Christian Jesch

Renaissance 2.0


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belohnt. In einer Straße, die schräg links vor ihnen lag, schlurfte eine zusammengekrümmte Person über den wenig bevölkerten Gehweg. Bevor die beiden an dem Punkt angekommen waren, wo sie Neniu gesehen hatten, meldete sich Kaendra bei ihr. Tandra gab ihm ihren derzeitigen Standort durch und in welche Richtung sie gingen. Mara machte weit ausladende Schritte, um näher an den Jungen heranzukommen, doch Tandra hielt sie davon ab.

      "Wir dürfen ihn nicht auf uns aufmerksam machen. Ansonsten versucht er noch uns abzuhängen."

      "Das ist mir klar, Tandra. Aber fällt dir nicht etwas auf?" Tandra schaute genauer hin zu dem Jungen vor ihnen.

      "Ich verstehe nicht. Was meinst du?"

      "Der Junge vor uns geht nicht langsam, er hat eine Behinderung." Tandra erkannte, dass Mara vollkommen recht hatte. Sofort kontaktierte sie Kaendra, um ihm mitzuteilen, dass sie nicht zu ihr aufschließen, sondern in der näheren Umgebung nach ihm suchen sollten. Danach stellte sie sich die Frage, was diese Gegebenheit bei Neniu ausgelöst haben könnte. Tandra versuchte mit Logik herauszubekommen, wohin der Teenie vielleicht gehen würde. Den Schock mit dem versteinerten Decem hatte er schnell überwunden. Als ihm die Jugendlichen erzählten, sie hätte die Statue im Riss zum Süd-West-Flügel versenkt, lächelte er schon wieder. Die Welt war wieder in Ordnung. Was konnte ihn nur so aus der Bahn geworfen haben? Tandra überlegte, was übrig blieb, wenn sie den versteinerten Proteqtor bei Seite ließ.

      "Was ist jetzt?", unterbrach Mara ihre Gedanken. "Wollen wir hier stehen bleiben und warten, ob er vielleicht vorbeikommt?"

      "Natürlich nicht", antwortete die Leiterin des Wohnheims. "Ich muss überlegen, wo Neniu möglicherweise hingehen will."

      "Wie willst du das machen?", wollte Mara mit einem fragenden Blick auf sie wissen.

      "Ich muss darüber nachdenken, was passiert ist, bevor diese Gemütswandlung bei ihm stattgefunden hat."

      "Das wissen wir doch alle. Der Proteqtor wollte ihn mit in die Zentrale nehmen. Mal wieder."

      "Was meinst du mit, mal wieder?"

      "Weißt du das nicht? Da gab es doch schon einen Proteqtor, der ihn mitnehmen wollte."

      "Daran konnte er sich erinnern?", fragte Tandra überrascht.

      "Ja. Allerdings nur daran. Was danach passierte, hatte er schon wieder vergessen. Er sagte nur noch, es gäbe wohl zwei von ihm."

      Tandra verfiel in Schweigen, während sie die neue Information überdachte. Wenn er jetzt möglicherweise Angst davor hatte, die Proteqtoren könnten ihn erneut aufgreifen… Doch warum sollte er dann von dort weglaufen, wo er sicher war? Es gäbe zwei von ihm. Eventuell hatte sich Neniu auf die Suche nach dem anderen gemacht. Dann war es hoffnungslos zu glauben, ihn ausfindig zu machen. Unter diesen Umständen könnte er sonst wo in der Stadt sein. Die Alternative zu diesem Gedanken, überlegte Tandra jetzt, wäre, dass er sich doch für die gesuchte Person hält. Und dann… Tandra riss die Augen auf.

      "Was ist?" Mara hatte die Veränderung im Gesicht der Frau mitbekommen.

      "Stell dir mal vor, Neniu wäre zu der Vermutung gekommen, er wäre wirklich die Person, nach der gesucht wird. Wo würde er hingehen?"

      "Zur ProTeq, natürlich. Um sich Klarheit zu verschaffen."

      "Richtig."

      "Das müssen wir verhindern, Tandra. Das überlebt der Junge nicht."

      "Kaendra. Schick deine Freunde alle in die Straßen, die zur ProTeq führen. Es sieht so aus, als wollte Neniu dort hin." Noch bevor eine Bestätigung von dem Jugendlichen kam, rannten Mara und Tandra auf dem kürzesten Weg zum Gebäude der Firma.

      "Was sollen wir machen, wenn wir ihn gefunden haben", meldete sich Kaendra plötzlich bei Tandra.

      "Macht gar nichts. Beobachtet ihn nur. Wir sind in wenigen Minuten bei der ProTeq. Dann sehen wir weiter."

      "Was wollen wir denn machen, wenn er dort ankommt?", wollte unerwartet das junge Mädchen an Tandras Seite wissen.

