Patricia Weiss

Böse Obhut


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      Tag 1

      

      

      1

      Fröstelnd klappte Laura Peters den Mantelkragen hoch und eilte durch den tristen, winterlichen Vorgarten des Jugendstil-Altbaus, in dem ihre Detektei ihren Sitz hatte. Die blattlosen, grauen Büsche schienen ihre Äste nach ihr auszustrecken und wie jeden Morgen hakte sich die Ranke einer Heckenrose, die weit über den Weg ragte, an ihrem Ärmel fest. Mit klammen Fingern löste sie die Stacheln aus dem dicken Wollstoff und nahm sich zum wiederholten Male vor, etwas gegen den Wildwuchs zu unternehmen. Klienten kamen nicht oft in die Agentur, die meisten Aufträge konnten online abgewickelt werden. Aber wenn sich jemand hierher verirrte, sollte er sich nicht erst durch eine Dornenhecke kämpfen müssen.

      Laura strich die braunen Haarsträhnen aus dem Gesicht, die der eisige Wind vor ihre Augen blies. In der Tasche suchte sie nach dem Schlüssel und öffnete die Haustür. Ein Windstoß riss ihr die Klinke aus der Hand, die Tür donnerte gegen die Wand im Treppenhaus. Laura musste einige Kraft aufwenden, um sie wieder zu schließen. Sorgfältig putzte sie die schwarzen Lammfell-Stiefel an der Matte ab und betrat die Büroräume.

      Es war so kalt, dass der Atem kondensierte und in Dampfwolken aus dem Mund stieg. Hoffentlich war die Heizung nicht ausgefallen. Der Hausmeister ließ sich immer reichlich Zeit, bis er geruhte, etwaige Problemchen, wie er es nannte, zu beheben. Noch im Mantel drehte sie die Thermostate höher und ging in die Küche, um eine Kanne Kaffee aufzusetzen. Sie füllte ein Glas mit Wasser und warf ein Aspirin hinein.

      Während es sich zischend auflöste, lehnte sie den Kopf an den Küchenschrank und versuchte, sich an die letzte Nacht zu erinnern. Eine ekstatisch tanzende Menge, laute Clubsounds, zuckendes Schwarzlicht, ein paar Drinks zu viel. Und ganz verschwommen ein Gesicht, dunkle Augen, sinnlicher Mund, hautenges T-Shirt. Trainierte Muskeln unter ihren suchenden Händen. Laura kramte in der Jeanstasche nach dem Stück Bierdeckel, das er ihr in die Hand gedrückt hatte. Carlos, die Telefonnummer, ein Herzchen. Sie seufzte und leerte das Glas in einem Zug. Immerhin war sie im eigenen Bett aufgewacht.

      Allein.

      Sie hörte, wie sich die Eingangstür öffnete. Eine unförmige Gestalt schob sich in den Vorraum. Gilda, ihre Assistentin, war vermummt wie ein Eskimo, eingepackt in eine Daunenjacke, die sie, der Größe nach zu urteilen, von ihrem Vater geliehen hatte und umwickelt mit mehreren Schals. Von ihr war fast nichts zu sehen, nur die großen, dunkelbraunen Augen blitzten unter einer bunten Peruaner-Mütze hervor.

      „Guten Morgen, Laura. Bist du aus dem Bett gefallen?" Gilda wickelte sich ein grün-rot gestreiftes Ungetüm vom Hals, das strahlende Lächeln wurde sichtbar.

      „Morgen, Gilda. Ja, ich bin heute etwas früher. Ich möchte meinen Schreibtisch leer kriegen. Der Papierkram türmt sich bis zur Decke." Laura wandte sich der Kaffeemaschine zu und füllte Wasser in den Behälter.

      „Es passt gut, dass du schon da bist. Gleich kommt ein neuer Kunde. Anwalt Herckenrath hat ihn geschickt."

      „Worum geht es?", fragte Laura mäßig interessiert.

      „Man benötigt unsere Hilfe, um ein Klassentreffen zu organisieren."

      Laura verzog einen Mundwinkel und schüttelte den Kopf. „Ich fürchte, ich bin beschäftigt. Das kriegst du allein hin. Informationen im Internet suchen ist dein Fach."

      Gilda war die Computer-Expertin im Team und Laura ließ die meisten Recherchen von ihr durchführen.

      „Klar, ich kann das übernehmen." Gilda stopfte die abgewetzte Daunenjacke hinter den Schreibtisch. Mit zwei geübten Umdrehungen eines Haargummis fixierte sie die dunkelbraunen Haarsträhnen am Hinterkopf zu einem leicht zerzausten, dicken Chignon. Laura schmunzelte beim Anblick der langen, dünnen Beine in den zerschlissenen Jeans. In der Detektei gab es keine Kleiderordnung, aber die Klienten würden sich auch dann nicht über ihre Mitarbeiterin beschweren, wenn sie einen Kartoffelsack trüge.

