Christian Jesch

Renaissance 2.0


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Details wie möglich über den Tag seiner Ankunft zu befragen. Daraufhin beschrieb der Junge den Waggon und seine Aufschrift. Was in den Kisten gelagert war. Und jede weitere Kleinigkeit, die ihm einfiel. Kaziir notierte sich alles, um es später im System der Renegaten abzugleichen. Vielleicht konnte sie so herausfinden, wo der Junge hergekommen war.

      Nachdem deutlich geworden war, dass Neniu sich nicht weiter erinnern konnte, weckte ihn der Arzt aus seiner Hypnose auf. Zunächst war er ein wenig verwirrt, was aber auch durch die Medikamente kam, wie Doktor Deivo ihm erklärte. Neugierig wollte der Junge wissen, woran er sich erinnern konnte. Alle drei fassten mit kurzen Worten zusammen, was er unter Hypnose von sich gegeben hatte. Neniu wurde immer ungeduldiger.

      "Das weiß ich doch alles schon. Was war vor dem Tag, als ich hier ankam?" Keiner antwortete. Alle starrten ihn nur an. Hatte der Junge eben wirklich gesagt, dass er sich an all das erinnern konnte? Deivo warnte davor, die Hoffnungen zu hoch zu schrauben. Natürlich hatte der Junge sich in den letzten zweieinhalb Stunden 'selber zugehört'. Erneut machte der Arzt die Anführungsstriche in der Luft. Scheinbar seine liebste Geste. Da er sich immer an die letzten drei bis vier Stunden erinnern konnte, führte der Arzt weiter aus, war es nicht ungewöhnlich, dass er sich an das Gesagte erinnerte. Interessant würde es erst, wenn er die Dinge noch am nächsten Tag im Kopf hatte. Wenn das der Fall sei, dann hätten sie einen ersten Teilerfolg erreicht. Doch der Arzt glaubte nicht wirklich an eine solche, wie er es nannte, Wunderheilung.

      "Eins kann ich jedoch mit Sicherheit sagen", fuhr Doktor Deivo fort. "Alles, was Neniu erlebt hat, wurde in seinem Langzeitgedächtnis gespeichert. Er kann es nur nicht bewusst abrufen. Hattest du schon einmal verwirrende Träume?", wendete er sich jetzt direkt an den Teenie.

      "Gerade letzte Nacht", antwortete der etwas unsicher.

      "Kannst du dich noch an den Inhalt erinnern?"

      "Nicht wirklich. Nur Sekundenbruchstücke", gab er vorsichtig zu. Er wollte nichts davon preisgeben, dass ihm immer wieder Mara zu Hilfe gekommen war. Was das bedeutete wusste Neniu selber noch nicht. Und bevor ein Psychotherapeut Liebe oder Zuneigung hineininterpretierte, wolle er doch lieber selber dahinter kommen. Und vor allem erfahren, was Mara selbst über ihn dachte.

      "Ist dir den irgendetwas von dem, was du unter Hypnose erzählt hast und das wir dir im Nachhinein berichtet haben, aus einem deiner Träume bekannt gewesen?", wollte Deivo jetzt wissen.

      "Ich bin mir nicht sicher. Das ein oder andere schien mir nicht vollkommen neu zu sein. Ich kann jetzt aber nicht mehr sagen, worum es sich dabei gehandelt hat. Da war mal ein Gesicht. Der Junge trug eine Renegatenuniform, glaube ich. Das war Veizs."

      "Das war doch der Junge, bei dem du übernachtet hast. Richtig?"

      "Genau. Eigentlich ein netter Kerl. Vielleicht sollten wir ihn auch ins Wohnheim holen, Tandra."

      "Wenn er will, kann der Junge gerne zu uns kommen. Weißt du denn noch, wo du ihn finden kannst?", fragte sie neugierig auf die Antwort.

      "Natürlich. Ich kann es dir zeigen."

      Jetzt horchte der Arzt zum ersten Mal richtig auf. Denn Neniu hatte zwar von Veizs berichtet. Jedoch nicht gesagt, wo genau dieser Junge lebte. Trotzdem behauptete er nun exakt zu wissen, wo das sei. Deivo war hin und hergerissen zwischen Hoffnung und Vernunft.

      "Ich möchte gerne noch ein EEG von dir machen", verkündete der Doktor plötzlich.

      "Warum?", entfuhr es Tandra entsetzt. "Glauben Sie, es stimmt etwas nicht?"

      "Und ein CT von deinem Gehirn", war die einzige Antwort, die sie auf ihre Frage bekam. "Ich will nur sicher gehen, dass ich nichts übersehen habe. Kommen Sie bitte mit in das Nebenhaus. Dort arbeitet ein Freund und Kollege von mir. Er kann alles durchführen." Ohne ein weiteres Wort griff Deivo Neniu unter den Arm und schob ihn in Richtung einer Tür, an der er anklopfte.

