlichen Straßenkindern war für ihn nicht drin. So schnell es in seinem Zustand zuließ, schob er die Maschine hinter dem Container hervor. Als er sich aufsetzte, drehte sich plötzlich die Welt vor seinen Augen. Es hätte nicht viel gefehlt und er wäre mit dem schweren Motorrad umgefallen. Mit letzter Kraft startete er den Motor und fuhr auf die Straße zu. Jedenfalls hoffte Neniu dort, wo er hinsteuerte, den Asphalt zu finden, den er suchte.

      Der Teenie war bereits längere Zeit unterwegs, als sich ein Gefühl von Freiheit bei ihm einstellte. Der Fahrtwind strich über seine Haut und machte ihn glücklich. Neniu ließ seine Gedanken schweben. Er war allein auf dieser Welt. Er war zufrieden. In die Dunkelheit vor seinen Augen mischten sich bunte Farben, die umeinander herumtanzten. Sie bildeten Formen, grazile Wesen aus einen anderen Zeit. Der Teenie lächelte über die Schönheit, die sich ihm hier offenbarte. Er stellte sich auf die Rasten und breitete die Arme aus.

      Dann prallte die Maschine, über die er schon längst die Kontrolle verloren hatte, gegen einen Pfeiler und schleuderte ihn einige Meter weiter in den Wüstensand.

      Kapitel 15

      "Hey. Wahnsinn. Seht euch mal die Maschine an", rief der kräftige Jugendliche überrascht aus und schlug seinen beiden Freunden heftig auf die Schultern. "Was meint ihr? Die würde doch gut zu mir passen."

      "Sieht ein bisschen verbogen aus", meinte der grobschlächtige Kerl an seiner rechten Seite.

      "Egal, Rakun. Das Teil bekomme ich schon wieder hin. Lass mal sehen." Wulff ging auf das Motorrad zu, um es aufzurichten. Kritisch betrachtete er die vordere Gabel, die einen leichten Knick aufwies. Er blickte über Lenker und Sattel nach hinten, wobei er zu dem Schluss kam, dass das Motorrad wahrscheinlich erst gegen den Bordstein geprallt und dann mit der niedrigen Säule kollidiert war. Der Fahrer musste mit einer ziemlich hohen Geschwindigkeit unterwegs gewesen sein.

      "Wulff! Hier drüben liegt einer", wurden seine Gedanken unterbrochen. Er schaute auf. Sein zweiter Begleiter stand einige Meter abseits, am Anfang des Wüstengebietes.

      "Zeig mal her, Roquet." Wulff sah sich den leblosen Körper genau an. "Kennt den jemand?", fragte er in die Runde. Beide schüttelten den Kopf. Mit einem Fuß trat er Neniu leicht gegen den Kopf. Der Junge regte sich nicht. Jetzt trat Wulff ihm etwas heftiger in die Rippen. "Aufstehen!", befahl er.

      "Ich glaube, den hatt's zerlegt", kommentierte Rakun die Bemühungen seines Anführers.

      "Das glaube ich auch", bekräftigte Rakun.

      "Bin mir nicht sicher", meinte hingegen Wulff. "Jedenfalls will ich hier niemand fremdes haben in meinem Gebiet. Egal ob tot oder lebendig. Dreht ihn mal um." Die zwei Gehilfen taten, wie ihnen befohlen wurde und drehten Neniu auf den Rücken. Sein Gesicht hatte bei dem Aufprall auf dem Boden mit einigen scharfkantigen Objekten Bekanntschaft gemacht. Es sah ziemlich übel aus. Auf seiner Stirn klaffte eine blutende Wunde. Einer der beiden stellte fest, dass Neniu noch immer atmete. Also lebte er noch.

      "Was für eine Erkenntnis, Roquet", machte sich Wulff über ihn lustig. "Dann sieh mal zu, dass du das Atmen nicht eines Tages vergisst." Nach einer kurzen Pause sprach er weiter. "Weckt ihn auf. Ich will mit ihm reden." sofort machten sich die beiden Untergebenen daran, Neniu ein paar Schläge ins Gesicht zu verpassen. Dabei brüllten sie ihn dauerhaft an, während sie den Jungen noch zusätzlich schüttelten, als wären sie Barkeeper, die einen Drink mixten.

      Endlich wachte Neniu auf. Sein Blick war verklärt, sein Kopf schmerzte und ihm war übel. Das ständige Gerüttel und Schütteln tat sein Übriges. Er hatte das Gefühl, sein Genick müsste jeden Augenblick zerbrechen, wie Glas. Mit einem unterdrückten, quälenden Ausruf stemmte sich Neniu in die Höhe. Sofort landete Wulffs Hand in seinem Gesicht. Erneut schrie der Teenie auf. Das motivierte den Anführer jetzt erst recht. Er packte den Jungen an den Haaren und zog ihn ein Stück zu sich heran.

      "Was willst du hier?", fuhr Wulff ihn an, während seine beiden Gehilfen grinsend und vor Freude kichernd daneben standen.

      "Wo bin ich denn?", erwiderte er.

      "Du bist hier in meinem Revier, wo du nichts zu suchen hast. Wenn einer hier rein will, muss er zuerst an mir vorbei. Ist das klar?" Neniu verstand kein Wort. Sein Gehirn arbeitete, wenn überhaupt, nur sehr, sehr langsam.

      "Weißt du, wer ich bin?", brüllte Wulff ihn erneut an. Der Junge schaute ihn unverständlich an. Alles, was er sah, war eine undefinierbare Masse mit einer Stimme, die aus weiter Ferne kam.

      "Antworte mir gefälligst", brauste Wulff jetzt auf. Nachdem dies nicht den gewünschten Erfolg gebracht hatte, stieß er den Kopf des Teenies nach hinten, was dazu führte, dass Neniu erneut auf den Asphalt aufschlug. Sofort wurde er einmal mehr bewusstlos. Der Anführer der Dreiergruppe hatte eine solche Resistenz noch nie erlebt. Dementsprechend war er wütend. Wie besessen trat und schlug er auf den am Boden liegenden Körper ein. Zunächst sahen ihm seine Begleiter noch zu, doch dann konnten auch sie sich nicht mehr halten. An irgendeinem Punkt fing der Junge an zu husten und spuckte dabei Blut aus.

      "Aufhören!", befahl der kräftige Jugendliche darauf hin. "Schafft mir diesen Kadaver aus den Augen. Und wenn ihr ihn hier noch einmal seht, macht ihn fertig und entsorgt ihn dann." Roquet und Rakun nickten nur, dann machten sie sich an die Arbeit, die Anordnung auszuführen. Doch so sehr sie sich auch bemühten, der Körper ließ sich nicht vom Boden aufheben. Nicht einmal die Arme konnten sie anheben.

      "Was ist los, ihr Idioten?"

      "Es geht nicht."

      "Was geht nicht?"

      "Wir können ihn nicht…" Roquet kam nicht dazu auszureden, da er von Wulff unterbrochen wurde.

      "Ach so. Ich verstehe", säuselte dieser. Er sah an seinen Helfern vorbei auf ein Gebäude, das sich hinter ihnen befand und aus dem gerade zwei Personen auf sie zukamen. "Die Zwillinge", war alles, was er sagte. Umgehend beendeten Roquet und Rakun ihre Bemühungen,