Christian Jesch

Renaissance 2.0


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was bei der Dunkelheit nicht einfach war. Zu seiner Linken befand sich ein großes, hell erleuchtetes Areal mit hektischer Betriebsamkeit. Dort wurden Container mit Spezialkränen von den Güterwaggons auf schwere Lastkraftwagen verladen. Andere Waggons wurden mit Gabelstaplern geleert, die ihre Paletten auf Förderbänder abstellten, welche dann die Ware in das Innere eines riesigen Gebäudekomplexes transportierten.

      Er drehte sich wieder um und lief in die entgegengesetzte Richtung weiter. Plötzlich verhakte sich sein Fuß in etwas am Boden. Der Teenie schlug der Länge nach hin. Dabei prallte sein Brustkorb auf einen Schienenstrang. Wenn er gekonnt hätte, wäre ein lauter Schrei aus seiner Kehle entwichen. Doch der Aufprall hatte ihm sämtliche Luft aus den Lungenflügeln gepresst. Betäubt blieb er einige Augenblicke so liegen. Der Schmerz in seinem Brustkorb war unerträglich. Er versuchte erst leicht dann immer intensiver einzuatmen. Bei jedem tiefen Atemzug stachen tausend Messer in seine Lunge und die Brustmuskulatur. Erst nach einigen Minuten wagte der Jugendliche es aufzustehen. Solche Schmerzen hatte er noch nie empfunden, glaubte er zumindest. Er dachte kurz darüber nach, bevor er sich selber fragte, wie er überhaupt hierhergekommen war. Innerlich hoffte er, dass nichts gebrochen war. Sollte etwas seine Lunge durchbohrt haben, wäre das sein Ende.

      Langsam, mit leicht nach vorne gebeugtem Oberkörper, die Hände auf die Oberschenkel gestützt ging er vorsichtig in die Richtung weiter, die er scheinbar schon vor Stunden eingeschlagen hatte. Von Zeit zu Zeit legte er dabei eine Hand auf den Brustkorb. Dabei bemerkte er auf einmal, dass sein Oberteil an einer Stelle feucht war. Der Junge versuchte in der Dunkelheit etwas zu erkennen. Das war nicht möglich. Er strich mit einem Finger über die nasse Stelle und leckte diesen dann ab. Was er da schmeckte, war eisenhaltig. Blut.

      Panik kroch in ihm hoch. Erneut tastete er über seinen Brustkorb. Er suchte an der blutenden Stelle nach einer Erhebung, einem Knochen, der die Haut durchstoßen hatte. Zu seiner Erleichterung fand er nichts dergleichen. Scheinbar war es wohl eher eine Platzwunde oder ähnliches, aus der er blutete. Langsam richtete er sich auf, um wieder in einer normalen Gangart voranzukommen. Da das Gelände uneben war, stolperte der Jugendliche mehr durch das Gras, was ihn öfters straucheln ließ, als dass er gehen konnte.

      Irgendwann hörte der Teenie laute Motorengeräusche, welche scheinbar von rechts kamen und nach links verschwanden. Dann ein weiteres. Diesmal von links nach rechts. Dann noch eins. Der Junge blieb unsicher stehen. Er konnte sich keinen Reim darauf machen, was das zu bedeuten hatte. Erst allmählich wurde ihm klar, es musste eine Straße sein. Die Motoren waren die Fahrzeuge darauf. Seine Schritte steigerten sich und sein Tempo wurde schneller. Endlich erreichte er den Rand des Geländes und stand vor einem zweieinhalb Meter hohen Zaun. Seine Zuversicht, die noch vor wenigen Minuten in ihm aufgestiegen war, verließ ihn jetzt innerhalb einer Millisekunde und machte Enttäuschung platz. Erschöpft sank er im Gras auf die Knie. Mit beiden Händen umfasste er die Gitterstäbe im Zaun. Er senkte die Stirn gegen das kalte Metall. Seine Frustration war so groß, dass er noch nicht einmal die Schmerzen in seinem Brustkorb mehr wahrnahm. Übermüdet und halb bewusstlos ließ er sich zu Boden gleiten.

      Kapitel 2

      Abermals wurde er von dem Schrei und der Explosion aus seinem Alptraum gerissen. Erneut zuckte sein Kopf in alle Richtungen gleichzeitig, tasteten seine Hände die Umgebung ab. Schließlich blieb er mit weit aufgerissenen Augen und heftigen, kurzen Atemstößen sitzen. Das Metall in seiner Hand war kalt und dünn. Langsam dreht er den Kopf und erkannte einen Zaun. Auf der anderen Seite war eine Straße mit Beleuchtung. Erstaunt fragte sich der Junge, wo er war. Er fand keine Erklärung dafür, warum er zwischen einem Busch und einem Zaun lag. Noch weniger konnte er sagen, wie er dort hingelangt war. Der Teenie ließ seien Blick schweifen. Auf der Straße war reger Verkehr zu beobachten. Aufgrund der Dämmerung musste es früher Morgen sein. Er schaute von der Straße weg in die entgegengesetzte Richtung. Dort befand sich ein riesiges Gelände, dessen Funktion er nicht erahnen konnte. Irgendetwas sagte ihm jedoch, dass er dort nicht hin wollte. Seine Augen folgten dem Zaun nach oben. Der Junge schätzte die Höhe auf zweieinhalb Meter. Er stand auf, griff nach der obersten Querstrebe, die er erreichen konnte – und ein heißer Schmerz durchstieß seinen Brustkorb. Sein Gesicht verzog sich zu einer Grimasse. Der Teenie ließ die Querstrebe wieder los und tastete seine Brust ab. Er betrachtete sich den tief dunkelblau verfärbten Striemen, der quer über seinen Thorax verlief. Ungläubig grübelte der Junge darüber nach, wie er an diese Verletzung gekommen war. Seine Erinnerung stieß immer weiter ins Leere. Ohne eine Antwort gefunden zu haben, versuchte er es ein weiteres Mal den Zaun zu erklettern, da er dies für das einzig richtige hielt. Auch, wenn er es nicht begründen konnte.