      „Die Fälle, die Herckenrath in der letzten Zeit an uns weiterleitet, werden immer banaler. Scheidungsgeschichten, Zeitungsdiebe, eifersüchtige Ehefrauen und jetzt das Klassentreffen. Wenigstens leben wir gut davon."

      Laura hatte Anwalt Herckenrath im Zusammenhang mit dem ersten großen Fall der Detektei Peters kennengelernt. Er vertrat eine wohlhabende Familie aus Bad Honnef und hatte ihr eine großzügige Kooperation zugesichert, die der Detektei ein mehr als gutes Auskommen garantierte. Für Laura war die finanzielle Absicherung eine Erleichterung, gleichzeitig musste sie sich eingestehen, dass sie sich zunehmend langweilte. Die Aufträge waren meist vom Computer aus lösbar und für Gilda ein Kinderspiel. Nur selten mussten sie sich in die freie Wildbahn begeben und vor Ort recherchieren. Vielleicht sollten sie mehr Werbung machen, um interessantere Jobs an Land zu ziehen. Da war der erste Fall ein anderes Kaliber gewesen. Eine Serie von Mädchenmorden in Bonn hatte bundesweit für Schlagzeilen gesorgt und die Polizei vor ein Rätsel gestellt. Die Detektei Peters hatte den Falls aufklären können und war so zu einiger Berühmtheit gelangt. Sie waren ein gutes Team gewesen und während dieser Zeit eng zusammengewachsen: Marek, Gilda, Barbara, Justin und sie selbst. Laura musste unwillkürlich lächeln, als sie an Marek dachte. Er war bei den Streitkräften in Polen gewesen - und vermutlich auch beim Geheimdienst - und hatte ihr eine Menge beigebracht. Die Zusammenarbeit war freundschaftlich, locker und vertraut gewesen. Sie hatte sich wohlgefühlt mit ihm. Und ihn gemocht. Sehr. Doch er war ihr ein Rätsel geblieben. Und nach der Lösung des ersten Falles war er auf nimmer Wiedersehen verschwunden. Angeblich hatte er eine Auszeit gebraucht, eine Pause, um wichtige Dinge zu erledigen. Das war vor zwölf Wochen gewesen, seitdem hatten sie nichts mehr von ihm gehört. Laura seufzte. Sie vermisste ihn. Es waren aufregende Zeiten gewesen.

      Das Büro war noch, wie er es verlassen hatte. Nur der zwölfjährige Justin, den Marek für die Observierung eines Verdächtigen angeheuert hatte, hielt sich regelmäßig darin auf. Er hatte zum Dank für seine Unterstützung von Marek eine Spielekonsole bekommen, die er in Mareks Büro aufgestellt hatte. Justin wollte sie nicht mit nach Hause nehmen, weil sein Stiefvater sie verkaufen und in Bier umsetzen würde, wenn er sie in die Finger bekäme. Laura kannte den Jungen und seine Familie gut genug, um zu wissen, dass die Vorsicht begründet war. Marek fehlte dem Jungen, er war sein großes Vorbild. Die Bewunderung für ihn konnte man fast als Verehrung bezeichnen. Allerdings genoss er es auch, Gilda und ihr in der Detektei Gesellschaft zu leisten.

      „Hast du etwas von Marek gehört? Ich vermisse ihn!" Gilda konnte anscheinend Gedanken lesen und hatte wie üblich keine Scheu, ihre Gefühle offen zu formulieren.

      „Nein, habe ich nicht. Ich glaube auch nicht, dass er sich meldet. Wir müssen langsam daran denken, jemand Neues einzustellen. Zusätzliche Unterstützung können wir bei den vielen Aufträgen gut gebrauchen." Laura ärgerte es, dass sie einen bitteren Unterton nicht vermeiden konnte. Sie wollte nicht zugeben, dass sie Mareks Verschwinden verletzt hatte.

      „Du kannst doch nicht Mareks Büro an jemand anderes vergeben!"

      „Wieso nicht? Er ist seit drei Monaten fort und hält es nicht für nötig, uns mitzuteilen, ob er wiederkommt. Keine Firma würde so etwas tolerieren."

      Gilda schaute unglücklich auf ihre Tastatur. „Und was ist mit Justin?"

      Laura zuckte die Achseln. „Was soll mit ihm sein?“

      „Er hält sich so gerne in Mareks Büro auf. Es ist wie sein zweites Zuhause. Vermutlich der einzige Ort, wo er sich sicher fühlt. Bei seiner Familie hat er es nicht leicht. Das weißt du doch.“

      „Natürlich weiß ich das. Lass uns ein anderes Mal darüber reden, wir finden einen Weg. Ich muss jetzt loslegen, sonst schaffe ich den Papierberg nicht."

      Laura ging mit dem dampfenden Kaffee-Becher an den Schreibtisch und schaltete den Computer ein. Sie wollte nicht darüber nachdenken, welche personellen Änderungen sie über kurz oder