Christian Jesch

Renaissance 2.0


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auch mit seiner ersten Frage.

      "Was haben wir, die ProTeq, ihnen angetan, dass sie mich so sehr verabscheuen?"

      "Gehört das zu ihrer Befragung", konterte Tandra nach einem kurzen Augenblick des innerlichen Zusammenzuckens. Waren ihre Gefühle wirklich so deutlich zu erkennen? Oder war der Kerl einfach so unfassbar gut in seinem Beruf. Wenn ja, dann musste sie sich kräftig zusammenreißen, nicht die Renegaten ans Messer zu liefern.

      "Nein. Natürlich nicht." Decem Ashan rang sich ein leichtes Lächeln ab. "Entschuldigen Sie bitte. Wahrscheinlich geht es mich nichts an." Er versuchte sie aus der Deckung zu locken, indem er vorgab so etwas wie ein netter und verständnisvoller Mensch zu sein.

      "Wollen sie mich anbaggern oder haben Sie wirklich einige Fragen an mich", erwiderte die junge Frau und ließ damit seine Charmeoffensive ins Leere laufen. Ashan erkannte sofort, dass er so nicht weiter kommen würde. Also beschränkte er sich auf die zu stellenden Fragen.

      "Bei dem gestrigen Anschlag wurde ein zivil-militärisches Fahrzeug gesehen, dessen Spur sich hier in der Gegend verläuft. Habe Sie einen solchen Wagen beobachtet?"

      "Könnten Sie etwas präziser werden?", fragte Tandra etwas aufreizend.

      "Eine Art Geländewagen mit vier Säulen und einem erhöhten Heckaufbau."

      "Sie meinen so etwas wie einen Kastenwagen. Motorhaube, Windschutzscheibe, Dach und hinten gerade abfallend?" Während ihrer Aufführung der einzelnen Baugruppen machte sie mit der Hand die entsprechenden Bewegungen, die das Aussehen des Fahrzeuges nachzeichnen sollte.

      "Genau. Sie haben den Wagen also gesehen."

      "In der Holowerbung, in der Stadt."

      "Wie meinen." Der Proteqtor war einen Moment irritiert.

      "In der Holowerbung", wiederholte Tandra nebensächlich. Erneut schwoll der Brustkasten des Decem an, der sich versuchte zu beruhigen. Diese Schulungen waren wirklich nur Mist, dachte er. Bei einem Verhör ruhig zu bleiben, um so das Meiste aus der zu verhörenden Person herauszubekommen, war nichts weiter als akademischer Schwachsinn. Ashan stand so kurz davor die Beherrschung zu verlieren.

      "Also gut. Wir haben uns auf den Wagentyp geeinigt. Sie kennen diesen. Das erleichtert die weiteren Fragen. Das Fahrzeug, welches wir suchen, hatte die Farben Rostbraun mit einigen schwarzen Flecken. Ist ihnen ein solches Fahrzeug schon mal aufgefallen?"

      "Meinen Sie jetzt speziell gestern oder überhaupt?"

      Ich meine natürlich gestern. Aber ich bin schon froh, wenn du überhaupt schon einmal so einen Wagen gesehen hast. Du machst mich wahnsinnig. Wenn du dich weiterhin so anstellst, klatsche ich dich doch noch gegen die Wand, dachte der Decem. Dieses Mal atmete er nicht tief durch, sondern schluckte kräftig. Wahrscheinlich kann sie mehr in mir lesen, als ich in ihr, war ein weiterer Gedanke des Proteqtors.

      "In diesem Fall meinte ich es allgemein. Möglicherweise sind ihnen solche Fahrzeuge hier schön öfters aufgefallen."

      "Tut mir sehr leid. Aber da muss ich Sie enttäuschen", provozierte die Leiterin ihn erneut. Ashan lehnte sich verzweifelt, ob der Hartnäckigkeit seiner Verhörperson, zurück. Für eine Sekunde dachte der mehrfach dekorierte Verhörspezialist daran endgültig alles Gelernte zu vergessen und die Frau durchzuprügeln, bis er die gewünschten Informationen hatte.

      Sein Gedankengang wurde unterbrochen, als einer seiner Mitarbeiter zu ihm trat und berichtete, dass sie mit den Vernehmungen durch seien, jedoch nicht die gewünschten Ergebnisse erzielt hatten. Das brachte das Fass nun vollends zum Überlaufen. Der Decem sprang auf, griff seinem Kollegen unter den Arm, zerrte ihn in die Vorhalle und verkündete: "Zerlegt den verdammten Laden in seine Einzelteile!"

      Zunächst passierte nichts. Die Männer und Frauen sahen ihn ungläubig an. Dann wurde ihnen jedoch klar, dass es ihr Kommandant ernst meinte. Sofort brach das totale Chaos aus. Erneut begaben sie sich in die Sektoren, wo sie zuvor noch die Kinder befragt hatten und drehten jede Kleinigkeit auf den Kopf.

      "Sie hätten mir die Wahrheit sagen sollen, junge Frau", sagte der Proteqtor, während er sich langsam zu ihr umdrehte.

