Patricia Weiss

Böse Obhut


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hineingeraten. Ihre Kontakte zur Bonner Society, über die sie als bekannte Pianistin und Frau eines Universitätsprofessors verfügte, hatten bei der Auflösung sehr geholfen. Aber ihre Unterstützung war eine Ausnahme gewesen. Zurzeit gab es nur noch Gilda und sie. Das war zu wenig Personal, wenn die Detektei auf dem Markt, der ein Haifischbecken war, nicht in der Bedeutungslosigkeit verschwinden wollte. Sie musste bald annoncieren und jemanden finden, der Marek ersetzen konnte.

      Aber nicht heute.

      Draußen klingelte es. Laura hörte, wie Gilda die Tür öffnete und mit ihrer dunklen, rauen Stimme einen Besucher begrüßte. Sie erhob sich, zog die hellbeige Strickjacke über der Jeans glatt und ging in den Vorraum. Neben Gilda stand ein großer, schlanker Mann im langen Mantel. Sie trat einen Schritt auf ihn zu. „Laura Peters, freut mich sehr!"

      „Freut mich auch. Mein Name ist Bernd Schlüter." Mit dem geübten, strahlenden Lächeln eines Hollywood-Schauspielers schüttelte er ihr fest die Hand und sah ihr tief in die Augen. Der würzige Geruch eines teuren Rasierwassers stach ihr in die Nase.

      Laura senkte den Blick. „Sie sind ein Bekannter von Anwalt Herckenrath?"

      „Ja, wir haben uns auf politischer Ebene kennen- und schätzen gelernt. Er sagte mir, dass Sie auf Bagatellfälle spezialisiert seien, deshalb möchte ich Sie engagieren."

      „So. Hat er das gesagt?“ Laura lächelte schmal. Seine Worte klangen wie ein Kompliment, aber sie fühlten sich nicht so an. Eigentlich waren sie eine Unverschämtheit. Nun, sie würde sich über die Rechnung revanchieren können. „Sie möchten ein Klassentreffen mit ehemaligen Mitschülern organisieren?"

      „Ja, das ist im Prinzip die Idee. Ein früherer Schulfreund hat den Vorschlag gemacht und bat mich um Hilfe. Ich bin ja nicht gerade unbekannt, da dachte er wohl, ich hätte Mittel und Wege, die alten Kameraden zu finden."

      Laura überlegte, ob sie schon von ihm gehört hatte, aber sein Name sagte ihr nichts. Sie nickte und setzte ein unverbindliches Lächeln auf.

      Gilda nahm ihm den dunklen Kaschmir-Mantel und einen weinrot gemusterten Seidenschal ab und hängte die Kleidungsstücke an den Garderobenständer. „Möchten Sie etwas trinken? Ich mache einen ganz anständigen, italienischen Caffè." Als er dankend ablehnte, fuhr sie fort: „Wenn es Ihnen recht ist, führe ich mit Ihnen das Gespräch, da ich später die Recherchen übernehmen werde."

      Doch überraschenderweise schüttelte er den Kopf und wandte sich an Laura: „Nein, es ist mir nicht recht. Ihre junge Kollegin ist bestimmt kompetent, aber ich möchte mit Ihnen sprechen, Frau Peters. Vermutlich werden sie den Fall danach anders einschätzen. Es geht mir nicht um das simple Auffinden von Adressen. Die Angelegenheit ist etwas delikat und erfordert äußerste Diskretion."

      „Also gut", stimmte Laura zurückhaltend zu. „Dann gehen wir am besten in mein Büro. Gilda, kommst du?"

      Mit einladender Handbewegung wies sie auf die kleinen Sessel, die um den runden Besuchertisch gruppiert waren.

      Schlüter setzte sich, zog die Manschetten seines Hemdes unter dem maßgeschneiderten Jackett hervor und schlug die Beine übereinander. Laura registrierte, dass er trotz des kalten Wetters leichte, schwarze Lederschuhe trug, die frischgeputzt glänzten und sicher ein Vermögen gekostet hatten. Mit zusammengekniffenen Augen sah er sich um. Sein Blick wanderte über die nackten Magnetleisten an der Wand, kein Auftrag war so komplex, dass diese Art der Aufarbeitung notwendig gewesen wäre, streifte das einzige Bild im Raum, eine farbenfrohe Lithografie der wehrhaften Brunhild aus der Nibelungensage, dann blieb er an Laura hängen. Ohne mit der Wimper zu zucken, hielt sie seiner Musterung stand und bekämpfte den Impuls, die Arme vor der Brust zu verschränken. Kühl sah sie ihn an und wartete.

      „Sie wundern sich vielleicht, dass ich mit Ihnen beiden sprechen möchte, aber der Fall ist etwas heikel. Vermutlich ist Ihnen bekannt, dass ich Abgeordneter im Landtag von Nordrhein-Westfalen bin. Ich stehe in jeder Hinsicht im Licht der Öffentlichkeit. Es ist wichtig, dass alle Nachforschungen absolut diskret erfolgen und Sie mir Zwischenergebnisse sofort präsentieren."