      Ein scheinbar gleichaltriger Mann öffnete und begrüßte seinen Nachbarn überschwänglich. Doktor Deivo legte sein Anliegen kurz dar, worauf sein Kollege kräftig nickte und alle in sein Haus bat. Kurze Zeit später saß der Teenie vollständig verkabelt auf einem Stuhl, beantwortete Fragen und löste Rätsel, während die beiden Mediziner sich seine Gehirnwellen anschauten. Kaum waren die Kabel entfernt, lag der Junge in der Röhre, die mit lautem Getöse Schicht für Schicht ein Abbild seines Hirns erstellte. Dann blickten sich die beiden Fachkräfte ungläubig an. Sie schauten zu Neniu, der jedoch in der Röhre nichts davon mitbekam. Schließlich wanderten die Augen zu Kaziir und Tandra. Letztere sah überaus besorgt aus.

      "Das ist einmalig", sagte der zweite Arzt mit Erstaunen in seiner Stimme. "Das Gehirn des Jungen zeigt einige Anomalien auf. Diese scheinen aber nicht schädlich zu sein. Ganz im Gegenteil. Auch die Aktivitäten sind nicht so im Gehirn verteilt, wie man es erwarten sollte. Irgendetwas hat bei ihm eine Veränderung bewirkt. Möglicherweise ist das auch der Grund für sein Erinnerungsproblem. Ich würde das gerne weiter untersuchen, wenn Sie nichts dagegen haben."

      "Das müssen Sie Neniu fragen", antwortete Tandra etwas zu hektisch. "Es ist sein Leben."

      "Was für Veränderungen sind das?", wollte Kaziir wissen.

      "Das kann ich noch nicht genau sagen. Es ist so. Bestimmte Bereiche im Gehirn übernehmen bestimmte Aufgaben. Dies ist bei jedem Menschen gleich. Einige intelligentere Menschen haben Bereiche im Gehirn aktiviert, die bei anderen brach liegen. Bei Ihrem Freund ist jedoch alles durcheinander. Keine Aktivität ist in dem Bereich zu finden, wo sie sein sollte. Dann gibt es wiederum aktive Areale bei ihm, die habe ich noch bei keinem anderen in Aktion gesehen. Dafür sind andere, die aktiv sein sollten, in einem schlafenden Zustand. Ich verstehe das Ganze nicht. Etwas Derartiges ist einmalig in der Geschichte der Medizin."

      "Was ist einmalig", tönte es unerwartet aus der Röhre.

      "Du bist einzigartig", erwiderte der Arzt, während er Neniu aus der Röhre befreite. "Dein Gehirn entspricht unter keinen Umständen dem Standard."

      "Ist das der Grund für mein Problem?"

      "Ich kann es nicht sagen. Vielleicht. Sofern ich dich weiter untersuchen darf, besteht die Möglichkeit, dass ich dir deine Frage beantworten kann." Neniu schauten den Mann unglücklich an. Er, ein Versuchskaninchen?

      "Überlege es dir. Du weißt, wo du mich finden kannst. Wenn du dich bei dem Gedanken nicht wohlfühlst, dann ist das auch in Ordnung."

      "Ich werde darüber nachdenken", versprach er dem Arzt. Dann sprang er von der Liege und ging zu seinen beiden Freunden. Tandra schaute ihn sehr besorgt an. Sie nahm ihn in den Arm und überraschte Neniu damit völlig. Als sie ihn wieder losließ, schaute der Junge ihr in die Augen. Er versuchte in ihnen zu lesen und zu verstehen. Doch das konnte er nicht. Sie blickte zurück und lächelte ihn dabei an. Kaziir betrachtete sich das Ganze etwas verstört von der Seite. So kannte sie ihre Schwester überhaupt nicht.

      Kapitel 12

      Nach einem weiteren Gespräch zwischen Neniu und den Ärzten erklärte sich der Junge bereit, am nächsten Tag erneut zu kommen und sich weiter untersuchen zu lassen. An der Haustür verabschiedete sich die Gruppe dankbar bei Doktor Deivo und seinem Kollegen, bevor sie sich auf den Rückweg machten. Doch dazu sollte es nicht mehr kommen.

      Kaziir verspürte einen leichten Luftzug, der an ihrem linken Ohr vorbeizog. Instinktiv schrie sie 'Deckung' und wollte sich fallen lassen. Allerdings fehlte ihr dazu die Möglichkeit. Etwas zog ihr den Boden unter den Füßen weg. Ihre Beine knickten ein wie zwei Streichhölzer, die in der Mitte zerbrachen. Irgendwo im Rücken fühlte Kaziir etwas, wie den Einstich einer Spritze. Dann schlug sie mit voller Wucht auf dem Boden auf. Ein glühend heißer Schmerz schoss durch ihre Handgelenke, als die Renegatenanführerin versuchte ihren Fall durch Abstützen zu bremsen. Mit schmerzverzerrtem Gesicht bemühte sie sich auf die Knie zu kommen, um dann in Deckung zu gelangen. Kaziir wollte ihre Beine anziehen, die sich jedoch nicht mehr befehligen ließen. So sehr sie es auch versuchte, sie hatte keine Kontrolle mehr über ihren unteren Körper.

      Erneut schlug ein Projektil in der Mauer des Hauses ein. Diesmal zwischen Kaziir und Tandra, die sich sofort nach dem Ausruf ihrer Schwester hatte auf die