      "Sie wissen also, wo das Fahrzeug ist?", fragte Tandra provozierend zurück.

      "Natürlich nicht!", brüllte der arrogante Klotz sie jetzt an.

      "Und woher wissen Sie dann, dass ich nicht die Wahrheit gesagt habe?"

      "Weil ich euch verdammte, scheiß Missgeburten kenne. Ihr verheimlicht immer etwas. Und jetzt werde ich es aus euch allen heraus prügeln. Scheiß auf die Richtlinien der ProTeq."

      "Genau", bestätigte Tandra. "Die haben euch auch nicht daran gehindert meine Mutter fast zu töten und meinen Vater in den Rollstuhl zu bringen", antwortete Tandra ruhig und gelassen. Der Mann blickte sie verwirrt an.

      "WAS!", brüllte er.

      "Sie haben mich verstanden." Sie drehte sich um und ging in ihr Büro, wo sie zum Mikrofon griff. "Wehrt euch in Gruppen!", war alles, was sie durch gab. Dann ging sie wieder in die Vorhalle.

      Der Kommandant hatte sich in der Zwischenzeit eine neue Beschäftigung gesucht. Neniu. Es war purer Zufall, dass ihm der Junge aufgefallen war. Aber er erinnerte sich an ein Rundschreiben, mit höchster Priorität. Er hielt den Jungen am Arm fest und starrte ihm ins Gesicht. Als hätte Ashan einen Geist gesehen. Keiner seiner Muskeln bewegte sich. Neniu wusste nicht recht, wie ihm geschah. Er stand einfach nur dort, blickte von seinem Arm in das Gesicht des Mannes und wieder zurück. Er versuchte noch nicht einmal sich zu befreien.

      "Du bist doch der Junge…", der Decem verstummte. Offensichtlich dachte er angestrengt nach.

      "Passen Sie auf, das Sie keine Kopfschmerzen bekommen", kommentierte Tandra seinen Versuch, dem Vergessenen auf die Spur zu kommen. Ashan riss sich von Nenius Anblick los und wendete sich der Leiterin zu.

      "Dieser Junge war Teil bei dem Diebstahl eines unserer Fahrzeuge."

      "Wie sicher sind Sie sich da?", fragte Tandra von Oben herab. "So sicher, wie bei mir, dass ich über den Wagen, dessen Spur Sie hier verloren haben, lüge? Sie sind doch besessen, was Fahrzeuge angeht. Verschwinden Sie hier."

      "Sonst was?", legte der Proteqtor sich jetzt zum ersten Mal mit der Leiterin des Wohnheims an.

      "Das würden Sie nicht verstehen. Selbst wenn ich es ihnen erkläre", bluffte Tandra. Für einen kurzen Moment schien der große Angeber irritiert zu sein. Er verstand nicht, was die junge Frau damit andeuten wollte. Tandra wusste es ja selber nicht. Ashan beschloss, dass es nichts Wichtiges sein konnte und wendete sich wieder Neniu zu. Der stand, obwohl ihn der Kommandant losgelassen hatte, immer noch am selben Platz. Aus irgendeinem unerklärlichen Grund faszinierte ihn die Situation. Erinnerte dies Neniu an etwas? Der Junge war sich nicht sicher. Aber es kam ihm bekannt vor. War es vielleicht sein Vater gewesen? Oder war es die Gewalt, die der Mann verströmte? Nenius Adrenalin war auf dem höchsten Level angekommen. Er verspürte jedoch nicht das Verlangen, Gewalt gegen diesen Riesen einzusetzen. Der Junge wartete einfach nur ab.

      Tandra beobachtete die Konstellation mit gemischten Gefühlen. In erster Linie war ihr Hauptaugenmerk auf den Jungen gerichtet. Zu gerne hätte sie gewusst, was gerade jetzt in seinem Kopf vor sich ging. Aus seinen Gesichtszügen konnte sie nicht lesen, was mit ihm passierte. Er schien jedoch nicht ganz in der Gegenwart zu sein. Und das machte ihr Sorgen. Tandra versuchte seine Aufmerksamkeit zu erlangen. Neniu reagierte nicht. Zwar drehte er den Kopf zu ihr, doch sein Blick ging durch sie hindurch. Tandra dachte an eine Schockstarre, ausgelöst durch das brutale Durchgreifen der Proteqtoren.

      Mit einem Mal veränderte sich Nenius Haltung. Er schüttelte den Kopf und war wieder in der Gegenwart. Die Leiterin winkte ihn zu sich, was der Decem sogar zuließ. Dann wurde der Mann von seinen Mitarbeitern abgelenkt, die kräftig Schläge eingesteckt hatten. Hinter ihnen kamen die fast einhundert Kinder und Jugendlichen zum Vorschein. Ashan schaute etwas unschlüssig drein. Am Ende sammelte er sich dann und befahl seinen Leuten den Abmarsch.

      "Zurück zum Dezernat. Und kein Wort hierüber. Verstanden? Sonst putzt ihr ab morgen die Toiletten." An der