      Laura und Gilda nickten, doch es war ihnen anzumerken, dass sie nicht verstanden hatten, wo die Brisanz lag.

      „Unsere Schule ist ein Internat für Problemkinder. In den 60er-Jahren nannte man sie Schwererziehbare. Ich bin da gelandet, weil ich in der Pubertät entwicklungsbedingt etwas unkonzentriert war und meine Eltern wegen unserer Firma wenig Zeit für mich hatten. Eigentlich gehörte ich dort nicht hin. Die meisten meiner Mitschüler stammten aus schwierigen Verhältnissen, sie waren arm, aggressiv und manche sogar kriminell. Ich möchte es nicht an die große Glocke hängen, dass ich dort die Schulbank gedrückt habe. Das könnte die Wähler irritieren."

      „Ich verstehe", sagte Laura. „Trotzdem möchten Sie das Schultreffen organisieren und Ihre Freunde wiedersehen?"

      Bernd Schlüter lehnte sich vertraulich vor und stützte, nachdem er sich versichert hatte, dass die Oberfläche sauber war, seine Arme auf das Tischchen: „Ich bin mir nicht sicher, ob ich das möchte. Zu meinen Kameraden habe ich, seit ich die Schule verlassen habe, keinen Kontakt mehr. Ich habe eine gute Ausbildung absolviert und eine steile Karriere in der Politik gemacht. Die anderen haben nicht so viel Glück gehabt. Ich bin überzeugt davon, dass es kaum einer von ihnen zu etwas gebracht hat. Natürlich hatten sie es alle nicht leicht und es kann sein, dass sie es nicht ins Leben geschafft haben. Vielleicht sind sie kriminell oder drogenabhängig oder was auch immer. Sie verstehen, dass ich auf ein Wiedersehen mit solchen Gestalten nicht sonderlich erpicht bin. Das kann ich mir nicht leisten. Deshalb habe ich die Organisation übernommen."

      Gilda räusperte sich. „Sie wollen also kein Treffen organisieren, wenn Ihnen Ihre früheren Freunde nicht mehr gefallen?" Unschuldig blickte sie ihn an.

      Bernd Schlüter zögerte, dann nickte er. „Genau. In dem Fall wird es kein Treffen geben."

      „Warum überlassen Sie die Organisation nicht Ihrem Freund und gehen einfach nicht hin?"

      „Ich möchte nicht, dass sie sich ohne mich treffen. Hinterher nutzen sie meine Bekanntheit für ihre Zwecke aus und ich habe keinen Einfluss darauf."

      „Welche Zwecke meinen Sie?", schaltete sich Laura ein.

      „Es war eine schwierige Zeit. Die 60er-Jahre sind berüchtigt für ihre schwarze Pädagogik. In unserem Internat ging es nicht zimperlich zu, das war damals so. Und die Schüler waren keine Engel. Ein früherer Schulkamerad, ausgerechnet einer der ganz üblen Burschen, hat jetzt plötzlich die Idee, Ansprüche an den Heimkinder-Entschädigungs-Fonds zu stellen. Ich halte das für absoluten Blödsinn, schließlich war es eine Schule, kein Waisenhaus. Und wirklich schlimme Sachen sind nicht passiert. Jedenfalls nichts, was über das für die damalige Zeit normale Maß hinausgegangen wäre. Ich möchte nicht, dass die sich zusammenrotten und mich als Aushängeschild vor sich hertragen und für ihren Feldzug missbrauchen."

      Laura spielte nachdenklich mit dem Kuli. „Es geht Ihnen also vor allem darum, die Situation unter Kontrolle zu haben. An dem Wiedersehen sind Sie nicht interessiert?"

      Er schüttelte den Kopf. „Ganz so ist es nicht. Wir haben dieses Jahr fünfunddreißigjähriges Jubiläum. Das kann man schon mal feiern. Aber ich möchte sichergehen, dass es nicht ausartet und ungeahnte Folgen nach sich zieht."

      „Gut." Laura nickte Gilda zu, die bereits Stift und Papier gezückt hatte. „Wo können wir ansetzen?"

      „Das Internat heißt Waldheim und liegt in der gleichnamigen Stadt im Sauerland. Sie werden es vermutlich nicht kennen?" Er schaute fragend in die Runde. Laura und Gilda schüttelten die Köpfe. „Macht nichts. Ein Ort mitten im Nichts. Ich war froh, als ich von dort wegkam. Die Schule ist noch in Betrieb. Sie haben einen ausführlichen Internetauftritt und sind auf die besonderen Bedürfnisse von Kindern spezialisiert. Sie bieten Förderunterricht und verschiedene sportliche Aktivitäten an, aber geändert hat sich nichts: Sie verwahren immer noch die Schwererziehbaren."

      „Können Sie uns die Namen Ihrer ehemaligen Schulkameraden nennen?" Gilda sah von ihren Notizen auf.

      „Ich