Christian Jesch

Renaissance 2.0


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als drei Jahren das Wohnheim leitete, musste sie auch ungefähr so lange von hier weg sein. Oder länger. Warum sie diesen Ort allerdings verlassen hatte, konnte sie nicht herausfinden.

      In einer der hinteren Ecken, dort wo, so glaubte Tandra wenigstens, früher ihr Schlafplatz war, lag eine Decke unter einem der Fenster. Sie ging darauf zu, da sie glaubte, diese Decke wiederzuerkennen. Als sie das Stück Stoff anheben wollte, bewegte sich etwas darunter. Plötzlich kam Bewegung in das Textil und ein Messer schoss auf sie zu. Überrascht wich Tandra aus, sprang auf, um dann schnell einige Schritte zurückzuweichen. Ein Mädchen, vielleicht zwei oder drei Jahre jünger als sie, kam zum Vorschein.

      "Was willst du von mir?"; fragte sie angriffslustig. In ihren Augen war keine Furcht, nur Willenskraft.

      "Entschuldige, bitte. Ich wusste nicht, dass hier jemand lebt. Ich wollte dir nichts antun."

      "Und warum wolltest du mir die Decke stehlen?"

      "Das war mal meine Decke", erwiderte Tandra jetzt wieder ruhig. "Ich habe hier bis vor etwa drei, vier Jahren gelebt und genau an dieser Stelle unter dieser Decke geschlafen."

      "Das soll ich dir glauben? Mit Sicherheit nicht. Ich lebe seit acht Jahren hier. Außer mir, hat es hier nie jemand anderen gegeben."

      "Das kann nicht sein", konterte Tandra. "Ich habe hier mit einer ganzen Gruppe von Menschen gelebt. Viele Jahre."

      "Glaubst du, ich bin nicht ganz bei Verstand. Ich weiß doch wohl, was ich die letzten Jahre hier gemacht habe. Wenn das stimmt, was du sagst, dann bist du im falschen Haus."

      "Das bin ich nicht. Das Symbol über der Tür ist dasselbe wie damals." Das Mädchen verstummte kurz, während sie nachdachte und das Messer langsam sinken ließ.

      "Wie ist dein Name?", beendete Tandra die Stille.

      "Mein Name? Warum willst du das wissen?" Das Messer zuckte erneut hoch und zeigte direkt auf Tandras Brust. Langsam und sehr vorsichtig stand das Mädchen auf, ließ die Decke fallen, die sie dann mit dem Fuß hinter sich schob. Mit der zweiten Hand umschlang sie nun ebenfalls den Griff der Klinge. Wie ein Schwert hielt sie die Waffe vor sich. "Warum willst du meinen Namen wissen?", wiederholte sie.

      "Ich bin Tandra", war ihre Antwort auf die Frage.

      "Ich weiß…"

      "Du weißt meinen Namen", sagte Tandra erstaunt.

      "Ich weiß nicht, warum du mir deinen nennst. Ich kenne dich nicht. Warum also sagst du mir deinen Namen?", korrigierte das Mädchen seinen Satz. Tandra stand völlig verwirrt in der Mitte des Raumes. Was war nur mit diesem Mädchen los? Sie tat gerade so, als ob man jemanden mit seinem eigenen Namen umbringen könnte.

      "Pass auf. Ich bin nicht von der Regierung oder der ProTeq. Wenn du dich hier versteckst, weil du etwas angestellt hast, interessiert mich das nicht. Ich suche nur für mich und einen Freund eine sichere Unterkunft."

      "Sicher?", unterbrach das Mädchen. "Warum sicher? Erkläre mir das."

      "Du bist wirklich schwierig", bemerkte sie, bevor sie weiter sprach. "Heute Morgen wurde auf mich, meine Schwester und einen Freund geschossen. Wir wissen nicht, wer dahinter steckt. Wir wollen nur irgendwo unerkannt unterkommen, damit etwas Zeit vergeht." Schlagartig ließ das Mädchen das Messer sinken. Sie legte es sogar zu Tandras Überraschung weg, um dann einige Schritte auf die junge Frau zuzugehen. Jetzt schlugen bei Tandra die Alarmglocken an. Was hatte das zu bedeuten? Sie beobachtete jede einzelne Bewegung ihres Gegenübers, was diese bemerkte. Auf einmal blieb sie stehen, machte zwei Schritte zurück und erklärte, ihr Name sei Bathe.

      "Es tut mir leid, dass auf dich und deine Freunde geschossen wurde. Ist jemand verletzt worden?" Tandra blickte sie unentschlossen und überrascht an.

      "Meine Schwester wurde getroffen." Das Mädchen machte große Augen. "Sie ist zusammengeklappt und auf dem Boden liegen geblieben." Das Mädchen zog hastig Luft ein, dann hielt sie sich die Hand vor den halb geöffneten Mund. "Ich weiß nicht genau, was mit ihr ist. Zwei Ärzte haben sie dann aus der Gefahrenzone geholt. Ich hoffe, sie können ihr helfen." Das Mädchen atmete tief aus. Dann schaute sie Tandra ins Gesicht.

      "Das tut mir sehr leid für dich."