      "Ganz ehrlich, Mara? Ich habe keine Ahnung. In einem solchen Umstand war ich noch nie. Ich kann nur hoffen, dass er nicht wegrennt, wenn er uns sieht." Und ich hoffe, ich kann mich zusammennehmen, wenn ich einen von diesen Kerlen sehe, dachte sie noch für sich hin. Erst das, was diese Tiere ihrer Familie angetan hatten und dann auch noch dieses hier. Die Kinder und Jugendlichen waren zu ihrer zweiten Familie für sie geworden. Ganz besonders der Junge ohne Gedächtnis.

      Sie erreichten das Gebäude lange Zeit vor dem Teenie. Durch Kaendra ließ sie sich immer wieder auf den neuesten Stand bringe, wo sich der Junge gerade befand. Das gab ihr Zeit, darüber nachzudenken, was sie machen sollte. Tandra spielte mehrere unterschiedliche Variationen im Kopf durch. Keine von ihnen brachte ein befriedigendes Ende. Dann war es soweit.

      Der Junge tauchte etwa hundert Meter weiter unten auf der Straße auf. Aus einem Gefühl heraus schickte Tandra das Mädchen vor. Sie solle nur auf ihn zu gehen. Mit etwas Glück würde er auf sie ansprechen. Und wenn nicht, dann war es wenigstens einen Versuch wert gewesen. Tandra war verzweifelt. Sie wollte so gerne jedem Menschen helfen, sein Leben glücklich zu leben. Doch dieses Mal musste sie erkennen, dass ihr Vorhaben auch Grenzen hatte. Wenn Neniu nicht wollte, musste sie ihn gehen lassen. Unabhängig davon, was dann mit ihm passieren würde. Wie durch einen Schleier sah sie, dass der Junge stehen geblieben war, als er Mara erkannte. Zu gerne hätte sie gewusst, was die beiden in diesem Augenblick miteinander sprachen. Dann kamen sie gemeinsam auf die Leiterin des Wohnheims zu. Er blieb unsicher stehen. Nicht wissend, was er tun sollte. Der Teenie schaute Mara Hilfe suchend an. Doch der fiel nur ein, ihn in den Arm zu nehmen. Das verwirrte ihn um so mehr. Aber der Junge ließ sie gewähren. Im Geiste wägte er ab, was in diesem Fall das Richtige wäre.

      "Wenn ich der Gesuchte bin,...", sagte er plötzlich in Maras Ohr, "...dann werden sie mich einsperren. Und wenn nicht. Werden sie mich dann gehen lassen? Muss ich überhaupt wissen? Ich erinnere mich doch sowieso an nichts."

      "Du musst gar nichts", flüsterte Mara zurück. "Doch. Du musst eins", korrigierte sie sich "Du musst überleben. Wie wir alle."

      Tandra war in den letzten Sekunden langsam näher gekommen und hatte einen Teil der Worte mitbekommen. Abwartend blieb sie bei den beiden stehen. Nachdem Mara ihn wieder freigegeben hatte, wendete sie sich an Neniu.

      "Wenn du wissen willst, wer du bist, versuche ich dir zu helfen, so gut ich kann. Ich habe auf dem Weg hierher viel darüber nachgedacht. Es gibt einen Therapeuten, den ich sehr gut kenne. Er hat einigen Veteranen aus dem Krieg geholfen. Naja, genaugenommen kennt Kaziir ihn. Wenn es dir vielleicht hilft, können wir ihn besuchen. Ich werde dir nichts versprechen. Das wäre vollkommen falsch. Aber ich verspreche dir, ich werde mich so gut ich es eben kann um dich sorgen."

      "Glaubst du, du kannst mir helfen?", fragte Neniu überraschend.

      "Mir ist klar geworden, ich kann nicht jedem ein glückliches Leben bereiten. Doch ich kann vor Ort sein, wenn jemand mich braucht. Oft bedarf es nur eines anderen Blickwinkels, um die Lösung für ein Problem zu finden. Manchmal gibt es auch keine Lösung, sondern nur eine Linderung. Auch das kann bereits helfen. Zu mir hat mal jemand gesagt: 'Am Ende ist alles gut. Und ist es nicht gut, so ist es noch nicht das Ende.' Klingt für mich wie ein guter Wahlspruch. Einen, den man sich merken sollte." Neniu lachte kurz auf.

      "Merken. Ich? Du bist gut. Kennen wir uns?" Tandra blickte ihn erschrocken an.

      "Nun guck nicht so entsetzt, Tandra. Natürlich erinner ich mich an dich."

      Kapitel 11

      Mara hatte recht. Er musste nicht wirklich wissen, ob er der Gesuchte war. Er musste sich nur von den Proteqtoren fern halten, wie es ein jeder tat. Unabhängig davon, was er getan oder nicht getan hatte, für das Terrorregime der ProTeq war das einerlei. Diese Gedanken ließen ihn in einen unruhigen Schlaf gleiten mit wirren Träumen. Und in jedem dieser Träume war Mara zu finden, die zu ihm hielt und ihm immer wieder aus alptraumhaften Situationen half. Immer nahm sie ihn in den Arm, flüsterte etwas in sein Ohr und alles war gut.

      Am