      Es dauerte eine geraume Zeit, bis er unter den starken Schmerzen den oberen Rand erreicht hatte. Mühsam quälte der Junge sich darüber hinweg. Da die Querstreben auf der Innenseite des Zauns angeschweißt waren, fehlte ihm auf dieser Seit jedweder Halt für Füße und Hände. Weshalb er mehr rutschte und fiel, als dass er kletterte.

      "Na, Kleiner. Wo kommst du denn her?", sprach ihn ein Jugendlicher an. Auch wenn seine Erinnerung gleich Null war, sein Gefühl arbeitete noch perfekt. Und dieses Gefühl sagte ihm, dass er in Schwierigkeiten war.

      "Was ist los", fuhr ihn der Jugendliche an. "Kannst du nicht reden oder willst du nicht?" Noch bevor der Teenie antworten konnte, wendete sich der Straßenjunge an seine Begleiter.

      "Ich glaube, der feinen Herr braucht mal eine Lektion in Sachen Manieren. Dafür sind wir doch bestens geeignet. Oder was meint ihr?" Seine Begleiter grinsten und schlugen ihre Fäuste in die Handflächen. Der Junge wusste genau, dass er sich jetzt so schnell es nur ging, von den Dreien entfernen musste. Doch die standen um ihn herum. Mit dem Zaun im Rücken war dem Jungen damit jeder Fluchtweg verschlossen. Trotzdem versuchte er es und wurde prompt von zwei starken Armen daran gehindert. Was dann folgte, war eine wilde Schlägerei, bei der er nicht die geringste Chance hatte. Er versuchte sich so gut es ging vor den Schlägen zu schützen. Das war aber auch schon alles, was er konnte.

      Wie er so am Boden lag, mit Blut im Gesicht, Schmerzen in Brust und Bauch, begann er irrwitziger Weise die Passanten zu zählen, die an ihm vorbeigingen, ohne ihn zu beachten oder gar zu helfen. Der eine hielt ihn für drogenabhängig, der Nächste für einen Alkoholiker, der Dritte für die größte Schande der Menschheit. Nach einer unbekannten Zeit ließen die Schmerzen etwas nach, sodass er aufstehen konnte. Wie ein Betrunkener stützte sich der Teenie an dem Zaun mit einer Hand ab, während er versuchte die Straße entlangzugehen. Die Menschen, die er passierte, ekelten sich vor ihm und riefen wüste Beschimpfungen hinter dem Jungen her, der nichts für seinen Zustand konnte. Nach einigen hundert Metern versperrte eine am Zaun befestigte dunkelgrüne Plane den Weg. Sie war mit zwei Eisen schräg im Boden festgemacht. Davor stand eine hochgeklappte Palette, die wie eine Tür mit Kabelbindern als Angel am Zaun festgemacht war. Das Ganze erinnerte weitestgehend an ein provisorisches Zelt. Er schaute durch die Zwischenräume des Holzkonstruktes ins Innere. Dort lag eine weitere Palette am Boden. Auf ihr eine alte, vergammelte Matratze. Der Teenie schaute sich um. Niemand kümmert sich um das, was er dort trieb. Er schob die Palette zur Seite, betrat den kleinen Raum und zog dann die hölzerne Transporthilfe wieder zu. Erschöpft ließ er sich auf die Matratze fallen. Nach und nach betastete er seine schmerzenden Körperteile. Dabei fand er die ein oder andere Stelle die mehr oder minder blutete. Dass er dabei Dreck in die Wunden rieb, kam ihm nicht in den Sinn. In was für eine Welt war er hier nur geraten? Er versuchte sich daran zu erinnern, ob da, wo er herkam, die Menschen genauso grässlich waren. Doch diese Frage blieb unbeantwortet, da ihm klar wurde, er wusste überhaupt nicht, wo er hergekommen war. Sein Alter, sein Name, seine Herkunft, seine Eltern. Da war einfach nur eine unendliche Leere. Ihm wurde schwindelig. Übelkeit machte sich in dem Jungen breit. Dann Dunkelheit.

      "Hey! Verschwinde hier! Das ist mein Platz. Oder glaubst du, ich habe mir all die Mühe gemacht die Sachen hier zusammenzutragen, nur damit so ein Penner, wie du, hier herumlungert?"

      Diesmal war es nicht der Schrei aus seinem Alptraum, der ihn hochriss, sondern der Jugendliche, der vor ihm stand. Seine erste Reaktion war es, in Panik sich so weit wie möglich von der Person zu entfernen, die so herrisch auf ihn einbrüllte. Wie ein Käfer auf dem Rücken liegend schob sich der Teenie immer weiter in die Ecke. Der Jugendliche beobachtete ihn dabei. Der Junge konnte nicht sagen, ob der