      Tandra hatte die Reaktionen des Mädchens auf das von ihr Gesagte nicht übersehen. Sie schienen ihr ein wenig übertrieben. Fast könnte man glauben, Bathe wusste, von wem sie gesprochen hatte. Doch das war unmöglich. Oder sollte ihr Name doch so bekannt sein in der Stadt. Tandra, die Schwester der Renegatenanführerin von Nuhåven. Nein. Das konnte sie sich nicht vorstellen. Unter Renegaten ja, aber nicht bei anderen. Außer vielleicht bei der ProTeq? Tandra betrachtete sich das Mädchen genau, nahm sie Stück für Stück auseinander. Am Ende kam sie dann doch zu dem Schluss, dass Bathe nichts aufwies, was sie zu einer Proteqtorin machen würde. Trotzdem beschloss sie, überaus aufmerksam zu sein, was das Mädchen anging. Ein Gefühl in ihrer Magengegend sagte ihr, Bathe war keine gewöhnliche Jugendliche. Irgendetwas stimmte mit ihr nicht.

      Gemeinsam setzten sie sich unter das Fenster auf Bathes Decke. Die Frauen berichteten sich gegenseitig über die Zeit, die sie an diesem Ort verbracht hatten. Dabei widersprach Bathe allem, was Tandra erzählte. Wenn Tandra wirklich vor drei oder vier Jahren erst von diesem Ort weggegangen sei, dann hätten die beiden einige Jahre hier zusammen gelebt. Und dem war nicht so. Bathe bestand darauf, dass sie seit mehr als acht Jahren in diesem Haus, auf dieser Ebene lebt und dass weder über noch unter ihr jemals eine Gruppe Malsata existierte.

      "Ich weiß nichts über die Firma, der das Haus früher gehört hat. Vielleicht haben sie ja in der Nähe noch ein anderes Gebäude besessen. Das würde erklären, warum du glaubst, dies wäre der richtige Ort."

      Tandra hatte während ihres ausführlichen Gespräches immer wieder die Blicke durch den Raum schweifen lassen. Sie konnte nicht glauben, dies wäre der falsche Platz. Alles passte viel zu perfekt zu ihren Erinnerungen, die zwar leicht verschwommen waren und doch so klar.

      Es waren bereits mehrere Stunden vergangen, seit sich Tandra von ihm getrennt hatte. Langsam machte er sich Sorgen und fragte sich sogar, ob sie ihn ausgetrickst hatte und zu Kaziir zurückgegangen war. Zutrauen würde er das dieser starrköpfigen Frau. Sollte er nachsehen, ob er mit seiner Vermutung recht hatte? Nein. Die Gefahr, dem Schützen in die Arme zu laufen war ihm viel zu groß. Stattdessen versuchte er in der Masse zu verschwinden. Wie ein gewöhnlicher Passant hatte er sich auf eine Bank abseits der Straße gesetzt und gewartet. Keiner nahm ihn wirklich wahr. Manchmal setzte sich jemand zu ihm, um ihn dann einige Zeit später wieder zu verlassen. Niemand versuchte sich mit ihm zu unterhalten. Jeder war irgendwie in Eile. Selbst die, die sich zu ihm setzten.

      Unbewusst erregte eine Person in der Menge seine Aufmerksamkeit. Mal war das Narbengesicht auf der gegenüberliegenden Straßenseite, dann tauchte er plötzlich einige Meter entfernt neben ihm auf und bestimmt stand er auch einige Male hinter ihm. Dieser Mann machte ihn nervös. Er schaute Neniu zwar nie direkt an, suchte aber immer seine Nähe. So als wollte er etwas von dem Jungen. Als Neniu von der Bank aufstand und ein paar Schritte machte, kam Bewegung in den Mann.

      Kapitel 14

      Das Narbengesicht mit dem langen, lederartigen Mantel auf der anderen Straßenseite musste mit ansehen, wie seine Zielperson sich langsam von ihm entfernte. Er war von der Bank am Park aufgestanden und bewegte sich jetzt links an diesem vorbei, zurück in südöstlicher Richtung. Der Mann schaute hektisch nach rechts und links, während er versuchte eine Lücke im Verkehr zu finden, die es ihm ermöglichte auf die Straße zu treten. Je weiter sich Neniu von ihm entfernte, desto aufgeregter wurde das Narbengesicht. Schließlich sah er keinen Ausweg mehr. Er zog seine Waffe, schoss auf das heranfahrende Auto und trat dann ohne weiter abzuwarten auf die Straße. Die Frau in dem Wagen erschrak bereits zu Tode, als sie die Waffe sah. Sofort trat sie auf die Bremse, während sie den Wagen an den Bordstein lenkte. Die Kugel durchschlug die Frontscheibe und blieb im Beifahrersitz stecken. Das Fahrzeug hinter ihr versuchte nach rechts auszuweichen, was zu einem Zusammenstoß mit einem entgegenkommenden Fahrer führte. Somit kam der gesamte Verkehr zum Erliegen. Der Mann sprang auf die Motorhaube des nachfolgenden Wagens, der auf seinen Vordermann aufgefahren war